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Frühere Schriften des Verfassers (im gleichen Ver-
lage erschienen):
Philosophie des Unbcwaggten. Neunte, erweiterte Auflage in
2 Bänden. (Nebst drei Vorreden, einem Anhang: „Zur
Physiologie der Nervenoentra" und vielen Naohträgen.)
61 Bogen. Preis 12 Mark.
PhBnomenologle des slttllehen Bewnsstseins. Prolegomena su
jeder künftigen Ethik. 56 Bogen. Preis 16 Hark.
Bas rellfclSse Bewusstseln der Mens«hheit im Sftufengang seiner
Entwiokelung. 40 Bogen. Preis 10 Hark.
Gesammelte Stadien und AnfsStze gemeinverständlichen Inhalts.
(Zugleich zweite Auflage von: „Gesammelte philosophische
Abhandlungen". „Schellings positive Philosophie", „Apho-
rismen über das Drama", „Shakespeares Bomeo und Julia"
u. 8. w. enthaltend.) 46 Bogen. Preis 12 Hark.
Kritische Grnndlegang des transcendentalen Bealismus, Zweite
erweiterte Auflage von „Das Ding an sich und seine Be-
schaffenheit". 12 Bogen. Preis 4 Hark.
J. H. V. Klrchmann's erkenntnlsstheoretischer Realismns.
Ein kritischer Beitrag sur Begründung des transcendentalen
Bealismus. 4V2 Bogen. Preis 2 Hark.
Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus
in ihrer Stellung zu den philosophischen Aufgaben der
Gegenwart. Zweite erweiterte Auflage der „Erläuterungen
zur Hetaphysik des Unbewussten". 23 Bogen. Preis 7 Hark.
Bas Unbewnsste vom Standpunkt der Physiologie und Desoen-
denztheorie. Zweite vermehrte Auflage. Nebst einem An-
hang, enthaltend eine Entgegnung auf Prof. Oskar Schmidt^s
Kritik der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Philo-
sophie des Unbewussten. 26 Bogen. Preis 8 Hark.
Zur Geschlehte und BeprUndung des Pessimismus. 10 Bogen.
Preis 3 Hk.
Die Krlsls des Chrlstenthnms in der modernen Theologie
9 Bogen. Preis 2 Hk. 70 Pf.
Die Selbstzersetznnic des Chrlstenthnms nnd die Religion der
Zukunft. Zweite Auflage. 9 Bogen. Preis 3 Hark.
Wahrheit nnd Irrthum im Darwinismus. Eine kritische Dar-
Btelluz^ der organischen Entwickelungstheorie. lli/j Bogen.
Preis 4 Hark.
Die politischen Aufgaben nnd ZustSnde des deutsehen Reiches.
4 Bogen. Preis 1 Hark.
Ueber die dialektische Methode, ^istorisch-kriti8che Unter-
suchungen. 8 Bogen. Preis 2 Hark.
Znr Reform des hSheren Schulwesens. 6 Bgn. Preis 21/4 Hark.
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DIE
RELIGION DES GEISTES.
Von
Eduard Yon Hartmann.
Berlin.
Carl Duncker's Verlag.
(C. Heymons.)
1882.
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Vorwort-
. Der Titel dieses Buches findet seine Erklärung und Recht-
fertigung in dem letzten Abschnitt meiner vorjährigen Ver-
öffentlichung : „Das religiöse Bewusstsein der Menschheit im
Stufengang seiner Entwickelung". Jedes der beiden Bücher
ist eine abgeschlossene Einheit für sich und kann unabhängig
vom anderen gelesen werden; indem sie sich aber zu ein-
ander verhalten wie der geschichtliche und systematische
Theil einer Religionsphilosophie, bilden sie ein innerlich
zusammenhängendes Ganze, das ich als mein drittes Haupt-
werk bezeichnen darf.
Die Form der Behandlung bleibt auch in diesem syste-
matischen Theil phänomenologisch, ebenso wie sie es im
historischen Theil war. Die Untersuchung beginnt hier ganz
voraussetzungslos mit einer möglichst exakten und unbe-
fangenen Analyse des religiösen Bewusstseins ; sie schreitet
von dieser psychologischen Grundlage aus zu den meta-
physischen Postulaten des religiösen Bewusstseins fort, welche
sich tiberall als die höhere Synthese der einseitigen Postulate
des abstrakten Monismus und des Theismus herausstellen, und
mündet in die Entfaltung der praktischen Konsequenzen des
religiösen Bewusstseins. Das Ergebniss ist bei dieser syste^
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VI
matischen Untersuchung dasselbe, wie bei der historischen,
nämlich die Religion des konkreten Monismus, nur dass hier
seine zusammenhängende Ausführung findet, was dort aus der
immanenten Kritik der naturalistischen, abstrakt monistischen
und theistischen Religionen als geschichtliche Aufgabe der
Gegenwart sich entwickelt hatte.
Von meinen bisherigen religions-philosophischen Schriften,
unterscheidet die vorliegende sich in formeller Hinsicht da-
durch, dass sie die zur Klarstellung meines Standpunktes
erforderliche Kritik und Polemik in jenen erledigt hinter sich
liegen hat und deshalb sich um so ungestörter mit der posi-
tiven systematischen Entwickelung des Gegenstandes beschäf-
tigen kann. Dass die Darstellung, wenngleich positiv und
systematisch, doch nichts weniger als dogmatisch ist, dafiir
bürgt schon ihre rein phänomenologische Haltung; es bleibt
jedem Leser, falls er die hier gebotene phänomenologische
Analyse von dem Inhalt des religiösen Bewusstseins als richtig
anerkennt, nach Maassgabe der von ihm bereits mitgebrachten
Weltanschauung überlassen, ob er, am Schluss angelangt, den
theoretischen Postulaten des religiösen Bewusstseins Wahrheit
und den praktischen Konseguenzen desselben Verbindlichkeit
zuschreiben oder den gesammten Inhalt des religiösen Be-
wusstseins sammt seinen Postulaten und Konsequenzen für
eine Illusion erklären wolle. Im letzteren Falle würde dieses
Buch allerdings nicht ein religiöses und ethisches, wohl aber
ein unvermindertes psychologisches Interesse beanspruchen
dürfen; denn auch als Illusion würde die Religion das inter-
essanteste und wichtigste Gebiet unter allen Produktionen des
menschlichen Geistes und damit das höchste Problem der
Psychologie bleiben.
Der hier gemachte Versuch, den gesammten wesentlichen
Inhalt der Religion ohne Beziehung auf eine bestimmte ge-
gebene Religion rein aus dem religiösen Bewusstsein zu ent-
wickeln, kann nicht den Anspruch auf Neuheit erheben, da
ähnliche Versuche auch von anderen (Kant, Fichte, Hegel,
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vn
Biedermann u. s. w.) schon unternommen sind, aber alle diese
Vorgänger haben, wie schon aus der trefflichen Darstellung
im ersten Theil von Pfleiderer's Religionsphilosophie zu er-
sehen ist, das Problem entweder nicht scharf erfasst, oder
nicht reinlich durchgeführt, sondern benutzen meistens die
Analyse des religiösen Bewusstseins nur zu einer Art Ein-
leitung, aus der sie je eher je lieber zur Apologetik einer
bestimmten geschichtlich gegebenen Religionsform zurück-
kehren. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, die scharf
präcisirte Aufgabe auch konsequent bis an's Ende durch-
zuführen und dadurch ebensosehr in formeller Hinsicht einen
Schritt über meinen Vorgänger hinauszugelangen , wie in
inhaltlicher Beziehung dadurch, dass hier zum ersten Mal
eine Religionsphilosophie geboten wird, welche die indische
und die palästinensisch - europäische Religionsentwickelung
mit gleichem Maasse misst und die relative Wahrheit beider
in sich aufhebt. Wenn ich den Wunsch hinzufüge, dass
auch in Bezug auf den sprachlichen Ausdruck des gebotenen
Inhaltes ein gewisser Fortschritt in der Einfachheit und
Deutlichkeit erkennbar sein möge, so bin ich mir doch sehr
wohl bewusst, die auf diesem Felde liegenden Schwierig-
keiten nur sehr unvollkommen überwunden zu haben, und
bleibt gerade hier meinen Nachfolgern noch viel zu thun
übrig.
Um Missverständnissen und hämischen Urtheilen vor-
zubeugen, bemerke ich ausdrücklich, dass das vorliegende
Werk lediglich wissenschaftliche Ziele verfolgt, und dass mir
nichts ferner liegt, als die Tendenz zu praktischen Agitationen.
Ich weiss sehr wohl, dass die mit dem Kulturfortschritt
wachsende Rückständigkeit der Masse gegen die kultur-
tragenden Minoritäten gegenwärtig mindestens auf Jahrhun-
derte zu schätzen ist, und dass es deshalb mindestens noch
einiger Menschenalter bedarf, ehe der Boden zu einer prak-
tischen religiösen Neubildung im Volke vorbereitet ist. Wann
diese Neubildung nach meinem Tode eintreten wird, über-
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vm
lasse ich getrost der Vorsehung, und hoffe, dass dann die
Wissenschaft auch über mich längst hinausgeschritten sein
wird, wenn auch nicht ohne mein Lebenswerk als Baustein
zu konserviren.
Berlin, im September 1882.
Der Verfasser.
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Inhalt.
A. Beliglonspsychologle.
Seite
I. Die rellKlttse Funktion als einseitig menschliche 1
1. Die religiöse Fnnktion als Yorstellungr 1
Die religiöse Funktion als Verhältniss des Menschen zu Gott. 3. —
Die Nothwendigkeit des Glaubens an eine transcendentale Wahrheit der
Gottesvorstellung. 6. — Religiöse und theoretische Weltanschauung. 9.
— Der geschichtliche Verlauf der gegenseitigen Förderung und Be-
kämpfung beider. 11. — Die Vermittelungstheologie und ihr Werth. 14.
— Glaube und Gewissheit. 16. — Toleranz und Intoleranz. 18. — Die
Gefahren eines einseitigen Intellektualismus in der Religion. 21. —
Religion und Dogmatik. 22. - Dogmatik und Religionsphilosophie. 24.
2. Die religiöse Funktion als Gefühl 27
Die positive Bedeutung des Gefühls in der Religion. 27. — Wahrheit
und Unwahrheit der Gefühle. 30. — Religiöses Gefühl und religiöse
Weltanschauung. 32. — Das sinnliche religiöse Gefühl. 35. — Das
ästhetische religiöse Gefühl. 36. — Ernstes religiöses Leben und
Spielen mit dessen ästhetischem Schein. 39. — Trennung zwischen
dem Kultus der Religion und der Pflege religiöser Kunst. 42. — Das
mystische religiöse Gefühl. 44. — Der Mysticismus. 46. — Die eudä-
monistischen Gefahren der Gefühlsreligion. 50. — - Gefühl, Herz und
Gesinnung. 53.
3. Die religrlOse Funktion als Wille 55
Der religiöse Wille als Ziel und Abschluss des religiösen Lebens-
processes. 55. — Der religiöse Moralismus bei Spinoza und Kant. 57.
— Einseitigkeit und Unzulänglichkeit des religiösen Moralismus. 59.
— Willensreligion und Gefühlsreligion. 62. — Der vollständige reli-
giöse Lebensprocess. 63.
II. Das religiöse VerhAllniss als doppelseitige,
göliliclie und meiiseli liehe Funktion 65
!• Gnade nud Glaube im All^emeiiien 65
Die Einheit von Voratellung, Gefühl und Wille in der religiösen
Funktion. 65. — Die einheitliche religiöse Funktion als Glaube. 67.
— Die göttliche Seite des religiösen Verhältnisses oder die Gnade. 69.
— Die funktionelle Identität von Glaube und Gnade. 71.
2« Offenbarung sgDttde und intellektueller Glaube 74
Die funktionelle Identität von Offenbarung und intellektuellem Glau«
ben. 74. — Aeussere und innere Offenbarung. 75. — Ueberlieferte und
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Seit»
persönliche Offonbarong. 77. — Die Offenbarung im Einzelnen und
im Entwickelungsgans^e des religiösen Menschheitsbewusstseins. 79. —
Die Originalität der Offenbarung. 81. — Die Wahrheit der Offenbarung.
82. — Die Offenbarung als sinnliche Anschauung. 8 t. — Die Offen-
barung als abstrakte Vorstellung. 86. — Die Offenbarung als Idee. 87.
3. ErlOsungsgrnaAe nnd Gemflthsglaube 89
Die Erlösung vom Uebel. 89. — Die Erlösung von der Schuld. 92. —
Der Zusammenhang von Schuld und Uebel. 94. — Die Un&higkeit
des natürlichen Menschen zur Selbsterlösung. 96. — Die Erlösung
durch die Gnade. 97. — Der Gemüthsglaube als Hingebung, Ver-
söhnung und Friede. 99.
.4. Heilig:uDgr8g7iade und praktischer Glaube 102
Negative und positive Heiligung. 102. — Die sittliche Selbstbefreiung.
104. — Die religiös-sittliche Gesinnung. 106. — Die Einheit von Er-
lösung und Heiligung. 107. — Die Einheit von Offenbarung, Er-
lösung und Heiligung. 109.
B. Beligionsmetaphysik.
!• Die Metaphysik des religiöseu Objekte oder die
Tlieologie 113
KeUgionsmetaphysik und theoretische Metaphysik. 113.
1. Gott als das die Abhängigrkeit tou der Welt Überwindende Moment 114
Der ontologische Beweis. 114. — Der kosmologische Beweis. 116. —
Der teleologische Beweis. 118. — Die Substanzialität des Absoluten
und seine Identität mit sich. 120. — Die dynamische Allgegen-
wart und das ewige geistige Insichsoin Gottes. 124. — Die Allwissen-
heit Gottes. 126. — Naturordnung und teleologische Weltordnung. 129.
— Die Allmacht und Allweisheit Gottes. 130. .
2. Gott als das die absolute Abiiftngrigrkeit begründende Moment . . 132
Der erkenntnisstheoretisch- idealistische Beweis in der theoretischen
Metaphysik. 132. — Derselbe in der religiösen Metaphysik. 134. —
Der psychologische Beweis. 137. — Der identitätsphilosophische Be-
weis. 140. Die aus diesen Beweisen folgenden Bestinmiungen Gottes:
absolute Idee und absoluter Wille. 143. — ünbewusstheit der gött-
lichen Allwissenheit. 145. — Ausscheidung der Anthropopathismen
aus dem Begriff des absoluten Geistes. 146. — Das Bewusstsein als
Anthropopathismus. 149. — Das Selbstbewusstsein Gottes. 151. —
Die Gefühle Gottes. 152. — Gott als unpersönlicher und unbewusster
absoluter Geist. 155. — Die religiösen Motive der theistischen Auf-
ÜBSSung und ihre Selbstkritik. 157. — Die ünbewusstheit und Un-
persönlichkeit Gottes als Fostulate des religiösen Bewusstseins. 159.
3« Gott als das die Freiheit begründende Moment 163
Die Freiheit in Gott 163. — Die sittliche Weltordnung. 165. — Die
drei religiös-ethischen Beweise aus der objektiven, subjektiven und
absoluten sittlichen .Weltordnung. 167. — Die objektive Gerechtigkeit
Gottes. 169.— Die Heiligkeit Gottes. 170. — Die subjektive Gerechtig-
keit Gottes. 172. — Die Gnade Gottes und die absolute Heilsordnung.
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XI
Seite
174. — Gereclitigkeit, Heiligkeit und Gnade in ihrem Znsammenhang.
177. — Nochmals die ünpersönüchkeit Gottes. 178.
II. Bie Metapliysik des religiösen Subjekte 180
1. Die religiöse Anthropologrie 180
a) Der Mensch als erlösnngsbedürftiger 180
Der Pessimismus als Postulat des religiösen Bewusstseins. 180. — Un-
zulänglichkeit des Illusionismus und abstrakten Monismus als Grund-
lage der Erlösungsreligion. 183. — Der psychologische Determinismus
und der konkrete Monismus als die Bedingungen für die Möglichkeit
des Bösen. 184. — Die böse Erbanlage. 187. — Das radikal Böse als
eigenste Natur des Menschen. 189. — Das pathologische Böse. 192.
— Das miasmatische Böse und die Kollektivschuld. 194. — Unmög-
lichkeit einer Verantwortlichkeit auf Grund des Fatalismus und Indeter-
minismus. 19ö. — Die Verantwortlichkeit auf Grund des psycho-
logischen Determinismus. 199. — Unmöglichkeit einer sittlichen Ver-
antwortlichkeit auf Grund der egoistischen Pseudomond. 203. — Die
ethische Gesinnung als Ausgangspunkt für den Kampf mit dem Bösen
und die Verantwortlichkeit. 206. — Das Schuldgefühl und die Er-
lÖsungsbedürftigkeit. 209.
b) Der Mensch als erlösungsfähiger 210
Unfähigkeit des Egoismus zur Hervorbringung einer sittlichen Ge-
sinnung. 210. — Das aktuelle Böse als unentbehrliches Moment sogar
im Idealmenschen. 212. — Der Stand der Unschuld als nichts er-
klärende Potenzialität. 213. — Die Genesis der ethischen Gesinnung.
215. — Aktuelle Gnade und Erbgnade. 216. — Unfähigkeit des Theis-
mus und abstrakten Monismus zur Begreiflichmachung der funktionellen
Identität von Gnade und Glaube. 219. — Lösung des Problems durch
den konkreten Monismus. 221. — - Die untergöttliche, widergöttliche
und positiv gottgemässe Sphäre im Menschen. 223. — Der Unterschied
zwischen Gott und Mensch. 226. — Die Einheit von Gott und Mensch.
227. — Die reale Einheit des religiösen Verhältnisses. 229. — Die
reale Einheit mit Gott als Erlösungsprincip. 231. — Ueberflüssigkeit
und Gefährlichkeit des Unsterblichkeitsglaubens. 232. — Die reale
individuelle und universelle Erlösung vom Uebel. 235.
2. Die relisri^se Kosmologie 237
a) Die Welt in ihrer absoluten Abhängigkeit von Gott . . 237
Das kosmologische Problem. 237. — Der naturalistische Monismus und
der Dualismus von Demiurg und Hyle. 238. — Der Theismus. 239.
— Der abstrakte und der konkrete Monismus. 241. — Die Zeitlichkeit
des Weltprocesses und die Ewigkeit Gottes. 243. — Die Schöpfung.
246. — Die Erhaltung. 249. — Die Regierung. 250. — Der concursva
divinus, 252. ~ Der konkrete Monismus alsErgebniss der immanenten
Kritik des kosmologischen Problems. 255.
b) Die Welt in ihrer ErlÖsungsbedürftigkeM und Erlösungs-
fähigkeit 255
Das Tragische als Weltgesetz. 255. — Die universelle Erlösung. 257.
— Der eudämonologische Pessimismus und teleologische Optimismus
als gleichmässige Postulate des religiösen Bewusstseins. 258. — Die
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XII
Theodicee der theistischen Religionen als ein falsch gestelltes Problem.
260. — Der konkrete Monismus auch hier als höhere Synthese des
abstrakten Monismus und Theismus. 262. — Die Allmacht selbst als
Grenze der Allmacht. 263. — Der "Wille als das Moment der Initiative
in Gott. 264. — Die absolute Tragik der Gotteserlösung. 265. — Das absolut
Nichtseinsollende im abstrakten und im konkreten Monismus. 267.
Seite
C. Religionsethik.
I. I>er BubJektlTe HellBproceBB 271
1. Die ErweckuDgr der Gnade 271
Die Gnade als alleiniges religiöses Heilsprincip. 271. — Die Gnade
als unverdiente und zu verdienende. 272. — Der mit der Gnade iden-
tische Glaube als alleiniges Heilsprincip. 274. — Die Bedingungen der
Erweckung. 276. — Die religiöse Erziehung der Jugend. 277. — Die
Berufung und Erwählung. 279. — Die Erleuchtung. 280. - Das stetige
Ineinander der Momente des subjektiven Heilsprocesses. 281.
2« Die Entraltung der Gnade 282
a) Die negative Seite an der Umwandelung der Gesinnung 282
Die Erkenntniss der Schuld. 282. - Das Schuldgefühl. 284. ~ Der
"Widerwille gegen das Böse und das Verlangen nach der Mortifikation
des Egoismus. 288. — Die Gewissensangst und die Erleuchtung. 289.
b) Die positive Seite an der Umwandelung der Gesinnung 291
Die Belebung des Glaubens oder die Erneuerung der Gesinnung oder
die Regeneration. 291. — Die Schuldtilgung. 293. — Die reale Ein-
heit mit Gott. 294. — Die Heiligung 296.
8« Die Frttehte der Gnade 297
a) Die Besserung 297
Die sittliche Selbstzucht. 297. — Fortschritt und Rückschritt in der
Gnade. 298. — Das Verhältniss von Heiligung und Besserung. 300.
b) Die Mitarbeit am objektiven Heilsprocess 301
Die Werke als Früchte des praktischen Glaubens. 301. — Der ob-
jektive Heilsprocess als Zweck aller subjektiven Heilsprocesse. 303.
II. I>er obJektlTe HEellsprocesB 307
Die unbewusst bleibende und die zum Bewusstsein kommende Gnade.
307. — Die religiöse Kulturgeschichte und die Entwickelungsgeschichte
des religiösen Bewusstseins. 308 — Die Entwickelungsgeschichte der
social-ethischen Institutionen als Bestandtheil des objektiven Heils-
processes. 309. — Die Kirchen und das Gottesreich. 310. — Die
Kirchenzucht. 313. — Der ästhetische Kultus. 315. — Gebet und
Opfer. 318. — Quietismus und Askese. 321. r— Die sakramentalen
Gnadenmittel. 321. — Der rein innerliche Kultus der Geistesreligion:
Die Versenkung des religiösen Bewusstseins in seine reale Einheit
mit Gott. 323. — Der Dienst am Wort. 325. — Die fortschi*eitende
Entkirchlichung des religiösen Lebens. 326.
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A. Reljgionspsychologie.
▼. Hartmann, Die Beligion des Geistes.
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I. Die religiöse Funktion als einseitig
menschliche.
1. Die religiöse Funktion als Vorstellung.
Die Religion ist zunächst ein psychisches Phänomen in der
Menschheit; dieser Gesichtspunkt muss nothwendig den Ausgangs-
punkt bei der Erörterung der Religion bilden. Die Thiere haben
noch keine Religion; die Bewohner andrer Himmelskörper mögen
Religion haben, wenn und insoweit sie den Menschen in geistiger
Hinsicht ähnlich sind. Wir können uns nur an die erfahrungs-
mässig gegebenen religiösen Phänomene halten und diese haben aus-
nahmslos den Menschen zum Subjekt. Alle aktuellen religiösen
Phänomene sind also psychische Punktionen von Menschen, und die
etwa vor und neben diesen aktuellen religiösen Punktionen vor-
handene latente Anlage, Disposition oder Neigung zur Religion kann
nur durch das Verständniss der Punktionen verstanden werden.
Die religiösen Phänomene können nur zu Stande kommen, wenn
ausser dem die Punktion tragenden Subjekt auch noch ein Objekt
gesetzt ist, auf welches dieselben sich beziehen. Eine rein zuständ-
liche Empfindung als solche könnte niemals religiösen Charakter be-'
anspruchen; sie kann es höchstens dann, wenn sie als begleitende
Zuständlichkeit einer anderweitigen aktuellen Punktion auftritt, welche
ihrerseits durch Beziehung auf ein Objekt den Charakter der religiösen
Erscheinung sich gesichert hat. Es kommt also darauf an, nicht ob
ein Objekt gesetzt sein müsse, sondern welcher Art es sein müsse,
um einer Punktion religiösen Charakter zuschreiben zu dürfen.
1*
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4 A. I. Die religiöse Fanktioii als einseitig mensoliliclie.
Eine runktion, welche sich auf das Subjekt zurückbezieht, also
das Subjekt selbst zum Objekt hat, kann nicht religiös heissen; das
theoretische Selbstbewusstsein, der eudämonistische Egoismus und
das rein moralische (noch nicht religiöse) Gewissen liefern Beispiele.
Soll die auf das Subjekt selbst bezogene Funktion religiösen Charakter
beanspruchen können, so muss sie Ausfluss oder Eonsequenz einer
anderweitigen Funktion sein, welche durch Beziehung auf ein nicht
mit dem Subjekt zusammenfallendes Objekt bereits einen religiösen
Charakter besitzt; so ist z. B. das religiös-sittliche Gewissen oder die
Selbstbeurtbeilung und Selbstbestimmung des Ich nach religiösen
Gesichtspunkten nur dadurch möglich, dass diese religiösen Gesichts-
punkte anderswoher als aus einer auf sich selbst bezogenen Funktion
des Subjekts geschöpft werden. — Dass Lebewesen niederer Art dem
Menschen nicht als Objekt religiöser Funktionen dienen können, liegt
auf der Hand ; wo es anders scheint, z. B. bei der Verehrung heiliger
Thiere, Bäume, Steine u. s. w., entsteht dieser Schein nur dadurch,
dass der Beobachter nicht bemerkt, wie diese verehrten Objekte für
den Gläubigen trotz ihrer äusseren Gestalt innerlich etwas ganz
anderes und ungleich höheres als Thiere, Bäume und Steine bedeuten
und darstellen. Das Objekt kann auch nicht auf gleicher Stufe mit
dem Subjekt stehen; überall wo Menschen zu Objekten religiöser
Funktionen erhoben werden, liegt eine vorübergehende Exaltation der
Phantasie zu Grunde, oder spielt eine mit mehr oder minder Glück
versuchte Selbsttäuschung mit, wofern es sich nicht bloss um byzan-
tinische Heuchelei ohne jede Selbsttäuschung handelt.
Das Objekt der religiös zu nennenden Funktion kann demnach
nur ein solches sein, das dem Subjekt tiberlegen ist, und zwar nicht
bloss relativ überlegen, wie ein Mensch dem andern, sondern un-
vergleichlich überlegen, wie ein höheres Wesen einem niederen. Die
religiöse Funktion stellt sich also dar als Beziehung des menschlichen
Subjekts auf ein ihm unvergleichlich überlegenes Objekt, und dieses
Objekt der religiösen Funktion nennen wir Gott, ohne zunächst mit
diesem Namen irgend etwas anderes oder mehreres besagen zu wollen,
als die Definition angiebt. Jedes Objekt einer religiösen Funktion ist
Gott ; nichts ist Gott, ausser sofern es Objekt einer religiösen Funktion
ist. Gott ist kein wissenschaftlicher, sondern ein religiöser Begriff;
die Wissenschaft hat sich mit ihm nur zu befassen, sofern sie Wissen-
schaft der Keligion ist. Allerdings kann und soll die Wissenschaft
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1. Die religiöse Funktion als Vorstellung. 5
diejenigen Objekte, welche dem religiösen Bewusstsein als Gott dienen,
auch wissenschaftlich untersuchen; aber dann untersucht es dieselben
eben nicht, sofern sie Gott, d. h. Objekt der religiösen Funktionen, sind,
sondern wie sie an sich, oder in ihren sonstigen (nicht religiösen)
Beziehungen zum Menschen und zur Welt sind, und die Religions-
wissenschaft ist der einzige Zweig der Wissenschaft, der mit ihnen in
ihrer Eigenschaft als Gott zu thun hat.
Wir können nunmehr die religiöse Funktion bestimmen als eine
Beziehung des Menschen auf Gott, oder als Yerhältniss des Menschen
zu Gott. Diese Definition scheint nur da ihre Geltung zu verlieren,
wo der Atheismus die Existenz eines Gottes verneint, und doch, wie
im Buddhismus, eine sehr intensive Religion bestehen bleibt; aber es
ist unschwer zu erkennen, dass dieser Schein nur aus einer vor-
gefassten realistischen Ansicht über das Wesen Gottes entspringt,
welche auf den buddhistischen absoluten Illusionismus nicht passt.
Auch im Buddhismus ist das Nichts 1) der absolute Weltgrund,
nämlich die positive TJrsache der die Welt setzenden Illusion, 2) das
(wenngleich nichtige) absolute Wesen, welches der phänomenalen Welt
stetig zu Grunde liegt, 3) das absolute Weltziel, nach welchem der
Weltprocess hinstrebt und in welchem er die absolute Erlösung findet,
und 4) der Träger und Producent jener religiös-sittlichen Welt-
ordnung, welche das allein Wahre und Stetige in der Illusion darstellt
und welche erst den illusorischen Weltprocess zum wirklichen Heils-
process macht. Das Nichts ist in jeder dieser vier Bestimmungen
Objekt der religiösen Funktion, oder Gegenstand des religiösen Ver-
hältnisses. Der Buddhismus ist also Atheismus nicht in dem Sinne,
dass er einen Gott, d. h. ein Objekt des religiösen Verhältnisses
negirt, sondern nur so, dass er das Nichts, das a privativum zum
Gott stempelt. Wenn er das erstere thäte, so hörte er auf, Religion
zu sein ; da er nur das letztere thut, so bleibt er Religion, und stellt
uns nur das Problem, wie es möglich sei, das Nichts zu vergöttern,
d. h. zum Objekt des reUgiösen Verhältnisses zu wählen, ein Problem,
das uns hier nicht weiter zu beschäftigen hat.
Ist nun die religiöse Funktion als ein Verhältniss des Menschen
zu Gott bestimmt, so muss Gott als religiöses Objekt im Bewusstsein
des Menschen gegeben oder gesetzt sein. Es mögen immerhin dem
ersten specifisch religiösen Phänomen unbewusste psychische Funktionen
vorhergegangen sein, ^Y^lche es erst ermöglichen, so müssen wir doch
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6 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
daran festhalten, dass die Beligion als solche erst mit bewussten
religiösen Phänomenen beginnen kann; eine bewusste Beziehung des
menschlichen Subjekts auf ein göttliches Objekt setzt aber allemal
die irgendwie geartete Vorstellung des letzteren als unerlftssliche Be-
dingung der Möglichkeit ihres Zustandekonmiens voraus. Mit andern
Worten: keine Religion ohne Gottesvorstellung; die Gottes-
vorstellung ist der bewusste Ausgangspunkt aller religiösen Funktion.
Sie ist aber mehr als blosse Vorbedingung und Ausgangspunkt, sie
ist dauernd mitbestimmender Faktor der Religion; indem sie Motiv
zur Erweckung und Erregung reUgiöser Funktionen wird, hängt die
Beschaffenheit dieser Funktionen, d. h. des religiösen Lebens, ganz
wesentlich von der Beschaffenheit der vorstellungsmässigen Voraus-
setzungen ab.
Die vorstellungsmässigen Voraussetzungen für die Möglichkeit
religiöser Funktionen müssen nothwendig transcendentale Bedeutung
und Geltung haben; es muss ihnen Wahrheit im transcendentalen
Sinne beigelegt werden, wenn sie zu Voraussetzungen religiöser
Funktionen tauglich sein sollen. Wäre die Vorstellung des religiösen
Objekts bloss inmianenter Bewusstseinsinhalt ohne Beziehung auf ein
transcendent-reales Korrelat der Vorstellung und ohne TJeberzeugung
von der wirklichen Existenz eines solchen transcendenten Korrelats,
dann wäre sie schlechthin untauglich zur Begründung eines religiösen
Verhältnisses. Eine bloss immanente Vorstellung, von welcher man
weiss, dass ihr kein transcendent-reales Korrelat entspricht, wird
eben damit als ein bloss ideales Produkt der subjektiven Bewusstseins-
thätigkeit gewusst, und macht die Anknüpfung eines religiösen Ver-
hältnisses • unmöglich. Wird die bewusstermaassen bloss subjektiv-
ideale Vorstellung eines Objekts trotz ihrer transcendentalen Wahr-
heitslosigkeit dennoch als Anknüpfungspunkt für ein religiöses Ver-
hältniss hingestellt, so wird letzteres damit in die Sphäre der bewussten
Illusion herabgesetzt, d. h. in eine Sphäre, in welcher der Verstand
kritisch aufräumen muss ; auch wenn der Mensch durch seine psychische
Organisation genöthigt wäre, immer von Neuem dieses illusorische
religiöse Verhältniss anzuknüpfen, so würde er ebensosehr durch seine
psychische Organisation immer von Neuem genöthigt sein, den illuso-
rischen Charakter desselben zu enthüllen und das auf Illusionen
ruhende Verhältniss zu zerstören. Ein solcher Kampf zwischen
religiöser Phantasie und kritischem Verstände müsste nothwendig im
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1. Die religiöse Funktion als Vorstellung. 7
Laufe der Generationen von dem Uebergewicht der Phantasie zu dem
TJebergewicht des Verstandes führen und mit einer durch Anpassung
und Vererbung gehäuften Abänderung der psychischen Organisation
in dem Sinne enden, dass die Anlage und der Trieb zu den religiösen
Funktionen bis unter die Schwelle des Bewusstseins herabgedrückt
werden und verkümmern.
Wäre dies die wirkliche Sachlage, so wäre es Pflicht jedes ver-
nünftigen Menschen, den Sieg der Vernunft in diesem Entwickelungs-
gang des religiösen Bewusstseins, d. h. die Ausrottung des religiösen
Triebes zu befördern und zu beschleunigen, und es ist haare Inkon-
sequenz aus Feigheit, wenn die Vertheidiger des illusorischen Charakters
der religiösen Vorstellungen dieser Schlussfolgerung durch allerlei
Winkelzüge auszuweichen suchen. Wenn z. B. alle menschlichen
Vorstellungen nachweislich ohne alle transcendentale Geltung und
Bedeutung wären, so wären auch alle vorstellungsmässigen Voraus-
setzungen als unwahr gewusst, insofern dieselben eine transcendentale
Geltung und Bedeutung beanspruchen, wie sie es-doch müssen, um zur
Grundlage eines religiösen Verhältnisses dienen zu können ; mit andern
Worten: das Dogma des transcendentalen Idealismus hebt die Möglich-
keit der Beligion ihrem Begriff nach auf, und lässt sie als blosse,
vom Verstände stetig zerstörte Illusion der Phantasie bestehen bis
zu dem Zeitpunkt, wo durch modificirte Anpassung der psychischen
Organisation die Religion aufhört, selbst als Illusion zu bestehen.
Um nichts besser läge die Sache, wenn der Mensch zwar die
transcendentale Unwahrheit seiner Vorstellungen nicht wissen könnte,
aber ebensowenig die üeberzeugung von der transcendentalen Wahrheit
derselben zu besitzen vermöchte ; denn er würde in diesem Falle zwar
auf Grund der möglichen Wahrheit seiner religiösen Vorstellungen
ein religiöses Verhältniss anknüpfen können, aber er würde niemals
die Zuversicht gewinnen können, dass er nicht auf Grund der möglichen
Unwahrheit seiner Vorstellungen sich mit illusorischen religiösen
Funktionen zum Narren habe. Ein solcher Zweifel muss aber auf die
Intensität und Innigkeit des religiösen Verhältnisses nothwendig
lähmend wirken. Man denke nur zum Vergleich an die Stimmung
eines Menschen, der sich durch's Fernrohr in die schöne Bewohnerin
eines femstehenden Hauses verliebt hat, aber nie darüber in's Klare
kommt, ob die vermeintliche Schöne nicht doch bloss ein an's Fenster
gelehntes Bild sei, oder aber an die Stimmung eines anderen Menschen,
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g A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
der sich in ein ihm des Nachts häufig wiederkehrendes Traumbild
verliebt hat, und keinen rationellen Grund zu der Erwartung hat,
dass dieses weibliche Idealbild seiner Träume die wahrträumende
Vorahnung von einer wirklich lebenden und dereinst ihm begegnenden
Person sei; so gebrochen wie ein solches Liebesverhältniss, so ge-
brochen würde das religiöse Verhältniss bei fortdauernder schwankender
Ungewissheit über die transcendentale Wahrheit oder Unwahrheit der
rehgiösen Vorstellungen sem.
In dieser Lage aber wäre der Mensch, wenn die religiösen Vor-
stellungen blosse Postulate des religiösen Bedürfnisses, d. h. einer
bestimmten Anlage der menschlichen Organisation wären, aber niemals
durch theoretisches Erkennen bestätigt oder verificirt werden könnten.
In diesem Falle wäre nämlich niemals auszumachen, ob die Postulate
des in der menschlichen Organisation gelegenen religiösen Bedürfnisses
Wahrheit im transcendentalen Sinne besitzen, oder ob sie blosse
Illusionen (wenngleich psychologisch determinirte Illusionen) sind.
So lange der Anbeter seines schönen vis-ä-vis die Hoffnung hat, der
Dame einmal auf der Strasse zu begegnen, oder durch irgend einen
Zufall Gelegenheit zum Eindringen in ihre Wohnung zu gewinnen,
so lange mag er die Zweifel über Bild und Wirküchkeit niederkämpfen
und seine Leidenschaft durch's Femrohr nähren ; sobald er aber jede
Möglichkeit der Verifikation seiner Annahme abgeschnitten sieht, wird
er vernünftiger Weise ein Verhältniss von so zweifelhafter objektiver
Grundlage abbrechen und seine Neigung zur Fortsetzung desselben
bekämpfen.
Es soll natürlich keineswegs bestritten werden, dass bei einem
um theoretische Spekulation völlig unbekümmerten Menschen, der
noch niemals über die Gründe seiner rehgiösen Ueberzeugung nach-
gedacht hat und noch gar nicht von Zweifeln an der transcendentalen
Wahrheit seiner religiösen Vorstellungen berührt worden ist, die
Postulirung derselben durch das religiöse Bedürfniss ausreichender
subjektiver Grund einer religiösen Ueberzeugung sein könne; es wird
nur das behauptet, dass da, wo einmal der Unterschied zwischen
religiösen Postulaten und theoretischen Erkenntnissen dem Verständniss
aufgegangen ist, das Dogma von der Unmöglichkeit, die religiösen
Postulate durch theoretisches Erkennen zu verificiren, nothwendig den
Zweifel über die transcendentale Wahrheit derselben wachrufen und
durch den Gedanken an die Möglichkeit ihres bloss illusorischen
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1. Die religiöse Funktion als Vorstellung. 9
Charakters die Festigkeit und Haltbarkeit des religiösen Verhältnisses
in wachsendem Maasse untergraben muss. Wie der transcendentale
Idealismus, so muss also auch der theoretische Skepticismus die
Beligion im Laufe der Generationen entwurzeln, indem er zwischen
den religiösen Vorstellungen und dem theoretischen Erkennen eine
unüberbrückbare Kluft eröffnet und die menschlichen Geisteskräfte
durch Spaltung in zwei völlig beziehungslose Gruppen nach beiden
Seiten depotenzirt. Der transcendentale Idealismus me der Skepti-
cismus laufen beide, wenn sie die Religion retten wollen, auf eine
Lehre von einer doppelten Wahrheit hinaus; die haarsträubende
Widersinnigkeit dieser liefert das deutlichste Kennzeichen dafür, dass
sie nur die Verlegenheitsausflucht für einen die Religion begrifflich
aufhebenden Standpunkt zur Verhüllung seines wahrhaft destruktiven
Charakters repräsentirt.
Wenn es sonach ein schlechterdings unzulässiger und auf die
Dauer unhaltbarer Versuch ist, die von dem religiösen Bedürfaiss
geforderten vorstellungsmässigen Voraussetzungen von dem Inhalt des
theoretischen , erkennenden Be?nisstseins isoliren und unabhängig
machen zu wollen, so bleibt nur übrig, dass die ersteren mit den
letzteren übereinstimmen, zwar nicht in dem Sinne einer vollkommenen
Deckung beider Seiten, aber doch so, dass der Vorstellungsgehalt des
religiösen Bewusstseins vom theoretisch erkennenden Bewusstsein
nicht nur nicht bestritten, sondern in der Hauptsache bestätigt und
verificirt wird. Einerseits hat das theoretisch erkennende Bewusst-
sein ein breiteres Gebiet als das religiöse und schliesst eine Menge
Stoff in sich ein, der dem religiösen Bewusstsein als solchen un-
wesentlich dünkt; andrerseits kann das religiöse Bewusstsein mit
hoffender Erwartung in nebelhafte Fernen hinausschweifen, in Betreff
deren das theoretisch erkennende Bewusstsein wegen Mangel an empi-
rischen Daten über seine induktiven Entscheidungen noch nicht
schlüssig geworden ist. Aber der Kern beider Seiten, der religiösen
und theoretischen Weltanschauung muss schlechterdings überein-
stimmen, und diejenigen Theile, mit welchen beide sich nicht decken,
sondern über einander hinausragen, müssen in solcher gedanklichen
Uebereinstimmung mit dem beiden geraeinsamen Grundstock von
Vorstellungen stehen, dass ein Widerspruch schlechthin ausge-
schlossen bleibt.
Die für das religiöse Bewusstsein unwesentlichen Seiten der
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10 A. I. Die religiöse Fanktion als einseitig menschliche.
theoretischen Erkenntniss dürfen doch niemals etwas Irreligiöses oder
gar Antireligiöses enthalten, sondern müssen sich bis anf das kleinste
Pünktchen der religiösen Weltanschauung widerspruchslos einordnen,
ja sogar, in die rechte Beleuchtung gerückt, derselben immer neue
Bestätigung und Befestigung bringen, wenn auch das Gewicht dieses
Zuwachses fUr gewöhnlich zu unerheblich scheint, um nicht die Mühe
der Beschäftigung mit denselben im bloss religiösen Interesse zu wenig
belohnt zu finden. Ebenso müssen diejenigen Theile der religiösen
Weltanschauung, mit welchen dieselbe über die theoretische Welt-
anschauung übergreift, so beschaffen sein, dass sie nicht nur der
letzteren nicht widersprechen, sondern sogar im Falle der nachträg-
lichen theoretischen Verifikation eine schätzbare Vervollständigung
ihres systematischen Zusammenhanges darstellen. Das religiöse Be-
wusstsein muss wünschen, dass diese Verifikation recht bald eintreten
möge, beruhigt sich aber bis zu dieser erhofften Bestätigung damit,
dass diese übergreifenden Hypothesen erstens mit der theoretischen
Weltanschauung im besten Einklang stehen und zweitens durch die
Erfordernisse des religiösen Bedürfnisses vorläufig hinlänglich gewähr-
leistet sind.
Das theoretische Erkennen hat zwar diese aus der psychischen
Organisation des Menschen stammenden Bedürfnisse und Postulate
ebenfalls als empirische Daten zu respektiren, welche bei dem In-
duktionskalkül gleichfalls mit in Rechnung gestellt werden müssen,
aber es kann ihnen bei unbefangener Würdigung nicht das gleiche
Gewicht beimessen, wie das religiöse Bewusstsein naturgemäss thun
muss, insofern es unter dem unmittelbaren gefuhlsmässigen Druck
seines Bedürfnisses steht. Das theoretische Erkennen hat immer mit
der Möglichkeit zu rechnen, dass entweder das fragliche religiöse
Bedürfhiss auf einer nothwendigen Illusion beruhe, oder aber dass
es nur erst einer niederen, noch unentwickelten Stufe des religiösen
Bewusstseins angehöre, beim Fortgang zu einer höheren Stufe aber
eine ganz andre Gestalt gewinnen und zu ganz anderen vorstellungs-
mässigen Voraussetzungen führen werde; das religiöse Bewusstsein
hingegen hat es nur mit sich selbst auf der jeweilig erreichten und
eingenommenen Entwickelungsstufe zu thun und kann bei der Intensi-
tät seiner eigenen Bethätigung nicht zugleich noch auf die Relativität
seiner Erscheinungsform refiektiren.
Wenn die Entwickelung des religiösen Bewusstseins zur höchsten
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1. Die religiöse Funktion als Vorstellung. \l
Stufe gelangt ist, und das theoretische Erkennen konstatirt hat, dass
das religiöse Bedürfhiss in dieser seiner vollkommenen Gestalt keinerlei
Dlusionen, weder noth wendige noch znftUige, mehr braucht und zu-
lässt, dann verschwindet naturgemftss jenes überschiessende Plus der
religiösen Weltanschauung über die theoretische, indem die Werthung
der empirischen Daten des religiösen Bewusstseins als Induktions-
material für beide ganz dieselbe wird. Die religiöse Weltanschauung
hat dann nicht mehr nöthig, im Moment religiöser Erregung das
Gewicht des religiösen Bedürfnisses und seiner Postulate zu über-
schätzen, weil das theoretische Erkennen diese Postulate durchweg
rechtfertigt; die theoretische Weltanschauung aber darf die rück-
wirkende Verstärkung, welche die aus anderweitigen Daten abgeleiteten
Induktionen durch die psychologischen Thatsachen des religiösen
Bewusstseins erfahren, um so höher schätzen, je weniger ein Diver-
genzpunkt zwischen beiden übrig bleibt. So wird auf der höchsten
Stufe die blosse Uebereinstinmiung des Grundstocks der religiösen
und theoretischen Vorstellungen zu einer wirklichen Kongruenz beider,
wenngleich innerhalb des theoretischen Erkenntnissgebietes die einzelnen
Theile einen sehr ungleichen Grad von religiösem Interesse behalten.
Jede Beligion ohne Ausnahme hat sich zur Zeit ihrer Blüthe
im völligen Einklang mit der theoretischen Weltanschauung des be-
treffenden Volkes befunden; alle Beligionsgründungen haben an die
vorgefundene theoretische Weltanschauung ihres Volkes angeknüpft,
und alle Schwierigkeiten, mit denen neue Beligionen zu kämpfen
hatten, lagen nicht so sehr auf religiösem Gebiete selbst, als darin,
dass sie zum Zweck der Erhebung des religiösen Bewusstseins auf
eine höhere Stufe auch neue Vorstellungselemente in das vorgefundene
einheitliche System der zugleich theoretischen und religiösen Welt-
anschauung des Volkes einführen, also diese in wesentlichen Punkten
ändern mussten. Im Verlauf ihres geschichtlichen Lebens verhalten
sich Religionen wie organische Specien: sie akkommodiren sich dem
unausbleiblichen Wandel der Verhältnisse so sehr als ihre Akkommodo-
dationsfahigkeit es zulässt, und wenn diese Grenze überschritten wird,
so verkümmern sie, werden auf begrenzte Lokalitäten beschränkt und
sterben endlich aus.
Jede Species ist, soweit dies in ihren Kräften steht, bemüht, auf
die umgebenden Lebensverhältnisse in einer ihrem eigenen Gedeihen
förderlichen Weise einzuwirken; so ist auch jede Religion bestrebt,
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12 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
die Entwickelung des theoretisch erkennenden Bewusstseins in einer
ihr selbst vortheilhaften Weise zu beeinflussen. Anfangs pflegen die
Interessen des religiösen und des theoretischen Bewusstseins Hand in
Hand zu gehen ; die Religion und ihre Vertreter sind die wirksamsten
Förderer und Pfleger der Erkenntniss und Bildung, und der An-
passungsprocess der Religion an die sich entfaltende theoretische
Erkenntniss führt selbst eine Erstarkung derselben, eine Erhöhung
ihrer Lebensfähigkeit und ihres religiösen Werthes herbei. Wenn
aber die Religion ihren geschichtlichen Höhepunkt, ihre Blüthezeit
erreicht hat, und trotzdem der für die Entwickelung der Erkenntniss
von ihr gegebene Anstoss fortwirkt, so dass diese sich selbstständig
in einer Richtung fortentwickelt, welcher die Religion mit ihrem An-
passungsvermögen nicht zu folgen vermag, dann wendet sie sich
feindlich gegen die Erkenntniss, von welcher sie sich in ihren Lebens-
grundlagen, nämlich der Uebereinstimmung von religiöser und theore-
tischer Weltanschauung, bedroht sieht und sucht diese theoretische
Entwiekelungsrichtung als eine Verirrung zu bekämpfen.
Bei diesem Kampfe hat sie das Argument für sich, dass jeder
Kulturprocess, auch derjenige des intellektuellen Fortschritts in der
That geile Schösslinge hervortreibt, welche im Fortgang der Geschichte
erst durch die gesunden Triebe überwunden werden müssen, in der
Zeit des Hervorkeimens und Aufspriessens aber schwer von den
letzteren zu unterscheiden sind ; sie darf sich sogar auf die Erfahrung
berufen, dass solche einseitige Verirrungen des Geistes nicht selten
in epidemischer Weise breitere Volksschichten ergreifen, und deshalb
das blosse Pochen der Gegner auf die Masse und Zahl der Anhänger
als nichts beweisend ablehnen. Dem schärferen Blick enthüllt sich
allerdings der Unterschied zwischen einseitigen pathologisch - epi-
demischen Geistesverirrungen und gesunden Entwickelungsrichtungen
der Geisteskultur durch die entgegengesetzte Stellung beider zur
Kontinuität des gesammten Entwickelungsganges der menschlichen
Bildung; aber die Vertreter der Religion erkennen die Bündigkeit
auch dieses Beweises nicht an.
Der Streit bleibt so lange unentschieden, als die betreffende
Religionsstufe ihren Anhängern noch volle religiöse Befriedigung ge-
währt, weil so lange der im Dienste des Herzens stehende Verstand
immer noch irgendwelche sophistische Ausflüchte findet, um unter
dem Widerspruch der gesichertsten Ergebnisse der Wissenschaft mit
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1. Die religiöse l^nktion als Vorsteltong. 13
den unentbehrlichen vorstellungsmässigen Voraussetzungen des speci-
fischen religiösen Bedürfnisses hinwegzuschlüpfen. Der äussere Sieg
der fortgeschrittenen theoretischen Weltanschauung über die zurück-
gebhebene religiöse wird erst dann zweifellos, wenn die innere Kraft
des religiösen Lebens erlahmt, wenn das religiöse Bewusstsein auf
der gegebenen Stufe sich selbst nicht mehr so ganz heimisch und
sicher, nicht mehr recht voll befriedigt findet. So lange die theore-
tische Kritik sich damit begnügt, die vorstellungsmässigen Voraus-
setzungen des religiösen Bewusstseins als den Ergebnissen der Wissen-
schaft widersprechend nachzuweisen, aber nicht bestreiten kann, dass
sie streng konsequente Postulate des religiösen Be?nisstseins auf dieser
Stufe sind, so lange ist die Religion ein durch Kritik unzerstörbares
Bollwerk für diejenigen Frommen, deren religiöse Herzensbedürfnisse
stärker sind als ihr Verstand ; sobald aber die theoretische Kritik sich
auf die specifische Stufe des religiösen Bewusstseins selbst richtet,
und das Gefühl der Relativität ihres Werthes, das Gefühl der specifisch
religiösen Reformbedürftigkeit der gegebenen Religion, die unbestimmte
Sehnsucht nach etwas Neuem und principiell Höherem erweckt, so
ist die geschichtlich gegebene Religion in ihrer Wurzel getroffen, sie
siecht dahin, und es bleibt nur eine Frage der Zeit, wie lange die
im Kulturprocess meist um Jahrhunderte zurückstehende Volksmasse
brauchen wird, um von dem bei der kulturtragenden Minorität be-
ginnenden Gefühl der Unzulänglichkeit ebenfalls ergriffen zu werden.
Darum ist es ein nichts beweisendes Argument, wenn die Vertreter
einer bestimmten Religion sich für die ungebrochene Lebensfähigkeit
derselben auf die von der Kritik noch unberührten gläubigen Massen
berufen, wenn doch schon in der kulturtragenden Minderheit das
ünzttlänglichkeitsgefuhl vorhanden ist und täglich an Boden gewinnt.
Die Vertreter einer bestimmten Religionsform sehen in der Bö-
drohung dieser stets den drohenden Untergang der Religion überhaupt,
weil sie ihre Religionsstufe für die absolute Religion halten. Wer
den geschichtlichen Process aus unbefangenerem Gesichtspunkte be-
trachtet, der muss einräumen, dass die Thatsache einer principiellen
Diskrepanz zwischen religiöser und theoretischer Weltanschauung von
vornherein unmöglich wäje, wenn nicht die bestimmte Religionsstufe
mit der Endlichkeit und Relativität behaftet, zur geschichtlichen
Ueberwindung bestinmit und dieser Ueberwindung nahe gerückt wäre ;
der wd femer anerkennen, dass der Fortschritt der theoretischen
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14 A. I Die religiöse Fooktion als einseitig mensobUclie.
Erkenntnis nicht nur das religiöse Verdienst hat, die bestinimte
Religion im aufsteigenden Ast ihrer Bahn znr fortschreitenden An-
passung und Yeryollkommnung genOthigt zu haben, sondern auch das
noch grossere, im absteigenden Bahnast ihre üeberwindung befördert
und das Gefühl ihrer Unzulänglichkeit geweckt und genährt zu haben.
Denn nur aus diesem für das religiöse Bewusstsein allerdings schmerz-
lichen und quälenden Geföhl der Unzulänglichkeit der vorhandenen
Beligionsform kann die Kraft zum Aufschwung auf eine neue und
höhere Stufe geschöpft werden. Die Entwickelung der theoretischen
Erkenntniss hat dann das dritte religiöse Verdienst, dem religiösen
Genius, welcher den Aufschwung auf eine höhere Stufe vollzieht, das
Vorstellungsmaterial vorbereitet zu überliefern, aus welchem er die
neue religiöse Weltanschauung zu erbauen hat.
Bevor jedoch die neue höhere Stufe des religiösen Bewusstseins
wirklich erreicht wird, pflegen die Vertreter der bestehenden Religion
die verschiedenartigsten Versuche zu machen, ob sich nicht die vor-
handene Religion sammt ihrer religiösen Weltanschauung in einer
Weise umgestalten lasse, welche die verlorene Uebereinstimmung mit
der theoretischen Weltanschauung wieder herstellt. Diese Bestrebungen
bewegen sich also formell auf demselben Boden der Anpassung, wie
der gauze Entwickelungsgang der bestimmten Religion im aufsteigenden
Bahnast, aber sie unterscheiden sich sachlich dadurch, dass sie nicht
mehr die relativ vollkommenste Form fttr das gegebene religiöse
Princip suchen, sondern die bereits gefundene relativ vollkommenste
Form zu Gunsten einer Konkordanz mit der theoretischen Welt-
anschauung wieder zerstören, entstellen, verzerren oder abschwächen.
Eine solche, als Vermittelungstheologie im weitesten Sinne zu
bezeichnende Arbeit kann nur zweierlei Folgen haben: entweder sie
verkümmert und verwässert das religiöse Leben durch Verstümmelung
und Abschwächung des religiösen Princips der betreffenden Stufe, ohne
irgend welchen religiösen Ersatz dafür zu gewähren; oder aber sie
gewährt für die Zerstörung und Auflösung des alten religiösen Princips
wirklichen Ersatz durch ein neues höheres religiöses Princip, dessen
Neuheit und Heterogenität durch Einkleidung in althergebrachte
Formen möglichst verhüllt wird. Im erstergn Falle ist ihr geschicht-
liches Ergebniss nichts als die unvermerkte Beförderung der Auflösung
des Alten; im letzteren Falle ist es ausserdem noch die unvermerkte
Gewöhnung an ein thatsächlich Neues imter alten missbräuchlich be-
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1. Die religiöse Fanidion als Vorsielltiiig. 15
nutzten Namen und Formeln. Diese letztere Bichtung bereitet recht
eigentlich den Durchbruch des neuen religiösen Princips, den Auf-
schwung zu einer höheren Stufe des religiösen Bewusstseins vor;
indem sie aber den neuen Wein in alte Schläuche fallt, den neuen
Geist in alte Formeln giesst, bleibt sie ebensosehr in principieller
Halbheit und in historischen und logischen Widersprüchen stecken,
wie die rein destruktive Bichtung der Vermittelungstheologie.
Die theoretische Erkenntniss hat in solchem Falle der Beligions-
entwickelung den vierten, religiös werthvollsten Dienst zu leisten,
indem sie dieselbe kritisch zwingt, das principiell ergrifiPene Neue auch
als neues Princip anzuerkennen und die neue religiöse Weltanschauung
nur aus solchen Elementen zu erbauen, welche von diesem neuen
religiösen Princip als nothwendige Voraussetzungen postulirt werden.
Diese Voraussetzungen müssen im Allgemeinen ebenso verschieden
von denjenigen der überwundenen Stufe, und theilweise ihnen ent-
gegengesetzt sein, wie das neue Princip selbst von dem alten ver-
schieden, beziehungsweise ihm entgegengesetzt ist ; sie werden hingegen
ebenso übereinstinmiend mit der zeitweilig erreichten theoretischen
Weltanschauung sein, wie die überwundene religiöse Weltanschauung
von dieser abweichend und ihr widersprechend war.
So lösen sich die anscheinend unlösbaren Konflikte zwischen
religiöser und theoretischer Weltanschauung aus evolutionistischem
Gesichtspunkte in vollständige Harmonie auf. Die Wissenschaft
fördert die Eeligion, die auf gemeinsamem Boden mit ihr erwachsen
ist, bis zu ihrer Blüthe; sie kollidirt mit ihr, sobald sie den Mutter-
boden der gemeinsamen Weltanschauung verlässt, welchen die Beligion
in wesentlichen Punkten behaupten muss. Aber dieser Kampf kann
seiner Natur nach niemals zu einem Siege der Wissenschaft über die
Eeligion als solche führen; die Wissenschaft kann nichts thun, als
der Beligion die Hand dazu reichen, dass sie sich selbst überwindet,
d. h. von einer niederen zu einer höheren Stufe des religiösen Be-
wusstseins emporschwingt, und indem sie das thut, bewährt sie
sich als der beste Freund und providentielle Helfer der
Eeligion.
Wer freilich die Beligion nicht als das in der sich entwickelnden
Vielheit ihrer besonderen Erscheinungsformen durchgehende All-
gemeine betrachtet, sondern ausschliesslich in einer bestunmten
einzelnen Erscheinungsform sieht, der kann in der Wissenschaft nur
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lg A. I Die religiöse Ponktion als einseitig menschliche.
den schlimmsten Feind der Beligion sehen, der alhnählieh ihre
Wurzeln untergräbt. Aus dem beschränkten Gesichtspunkt einer be-
stimmten geschichtlichen Beligion kann man daher mit Eecht sagen,
dass dieselbe besser thäte, auf eine nur mit Hilfe der Wissenschaft
zu erlangende Blüthe zu verzichten, als sich diesem Bundesgenossen
anzuvertrauen, der sie nur grosszieht, um sie nachher zu erdrosseln;
aber diese AufiFassung ist selbst zu berichtigen durch .die höhere Ein-
sicht,, dass gerade in diesem durch die Wissenschaft beförderten
Process des Aufblühens und Wiederverfallens der geschichtüchen
Religionen sich die fortschreitende Entwickelung der Religion voll-
zieht. —
Die religiöse Weltanschauung muss für denjenigen, der ein
religiöses Verhältniss auf ihrem Grunde erbauen will, als Wahrheit
im transcendentalen Sinne gelten ; aber so wenig sie die Unsicherheit
eines haltlos schwankenden Zweifels verträgt, ohne zur vorsteUungs-
mässigen Voraussetzung des religiösen Verhältnisses untauglich zu
werden, ebensowenig braucht sie eine absolute Gewissheit, d. h.
mathematisch ausgedrückt: eine von der 1 nicht unterschiedene
Wahrscheinlichkeit. Was sie haben muss, ist lediglich ein praktisch
ausreichender Grad von Wahrscheinlichkeit, ein Wahrscheinlichkeits-
Koeflficient, der sich von der 1 so wenig unterscheidet, dass dieser
Unterschied praktisch bedeutungslos und einflusslos wird.
Auch die gesichertesten Ergebnisse der exakten Realwissenschaften
(die Pormalwissenschaften wie Mathematik und Logik bleiben hier
ausser Betracht) besitzen keine absolute Gewissheit, sondern bestenfalls
eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit; diejenigen Ueber-
Zeugungen von der Wahrheit bestimmter Voraussetzungen, auf Grund
deren wir unsere Entschliessungen im praktischen Leben zu treffen
pflegen, haben natürlich eine sehr viel kleinere Wahrscheinlichkeit
als die gesichertsten Ergebnisse der exacten Wissenschaft, und dennoch
halten wir sie allgemein für ausreichend, und es ^It uns nicht ein,
im Hinblick auf den Abstand ihrer Wahrscheinlichkeit von der
Gewissheit mit unsem Entschlüssen zu schwanken, oder mit
unserm praktischen Eingreifen zu zaudern. In demselben Sinne wäre
es logisch ungerechtfertigt, wenn das praktische religiöse Verhalten
des Menschen durch die Reflexion auf die abstrakte Möglichkeit
gelähmt werden soUte, dass die Ueberzeugung von der Wahrheit sich
infolge des Unterschiedes dieser Wahrscheinlichkeit von der absoluten
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1. Die religiöse Funktion als Vorstellung. 17
Gewissheit als irrig herausstellen könnte ; wenn der Unterschied dieser
Wahrscheinlichkeit von der 1 nur klein genug ist, so ist er praktisch
auf das Verhalten des Menschen ohne Einfluss, und muss und darf
es sein, weil er gegen die weitaus überwiegende Grösse der positiven
Wahrscheinlichkeit so wenig in's Gewicht f&llt, dass er relativ in
Bezug auf die Motivationskraft der letzteren verschwindet.
Nur wenige Menschen (die Philosophen nicht ausgenommen)
denken scharf genug, um die Unerreichbarkeit der Gewissheit in
theoretischen wie in praktischen Erkenntnissen einzusehen; die meisten
verwechseln in theoretischer Hinsicht eine an Gewissheit grenzende
Wahrscheinlichkeit mit der Gewissheit selbst, in praktischer Hinsicht
eine zur maassgebenden Motivirung ausreichende Wahrscheinlichkeit
mit der Gewissheit. In Bezug auf die religiöse Weltanschauung
drückt sich diese Verwechselung so aus, dass die subjektive Ueber-
zeugung von der Wahrheit derselben, oder der intellektuelle Glaube,
als Bürge für die absolute Gewissheit des Glaubensinhalts angesehen wird,
was derselbe weder ist, noch sein kann, noch für die religiösen Zwecke
zu sein braucht; das religiöse Bewusstsein verlangt nicht mehr und
nicht weniger als einen zur Begründung eines religiösen Verhältnisses
praktisch ausreichenden Grad von subjektiver Ueberzeugung.
Es ist für den einzelnen Menschen religiös gleichgültig, ob er
in der Illusion befangen ist, dass religiöser Glaube absolute Gewiss-
heit besitze, oder ob er diese Illusion kritisch durchschaut hat und
weiss, dass religiöser Glaube nur einen Grad von Wahrscheinlichkeit
verlangt, der zur zuverlässigen praktischen Motivirung des religiösen
Verhältnisses ausreicht; allgemein genommen scheint die Identifi-
cuning der reUgiösen Ueberzeugung mit der Gewissheit für das religiös^e
Leben vortheilhafter zu sein, und doch ist dies ein trügerischer Schein,
dessen Gegentheil wahr ist. Nur derjenige, der selbst noch in der
unkritischen Illusion von der Gewissheit des religiösen Glaubens b.e-
fangen ist, kann furchten, durch Zerstörung dieser Identifikation für
sein religiöses Leben eine Einbusse zu erleiden, während derjenige,
welcher diesen Zusammenhang unbefangen durchschaut, ganz genau
weiss, dass jene Illusion eben daraus entsprang, dass eine der Gewiss-
heit nahekommende Wahrscheinlichkeit praktisch genau dieselben
psychologischen Folgen hat, wie die Gewissheit (wenn sie erreichbar
wäre) nur irgend haben könnte. Die Gewissheit hätte also keinenfalls
einen Vorzug vor der praktisch ausreichenden Wahrscheinlichkeit;
▼. Hartmann, Die Beligion des Qeiates. 2
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18 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
dagegen liegt eine schwere Gefahr fär die Religion in der irrigen
Meinung, dass der religiöse Glaube mit absoluter Gewissheit identisch
sein müsse, nämlich die Gefahr der logisch unüberwindlichen In-
toleranz, und als logischer Bückschlag die Annahme der illusori-
schen Beschaffenheit alles Glaubens und aller auf ihn gegründeten
Beligion.
Jede religiöse Weltanschauung, die in sich durchgebildet und in
einem geschichtlichen Entwiclielungsprocess den Verhältnissen angepasst
ist, stellt ein in sich geschlossenes Ganzes dar, aus dem man keinen
Stein herausnehmen darf, ohne Gefahr, den ganzen Bau zu Falle zu
bringen. Je mehr Geistesarbeit von den Trägern einer bestimmten
Beligion darauf verwandt ist, diese religiöse Weltanschauung durch-
zubilden, desto mehr stärkt sich die Ileberzeugung, dass jeder Theil
derselben organisches Glied des Ganzen ist und mit den wesentlichen
und unentbehrlichen Vorstellungsgrundlagen des religiösen Bewusst-
seins in unabtrennbarem Zusammenhange steht. Die objektive Wahr-
heit der so dogmatisch fixirten religiösen Weltanschauung gilt als
unveräusserlicher Hort für die objektive Möglichkeit der Beligion,
und die subjektive Ueberzeugung von dieser Wahrheit gilt als Vor-
bedingung für die subjektive Möglichkeit der Beligion; mit einem
Wort der Glaube im objektiven und subjektiven Sinne des Wortes,
und zwar der Glaube an eine ganz bestimmt fixirte und systematisirte
religiöse Weltanschauung, wird zur conditio sine qua non der Beligion.
Ein abweichender Glaube muss getrübte religiöse Funktionen zu Tage
fördern, ein entgegengesetzter Glaube muss das Gegentheil der Beli-
giosität, d. h. positive Irreligiosität zur Folge haben, wie der Mangel
an Glauben privative Irreligiosität mit sich bringt.
Wer nun die Beligion für das edelste Gut und den höchsten
Besitz der Menschheit erachtet, wer ihren Verlust, ihre Verkehrung
in's Gegentheil und ihre Trübung und Entstellung abwehren will, der
muss mit allen Kräften dahin streben, den Glauben fest und ungetrübt
zu erhalten, jede Schädigung und Verdrängung des alleinseligmachenden
Glaubens, jede Verunstaltung der reinen Lehre zu verhüten. Wer
Wächter der Beligion sein will, muss somit vor allem Wächter des
Glaubens sein, muss bis zum letzten Athemzuge kämpfen gegen Un-
glauben, Wahnglauben und entstellte Lehre, muss sie in ihre fernsten
Schlupfwinkel verfolgen, ihrem Entstehen und Umsichgreifen unter
den Menschen mit allen Mitteln vorbeugen, kurz sie wo möglich aus-
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1. Die religiöse Funktion als Vorstellung. 19
rotten. Wem die Beligion das höchste Lebensinteresse ist, dem
mnss die Intoleranz, d. h. die Unduldsamkeit gegen den religiös-
gefihrlichen falschen Glauben und seine Vertreter, höchster Lebens-
zweck sein. Wer hiergegen auftritt und Toleranz im Namen der
Humanität und Nächstenliebe verlangt, der weiss nicht, was er thut;
denn wie lässt sich Schonung der Bösen mit dem Kampf gegen das
Böse, wie Duldung schleichenden Giftes mit der Pflicht des Arztes,
wie Duldung einer ungehinderten Verführungsfreiheit mit der Pflicht
der Sorge für die Seele des Nächsten vereinbaren? Toleranz kann
immer nur da auftreten, wo die Energie des religiösen Lebens
geschwächt ist, wo die Beligion aufgehört hat, das höchste, alle andern
dominirende Lebensinteresse zu sein, wo schwächliche Sentimentalität
und religionslose Humanität dem Menschen die Freiheit nicht mehr
verkümmern mögen, sich und andere auf seine Fa§on unselig zu
machen. Auch die Geschichte bestätigt es, dass alle Zeiten der
Blüthe bestimmter Beligionen Zeiten der grimmigsten Litoleranz und
religiösen Verfolgungssucht waren, und dass Toleranz immer erst in
den Zeiten des religiösen Verfalls sich einstellt.
Alle Versuche, vom Standpunkte einer bestimmten Beligion aus
die Toleranz zu vertheidigen, müssen nothwendig als Verrath an der
Beligion selbst sich darstellen, und wenn sie mit noch so geschickter
Sophistik geführt sind ; es giebt nur einen Weg, Beligion und Toleranz
zu vereinigen, das ist die Anerkennung der bloss relativen Wahrheit
jeder bestimmten religiösen Weltanschauung. Diese Anerkennung ist
aber unvereinbar mit dem Dogma, dass der religiöse Glaube absolute
Gewissheit besitzen müsse, um religiös werthvoll und leistungsfähig
zu sein ; sie setzt voraus, dass die subjektive üeberzeugung von der
Wahrheit des Glaubensinhalts einen Spielraum für die Möglichkeit
abweichender religiöser Weltanschauungen von gleichfalls relativer
Wahrheit offen lasse. Und zwar muss dieser Spielraum nicht bloss
niederen Formen zu Gute kommen, welche zu dieser Stufe des
religiösen Bewusstseins hingeführt haben, sondern auch koordinirten,
welche sie ergänzen, und höheren Formen, welche aus der Gesammtheit
der koordinirten Formen hervorgehen sollen; denn sonst könnte man
höchstens Toleranz gegen niedere zurückgebliebene Formen und gegen
die Unfähigkeit ihrer Vertreter zu höherem religiösem Aufschwung,
nicht aber gegen Fortschritts- und Fortbildungsbestrebungen üben,
welche um so intoleranter zu verfolgen wären. Wer eine bestimmte
2*
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20 ^* I- ^i® religiöse Faniction als einseitig menschliche.
historisch gegebene Eeligion für die absolute Keligion hält, der wird
nicht umhin können, die aus ihr konsequent herausgebildete religiöse
Weltanschauung für die absolute Wahrheit und den Glauben an
dieselbe f&r eine absolute Gewissheit zu erklären, damit aber auch die
Intoleranz zu einer logischen Eonsequenz der Keligion zu proklamiren.
Wer aber die Verschiedenheit der religiösen Weltanschauungen evolutio-
nistisch begreift und jeder von ihnen ein gewisses Maass relativer Wahr-
heit, wie es der jeweiligen Stufe des reUgiösen Bewusstseins entspricht,
zuzuschreiben bereit ist, der wird sich auch gegen die Erkenntniss
nicht verschliessen können, dass seine eigene religiöse Weltanschauung
ebenfalls nur ein Glied im Entwickelungsprocess des Ganzen und
darum gleichfalls nur von relativer Wahrheit ist.
Diese Erkenntniss wird die Energie und Intensität des religiösen
Lebens nicht im Geringsten beeinträchtigen, sobald man sich darüber
klar geworden ist, dass das religiöse Verhältniss gar keine Gewissheit,
sondern nur einen praktisch ausreichenden Grad von Wahrscheinlich-
keit fOr seine vorstellungsmässigen Voraussetzungen erheischt. Das
evolutionistische Verständniss der Religion ist also nur erreichbar,
wenn die naive Verwechselung von Wahrscheinlichkeit und Gewissheit
beim religiösen Glauben kritisch enthüllt wird; der evolutionistische
Gesichtspunkt ist aber wiederum der einzige, aus welchem — wie
vorhin der Konflikt zwischen religiöser und theoretischer Welt-
anschauung — so jetzt der Konflikt zwischen religiösem Glaubenseifer
und Toleranz gelöst werden kann. Darum ist die kritische Enthüllung
jener Verwechselung keine gleichgültige, sondern eine sehr wichtige
Sache für die Religion. Wird sie versäumt und bleibt der Anspruch
des religiösen Glaubens auf Gewissheit als ein auch von gegnerischer
Seite unkritisch acceptirter bestehen, so ist die nothwendige Folge
davon, dass die Religion zu Schaden kommt, weil sie zu sicher gehen
wollte; die Gegner erklären dann mit Recht die Konkordanzversuche
zwischen der Religion einerseits und der Wissenschaft und Toleranz
andererseits für sophistische Trug-Gespinste, ziehen daraus aber nicht
mit den orthodoxen Zeloten die Konsequenz, dass Wissenschaft und
Toleranz zu verwerfen und auszurotten seien, sondern die entgegen-
gesetzte, dass die Religion eine kulturfeindliche Illusion sei. Der
Anspruch der Religion auf absolute Gewissheit des Glaubens ist auf
die Dauer jedenfalls unhaltbar; sie hat nur die Wahl, entweder sich
rechtzeitig mit dem Anspruch auf Wahrscheinlichkeit zu begnügen
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1. Die religiöse Fonktion als Yorstellimg. 21
oder aber das Eind mit dem Bade ausgeschüttet zu sehen, d. h. die
Erfahrang zu machen, dass mit der Entlarvung des illusorischen
Charakters der Glaubensgewissheit dann auch der ganze Olaubens-
inhalt zu den Illusionen geworfen wird.
Aus dem Gesichtspunkt, dass für den religiösen Menschen der
Bestand seiner bestimmten Religion von der unerschütterten Wahrheit
seiner religiösen Weltanschauung abhängt, dass mit den religiösen
Vorstellungen eo ipso auch die Motivationskraft dieser Vorstellungen
und die aus diesem Motivationsprocess resultirenden religiösen
Funktionen mitgesetzt sind, erscheint die religiöse Weltanschauung
als das unbedingt Maassgebende für die Beligion; es kommt noch
dazu, dass es schwer ist, die religiösen Funktionen selbst zu be-
schreiben, leicht aber, die reügiösen Vorstellungen zu beschreiben,
durch welche sie angeregt werden, dass also alle Mittheilung von
Beligion und alle Darstellung bestinmiter Beligionsformen wesentlich
auf der Beschreibung der religiösen Weltanschauungen beruht, durch
welche die entsprechenden religiösen Funktionen erregt werden.
Man braucht nur einen Schritt weiter zu gehen und die Aus-
lösung der religiösen Funktionen als eine bei jedem normalen Menschen
selbstverständliche Folgeerscheinung von gleichsam mechanischer
Sicherheit des Eintretens anzusehen, dann sinken die eigentlichen
religiösen Funktionen zu einem kaum noch erwähnenswerthen Zubehör
oder Accidenz der religiösen Weltanschauung herab und diese letztere
rückt selbst in die Stelle der Religion ein. Der Glaube an die be-
stimmte religiöse Weltanschauung wird nun zum unmittelbaren
Maassstabe der ReUgiosität und die Bekundung des Glaubens im
Bekenntniss zur ausreichenden Legitimation über den Besitz desselben;
der Grad der Rechtgläubigkeit gilt nun als entscheidend für den
Grad der Frömmigkeit, und der Grad der Eingeweihtheit und Ver-
trautheit mit allen Einzelnheiten und Feinheiten des theologischen
Systems wird raaassgebend für den Grad der Heiligkeit des Frommen.
Hiermit wird die Religiosität des Laien zu einer Religiosität zweiter
Klasse herabgesetzt und der Stand studirter Theologen zu einer
religiös bevorzugten Stellung emporgeschraubt (wie im pharisäischen
Judenttium); der religiöse Eifer bekundet sich wesentlich in theologi-
schem Gezänk um die »reine Lehre« (wie in der altlutherischen
Orthodoxie), und die religiöse Hingebung und demüthige Opferwflligkeit
offenbart sich nach solcher Verlegung des religiösen Schwerpunktes
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22 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
auf das intellektuelle Gebiet vornehmlich durch das »Opfer des In-
tellektes«, d. h. durch die vernunftwidrige Unterordnung des mensch-
lichen Denkvermögens unter die von der Autorität der Kirche legiti-
mirte religiöse Weltanschauung (wie im Katholicismus).
Eine solche Verwechselung der Religion selbst mit ihren vor-
stellungsmässigen Voraussetzungen hat allemal eine Verkümmerung
der Religion zur Folge ; indem das den ganzen Menschen umfassende
religiöse Leben zu einseitigem Intellektualismus vertrocknet, tritt ge-
lehrter Hader und Buchstabendienst an die Stelle lebendiger religiöser
Anregung, und die Gemeinde der Laien geht auf die Dauer leer aus;
bei den berufsmässigen Vertretern der Religion steigert solcher In-
tellektualismus die ohnehin schon bestehende Tendenz zur Intoleranz
in's Extrem und das an die Stelle innerer Frömmigkeit gesetzte
Lippenbekenntniss fuhrt unwillkürlich zu einer systematischen Züchtung
der Heuchelei. Die Beschränkung des religiösen Glaubens auf das
intellektuelle Gebiet macht den Glauben todt und unfruchtbar; wo
alles Gewicht auf das blosse Fürwahrhalten der religiösen Welt-
anschauung gelegt und der Eintritt der religiösen Funktionen als
selbstverständliches Accidenz bei Seite geschoben wird, da müssen die
religiösen Funktionen allmählich nothwendig verdorren, d. h. das
innere religiöse Leben des Gemüths stirbt ab, und darum bleiben dann
auch die Früchte aus, die von ihm erwartet werden.
Die Verwechselung von religiöser Weltanschauung und Religion
beruht wesentlich auf der falschen Voraussetzung, dass von den
gleichen religiösen Vorstellungen jeder normale Mensch in gleicher
Weise religiös afificirt werden müsse. Diese Voraussetzung ist darum
falsch, weil bei ihr nicht nur die Verschiedenheit der intellektuellen
Anlagen und Bildung, der charakterologischen Gewöhnung und Gemüths-
erziehung und der socialen Verhältnisse und Zustände, sondern auch
die principielle Verschiedenheit der vom Menschen eingenommenen
Entwickelungsstufe des religiösen Bewusstseins ausser Acht gelassen
ist. Die ersteren Unterschiede erklären die Thatsache verschiedener
Sekten, Parteien und Richtungen innerhalb derselben geschichtlich
bestimmten Religion ; der letztere Unterschied erklärt die andere That-
sache, dass dieselben religiösen Vorstellungen den auf der ent-
sprechenden Stufe des religiösen Bewusstseins stehenden Menschen
religiös" anregen und vollkommen befriedigen, dem auf tieferer Stufe
stehenden Menschen entweder unverständlich bleiben, oder doch bloss
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1. Die religiöse Funktion als Yorstellung. 23
*
durch unwesentliche Aeusserlichkeiten imponiren, den zu höherer
Stufe Emporgestiegenen aber als ideell überwundene historische
üeberlebsel anmuthen und völlig kalt lassen.
Wo die Vertreter der Religion ein Volk an den Irrthum gewöhnt
haben, die religiöse Weltanschauung an die Stelle der Religion zu
setzen oder die religiösen Funktionen wesentlich auf dem Gebiete der
Vorstellung zu suchen, da dürfen sie sich nicht wundem, wenn die
Vertreter der theoretischen Weltanschauung diesen landläufigen Irr-
thum kritiklos acceptiren und in der Ueberzeugung von dem besseren
Recht ihrer theoretischen Weltanschauung nicht nur die religiöse
Weltanschauung, sondern die Religion selbst durch die theoretische
Weltanschauung der Wissenschaft ersetzen zu sollen glauben. Die
religiöse Weltanschauung kann ja in der That nur so lange mit irgend-
welchem Schein von Recht eine gewisse Selbstständigkeit gegenüber
der theoretischen Weltanschauung behaupten, als sie die unentbehrUche
Voraussetzung des inneren religiösen Lebens und seiner BedürMsse
bildet; sobald aber dieses Verhältniss von der Theologie auf den Kopf
gestellt wird und das innere religiöse Leben als blosses Accidenz der
geglaubten religiösen Weltanschauung behandelt wird, erlischt dieser
einzige Rechtstitel und die theoretische Weltanschauung ist im un-
bedingten Recht, wenn sie sich an die Stelle der religiösen setzt und
diese, soweit sie von ihr abweicht, einfach negirt. Ebensosehr aber
ist die theoretische Weltanschauung unter den gemachten Voraus-
setzungen im Recht, sich für den voUgiltigen Ersatz der Religion zu
proklamiren; denn wenn sie die religiöse Weltanschauung ersetzt, und
diese die Stelle der Religion vertritt, so ersetzt sie in der That die
ReUgion selbst.
Die theoretische Weltanschauung tritt gegenwärtig meist in
Gestalt der Philosophie (oder doch einer philosophisch sich geberdenden
naturwissenschaftlichen Weltanschauung) hervor; der philosophische
Irrthum, dass die Philosophie die Religion zu ersetzen habe, steht
also auf gleicher Linie und ist der unmittelbare Nachkomme
des theologischen Irrthums, dass die religiöse Weltanschauung, d. h.
die theologische Dogmatik oder Glaubenslehre, die Religion zu ersetzen
habe; beide sind auf dem Boden der verkehrten Annahme erwachsen,
dass die religiösen Funktionen wesentlich, wo nicht ausschliesslich,
auf dem Gebiete der Vorstellung liegen. In dem Anspruch, dass die
Philosophie oder die Dogmatik die Religion ersetzen solle, ist nun
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24 ^- I I^ie religiöse Funktion als einseitig menschliche.
aber nicht mehr Sinn als in dem gleichwerthigen, dass die National-
ökonomie das nationale Wirthschaftsleben, oder die Astronomie den
Umlauf der Gestirne, oder die Aesthetik die Kunst, oder die Nahrungs-
mittellehre die Ernährung ersetzen solle. Die religiöse Weltanschauung
ist ein unentbehrlicher und wesentlich mitbestimmender Faktor für das
religiöse Leben, sie ist, wenigstens für das Bewusstsein, der Ausgangs-
punkt des religiösen Lebens, und darum sind die auf ihre Ausbildung
im religiösen Interesse gerichteten intellektuellen Funktionen allerdings
als religiöse Funktionen zu bezeichnen ; aber dieselben sind nur mittelbare,
sekundäre religiöse Funktionen, insofern sie lediglich darauf abzielen,
die unmittelbaren, primäxen religiösen Funktionen zu befördern, und
darum bleiben diese letzteren immerdar der wahre und eigentliche
Inhalt des religiösen Lebens.
Die Philosophie hat in zwiefacher Gestalt versucht, die Beligion
zu ersetzen. Als die altlutherische Orthodoxie in der Neologie und
dem theologischen Bationalismus ihr Ende gefunden hatte, da trat
der philosophische Rationalismus der vulgären Aufklärung mit dem
Anspruch hervor, an Stelle der abgewirthschafteten geschichtlichen
Religionen die für alle Menschen von selbst evidente »Naturreligion«
oder » Vemunftreligion« zu setzen ; der Inhalt derselben war zunächst
ein seichter Deismus mit der Ideentrias eines persönlichen Gottes,
persönlicher Unsterblichkeit und persönlicher Willensfreiheit, aber
schon in den Kreisen der französischen Encyklopädisten schlug dieser
geistlose Deismus, in ebenso geistlosen Materialismus um, wie er sich
neuerdings auch bei uns in dem »neuen Glauben« von D. F. Strauss
präsentirt hat. Gegenüber diesem Verfall des philosophischen Theismus
in Deismus und Materialismus stand eine aufsteigende Entwickelung
des philosophischen (metaphysischen) Monismus von Spinoza durch
Fichte zu Schelling, Schopenhauer und Hegel ; hier war es im Gegen-
satz zu der theistischen Transcendenz des persönlichen Gottes die
monistische Immanenz des unpersönlichen Gottes, an welche die
Spekulation sich hielt. Wie viel höher dieser philosophische Gedanken-
gehalt auch stehen mochte, so blieb doch der Ifrthum bestehen, dass
die Religion, obschon das bestmögliche Surrogat der Philosophie für
die unphilosophische Volksmasse, doch für die philosophischen Köpfe
in weit vollendeterer Weise ohne Rest durch Philosophie ersetzt werde ;
grade bei den vorgeschrittensten Trägem dieser Entwickelung, bei
Hegel und seiner Schule, tritt dieser principielle Irrthum am un-
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1. Die religiöse Funktion als Vorstellung. 25
verhohlensten an's Tageslicht, und obgleich der ergänzende Hinweis
auf das Gefühl als die Sphäre des unmittelbaren religiösen Lebens
bei Hegel nicht fehlt, so wird doch von dieser Hindeutung praktisch
kein rechter Gebrauch gemacht, vielmehr die realen Momente des
religiösen Processes in blosse Phasen des Erkenntnissprocesses auf-
gelöst und intellektualistisch verflüchtigt. Biedermann war der erste
Hegelianer, der diesen Fehler gründlich erkannt und berichtigt hat.
Wenn der Anspruch der Philosophie, die Keligion ersetzen zu
wollen, ebenso wie der gleiche Anspruch der theologischen Dogmatik,
für immer zurückzuweisen ist, so erhebt sich doch dessen unbeschadet
die andere Frage von neuem, ob nicht diesem Anspruch eine gewisse
Berechtigung innewohne, wenn derselbe darauf beschränkt wird, dass
die Philosophie nicht die Keligion, sondern die theologische Dogmatik
zu ersetzen habe. Zum Theil filllt diese Frage mit derjenigen nach
dem Verhältniss der religiösen und theoretischen Weltanschauung
zusammen, aber sie hat doch einen engeren Sinn als diese. Nicht
die Philosophie in ihrer Totalität kann die theologische Dogmatik er-
setzen wollen, sondern nur so weit sie die religiösen Funktionen selbst
und deren unentbehrliche vorstellungsmässige Voraussetzungen be-
handelt, d. h. so weit sie Religionsphilosophie ist. Andrerseits wird
die theologische Dogmatik, wenn sie mehr als bloss reproducirende
Zusammenstellung der Dogmen, wenn sie wissenschaftliche Bearbeitung
der Dogmen sein will, nicht umhin, können, zugleich Religionsphilosophie
sein zu wollen, und ihr Unterschied von einer nichttheologischen
Religionsphilosophie kann nur darin bestehen, dass sie zum Ausgangs-
punkt und Material ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung die Dogmen
einer bestimmten geschichtlichen Religionsform nimmt, während diese
die letzte und höchste im gesammten Entwickelungsgange der Mensch-
heit erreichte Stufe des religiösen Bewusstseins zum empirischen
Material der wissenschaftlichen Bearbeitung wählt.
Aus dieser Unterschiedsangabe ersieht man, dass die Religions-
philosophie die Dogmatik nur deshalb und insofern nicht als reine
Religionsphilosophie anerkennen kann, weil und insofern sie dieselbe
des Irrthums zeiht, eine bereits ideell überwundene Stufe des religiösen
Bewusstseins, wie sie in den Dogmen einer bestimmten Religion vor-
liegt, für das geeignetste empirische Material zur wissenschaftlichen
Extrahirung des bis jetzt höchsten religiösen Bewusstseins-Inhaltes an-
zusehen und zu behandehi; die Dogmatik hingegen kann einer nicht-
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26 ^' ^' ^io religiöse Funktion als einseitig menschliche.
theologischen Eeligionsphilosophie — abgesehen von inhaltlich ab-
weichenden Ergebnissen — keinen andern principiellen Mangel mehr
vorwerfen, als dass sie die Anknüpfung an die historisch überlieferten
Dogmen einer bestimmten Beligion unterlässt und darum didaktisch
nicht geeignet ist für die praktische Vorbildung von Geistlichen dieser
bestimmten Beligion. Die Dogmatik verbindet praktisch theologische
Zwecke mit wissenschaftlichen, und muss darum nothwendig ein
Mehreres bieten als die Eeligionsphilosophie, welche nur wissenschaft-
liche und keine praktischen Zwecke kennt: die Rechtfertigung dieser
praktischen Zwecke der Dogmatik beruht auf der Voraussetzung, dass
entweder diese Beligion selbst die letzte und höchste bisher erreichte
Stufe des religiösen Bewusstseins repräsentire, oder dass doch der
Glaubensinhalt einer ihr überlegenen Stufe nur in ihrem Vorstellungs-
material und ihren Formeln adäquat darstellbar sei.
Sind diese Voraussetzungen richtig, so kann die Beligions-
philosophie die Dogmatik unbedingt nicht ersetzen; ihr Nutzen ist
alsdann darauf beschränkt, den Dogmatikern aller bestimmten
Beligionen Anregungen, Impulse und Beihilfen zur Fortentwickelung
ihrer betreffenden Dogmatiken zu gewähren und nur denjenigen
philosophisch gebildeten Menschen die Stelle einer Dogmatik zu er-
setzen, welche in keiner der gegebenen Beligionen mehr eine ihrem
religiösen Bedürfniss entsprechende Vorstellungswelt zu finden ver-
mögen. Sind aber jene Voraussetzi^ngen der Dogmatik nicht richtig
und selbst nur einem einseitigen dogmatischen Vorstellungskreis an-
gehörig, dann allerdings kann die Religionsphilosophie in stetig
wachsendem Maasse die Dogmatiken aller noch bestehenden Beligionen
ersetzen ; dann beruht das Becht des Fortbestehens dieser Dogmatiken
neben der Beligionsphilosophie nicht auf einer ideellen selbstständigen
Bedeutung, sondern lediglich auf einer realistischen Connivenz der Wissen-
schaft gegen die Bückständigkeit der breiteren Volksschichten hinter der
vorausgeeilten kulturtragenden Minderheit. Die Dogmatik kann alsdann
ihre Anknüpfung an die Vorstellungen und Formeln einer ideell über-
wundenen Beligionsstufe des religiösen Bewusstseins nur noch damit
zu rechtfertigen suchen, dass dieselbe, obzwar wissenschaftlich in-
adäquat, doch praktisch unenbehrlich sei, weil die ideell über-
wundene Beligionsstufe mit geschichtlichem Beharrungsvermögen noch
in der Masse des Volkes wurzele, und es Aufgabe der religiösen Lehrer
des Volkes sei, bei der religiösen Erziehung desselben an die dem reli-
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2. Die religiöse Fanktion als Gefühl. 27
giösen Gemeindebewnsstsein geläufigen Yorstellangen und Glaubenssätze
anzuknüpfen und von diesen aus das Volk ailmfthlicb zu den höheren
und reineren Ideen emporzuführen, welche ihren adäquaten Ausdruck
allerdings nur in den wissenschaftlich geläuterten Formeln der
Beligionsphilosophie finden können. Aus diesem Gesichtspunkt erscheint
dann die Dogmatik als religionsphilosophische Propädeutik
fQr die Geistlichen (und somit indirekt für das Volk), und das höchste
Ziel, dem die Dogmatik nachstreben kann, ist dann das, Krypto-
Keligionsphilosophie zu werden, d. h. alle Vorstellungen und Formeln
des überlieferten Dogmenkreises so umzudeuten, dass der Inhalt der
Beligionsphilosophie trotz ^ der unangemessenen dogmatischen Um-
hüllung möglichst getreu zur Darstellung gebracht wird.
Wie gross auch in geschichtlicher Hinsicht der propädeutische
Werth solcher mit sanfter Hand hinüberleitenden Dogmatik sein mag,
80 kann die Wissenschaft doch nicht anders, als die Unwissenschaft-
lichkeit derselben, soweit sie sich von der Religionsphilosophie unter-
scheidet, aufdecken; denn wie gross auch inhaltlich der religions-
philosophische Werth der in dieser Richtung sich bewegenden
Arbeiten sein mag, es ist und bleibt formell unwissenschaftlich:
erstens, dass sie ihre religionsphilosophischen Goldkörner in die
Schlacken dogmatischer Umhüllung verbergen, anstatt sie als
lauteres Metall darzubieten, und zweitens, dass sie den Dogmen einer
überwundenen Stufe des religiösen Bewusstseins geschichtswidrige und
vernunftwidrige Gewalt anthun, um sie zum Ausdruck der religions-
philosophischen Wahrheiten einer höheren Stufe brauchbar zu machen,
wozu dieselben doch der Natur der Sache nach auf keine Weise
wahrhaft brauchbar werden können. So gewiss demnach eine noch so
scharfsinnig im Einzelnen durchgeführte Dogmatik die Religions-
phüosophie zu ersetzen ausser Stande ist, so gewiss ist die Religions-
philosophie dazu berufen und befähigt, die Dogmatik allmählich in
immer weiteren und weiteren Kreisen zu ersetzen, und spätestens dann
ganz an deren Stelle zu treten, wenn die Dogmatik ihre historische
Aufgabe einer religionsphilosophischen Propädeutik in ausreichendem
Maasse erfüllt haben wird.
2. Die reUgiose Funktion als Gefühl.
Das religiöse Verhältniss braucht vorstellende Funktionen zu
seiner Ermöglichung, aber es besteht nicht selbst in solchen; die
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28 ^ I- ^^^ religiöse Funktion als einseitig menschliche.
eigentlichen ursprünglichen religiösen Punktionen setzen zwar eine
gewisse Vorstellungsthätigkeit voraus, aber sie gehen nicht in solcher
auf, sondern sind etwas der religiösen Weltanschauung gegenüber
Selbstständiges. In der religiösen Vorstellungsthätigkeit geht der
Mensch aus sich heraus, setzt er sich gegenüber diejenigen Vor-
stellungsobjekte, welche zur Anknüpfung eines religiösen Verhältnisses
geeignet sind ; nachdem er das gethan hat, entsteht erst die Aufgabe,
die Anknüpfung des religiösen Verhältnisses durch anderweitige
religiöse Funktionen wirklich zu vollziehen. Wenn ihm dies
gelingt, so kehrt er von dem vorstellungsmässigen Aussichherausgehen
zum religiösen Objekt wieder zurück zu sich selbst, aber ohne den
mit der Vorstellungsthätigkeit gesponnenen Faden zum religiösen
Objekt wieder fallen zu lassen. In der religiösen Funktion ist der
Mensch ganz bei sich selbst, hält er Sammlung und Einkehr im
innersten Kern seines Wesens, und er bleibt auch bei sich und in
sich, indem er Gott in sein Bewusstsein hineinzieht und sich zu ihm
in ein bestimmtes Verhältniss setzt. Die religiöse Funktion im
eigentlichsten Sinne ist daher auf demjenigen Gebiete psychischer
Thätigkeit zu suchen, wo der Mensch trotz aller Bethätigung nicht aus
sich herausgeht, sondern in sich und bei sich bleibt, d. h. im Gefühl.
Es ist seit Schleiermacher ein anerkannter Grundsatz, dass der
innerste und eigentliche Kern der Keligion im Gefühl zu suchen sei;
erst das Gefühl vermag der Religiosität im Gegensatz zu der frostigen
Kälte und Dürre des Intellektualismus Wärme und Innigkeit, im
Gegensatz zu dem trocknen und starren Rigorismus eines einseitigen
Moralismus Frische, individuelle Lebendigkeit und milde Weichheit
zu verleihen. Alle wesentlichen Momente des religiösen Processes ge-
stalten sich zu psychologischen Zuständen, die wir nur als Geftthle zu
bezeichnen vermögen ; die Demuth der Endlichkeit vor dem Unendlichen,
die Gottesfurcht, die der religiösen Weisheit Anfang ist, die Sehnsucht
des Herzens nach dem Göttlichen und seinem Besitz, diese folgen-
schwere Bewusstseinsresonanz des noch mehr oder minder unbewussten
religiösen Triebes, das gläubige Vertrauen auf Gott und die selbst-
verleugnende Hingebung der ganzen Persönlichkeit an ihn, die Qualen
des Schuldbewusstseins und der Reue, die Verzweiflung des gott-
entfremdeten und mit Gott zerfallenen Bewusstseins, das Empfinden
der von Gott gewährten Erlösung als einer wahren »Erlösung«, das
Durchkosten der tiefsten tragischen Erschütterung und der befreienden
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2. Die religiöse Fanktion als Oefähl. 29
Exhebmig, die Seligkeit der Versöhnung, die Gluthen der weltentrückten
Andacht und die innere Sabbathstille des Gottesfhedens, dies und
alles sonst noch zu Nennende sind ohne Zweifel nach psychologischer
Klassifikation Gefühle.
Das Geftthl zeigt uns die tiefsten Abgründe und die höchsten
Gipfelpunkte des religiösen Lebens und ist zugleich der feinste und
duftigste Parfüm desselben; an seiner specifischen Beschaffenheit,
wenn man Gelegenheit hat, in dieselbe einen Einblick zu erlangen,
erweist sich am leichtesten und unmittelbarsten die Hoheit oder
Niedrigkeit, die Vornehmheit oder Gemeinheit, die Einfalt oder
Baffinirtheit, die Lauterkeit oder Unlauterkeit, die Ehrlichkeit oder
Heuchelei der beanspruchten Religiosität. Im Gefühl vor Allem hat
die Religion ihr Leben, ihre innere persönliche Lebendigkeit, die von
eigenartig individueller Färbung unabtrennbar ist; es giebt keine
Stufe im religiösen Entwickelungsgang der Menschheit und keine
Phase im religiösen Entwickelungsgang des Einzelnen, in welcher das
Gefühl fehlte, in welcher es nicht die Hauptrolle für das innere
religiöse Leben spielte. Von dem ersten schüchtern tastenden Er-
wachen des religiösen Bewusstseins bis zu seiner vollendetsten Ent-
faltung und Durchbildung ist das Gefühl der innerlich maassgebende
Faktor; in der Beschaffenheit des religiösen Gefühls bekundet sich
am unmittelbarsten für das Bewusstsein die Beschaffenheit des
religiösen Bedürfnisses und darum ist das Gefühl das Bestinmiende
sowohl für die Beschaffenheit der vorstellungsmäesigen Voraussetzungen
des religiösen Verhältnisses als für diejenige seiner praktischen sitt-
lichen Folgen. Das Gefühl erscheint somit als die religiöse Grund-
funktion, aus welcher einerseits die religiöse Vorstellungsthätigkeit
und andrerseits die religiöse Willensthätigkeit ausstrahlt; setzt man
aber eine bereits vorhandene religiöse Weltanschauung voraus, so
erscheint das Geffihl als der empfängliche Spiegel, welcher die ein-
fallenden Lichtstrahlen der religiösen Vorstellung aufnimmt, verarbeitet
und umbiegt, so dass sie in bestimmter Richtung als Strahlen der
religiösen Willensthätigkeit wieder hinausgeworfen werden.
Hierbei läuft allerdings der psychologische Lrthum mit unter,
dass das Gefühl, die begleitende zuständliche Erscheinung oder die
passive Bewusstseinsresonanz der unbewussten psychischen Processe,
für den erzeugenden Grund der Produkte der letzteren gehalten wird;
indessen diese Verwechselung erscheint zunächst unwesentlich, insofern
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30 A. L Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
das bekannte Symptom die unbekannte tiefere Ursache für den Ge-
danken vertreten kann. Diese Verwechselung wird erst dann be-
denklich, wenn das OefQhl für sich allein als die das religiöse Ei^
scheinungsgebiet erschöpfende religiöse Funktion angesehen und
Vorstellung und Wille als ein accidentieller Appendix des Gefühls
bei Seite geschoben oder in dieses hineingepfiropft werden, welcher
eben wegen der Selbstverständlichkeit seiner Zugehörigkeit zum Gefahl
keiner besonderen Erwähnung mehr bedürfe. Sobald das GefQhl für
sich, ohne Bücksichten auf seinen untrennbaren Zusammenhang mit
Vorstellung und Wille und auf seine Wechselbeziehung zu diesen, als
die religiöse Funktion schlechtweg hingestellt wird, wird dadurch
die Kritik zur Elarlegung dieser Einseitigkeit und der aus ihr un-
vermeidlich entspringenden Gefahren heraus gefordert. Das (refohl
ist ja grade nur darum im Stande, einen bestimmten VorsteUungs-
kreis aus sich heraus zu projiciren und sich in eine bestimmte Art
von Willensbethätigung zu entäussem, weil es selbst unbewusster-
weise ein Produkt von unbewusster Vorstellungs- und Willensthätig-
keit ist; wird dies verkannt und die passive Zustftndlichkeit der
bewussten Begleiterscheinung jener genetischen unbewussten Processe
ftlr etwas Selbstständiges und Primäres angesehen, so wird auch
verkannt, dass die Wechsel-Beziehungen des Gefühls zu den bewussten
religiösen Vorstellungen und Willensrichtungen nur Folgeerscheinungen
der unbewussten Genesis des Gefühls sind, und andrerseits wird die ver-
schwommene Passivität des Gefühls als solchen auf den Thron erhoben,
also die Beligiosität ihrer präcisen Bestimmtheit und Energie beraubt
Das GefQhl für sich allein genommen und in seiner Isolirung
betrachtet ist weder wahr noch unwahr, weder gut noch schlecht; es
ist eine einfache Thatsache des Seelenlebens, deren Thatsächlichkeit
empirisch konstatirt wird. Wahr oder unwahr kann ein Gefühl nur
genannt werden, insofern seine Existenz bedingt ist durch eine wahre
oder unwahre Vorstellung, — gut oder schlecht nur, insofern eine
gute oder schlechte Willensrichtung mit demselben unabtrennbar
verknüpft ist; beides sind also erst mittelbar erworbene Prädikate des
Gefühls, die lediglich an seinen wesentlichen Beziehungen zur Vor-
stellung und zum Willen haften und abgesehen von diesen Beziehungen
jeden Sinn verlieren. Darin liegt schon ausgesprochen, dass die
Qualifikation der Gefühle, ihre Werthbemessung hinsichtlich der
Wahrheit und Güte unmöglich wird, wo das GefOhl in selbstständiger
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2. Die religiöse Fimktion als Gefüh). 31
Isolirung als religiöse Fanktion aufgestellt wird; nnd doch kann erst
eine solche Werthbemessung nach Wahrheit und Güte eine Sonderung
und Ausscheidung der zur Religion gehörigen Gefühle aus der breiten
Masse der irreligiösen und antireligiösen Gefühle ermöglichen. Denn
das wird man doch nicht vertheidigen können, dass jedes Gefühl,
auch das gemeinste und niedrigste, bloss darum, weil es Gefühl sei,
auch schon religiöse Funktion sei, und doch bietet der einseitige
Gefühlsstaudpunkt, welcher die Maasstäbe für die Qualifikation der
Gefühle beseitigt, kaum einen Ausweg vor dieser extremen Folgerung.
Wer darauf hinweist, dass das Gefühl in sich selbst seinen eigenen
Maassstab trage, der sagt damit zwar etwas psychologisch ganz
richtiges, aber er yergisst, dass man nur darum bei edlen, erhabenen
und reinen Gefühlen ein begleitendes Gefühl ihres Werthes, bei ge-
meinen niedrigen und unlauteren Gefühlen ein begleitendes Gefühl
ihres ünwerthes haben kann, weil die Gefühle in abgekürzter Gestalt
den Niederschlag der ganzen vom Individuum in sich aufgenommenen
nnd assimilirten Gedankenwelt sammt allen darin vorkommenden
Vorstellungen über Werth und Unwerth in sich aufgenommen haben,
dass man also auf den Yorstellungsinhalt dieser Gedankenwelt näher
eingehen muss, um explicite, klar und deutlich zu erkennen, was das
Gefühl implicite, dumpf und unbestimmt in sich trägt.
Wenn Schleiermacher in den ersten beiden Auflagen seiner
»Beden über die Religion« neben dem Gefühl noch die Anschauung
als religiöse Funktion festgehalten hatte, freilich ohne die Beziehung
beider zu einander zu bestimmen, so beschrankte er sich später auf
die Aufstellung des Gefühls als religiöser Funktion, indem er die An-
schauung, d. h. die primitivste Form der Vorstellung, unvermerkt in
das Gefühl mit hineinstopfte. Durch solche Zusanunenfassung ver-
schiedener Funktionen unter dem Namen von einer derselben wird
natürlich das Problem ihrer Wechselbeziehungen nicht gelöst, sondern
in unwissenschaftlicher Weise verschleiert; giebt man aber einmal
diese Häufung disparater Dinge unter einem Namen zu, so gewinnt
allerdings der Gefühlsstandpunkt das Becht^ von der Wahrheit oder
Unwahrheit der Gefühle zu reden, insofern sie wahre oder unwahre
Vorstellungen zum Inhalt haben. Aber ganz verkehrt ist es dann,
jedes Gefühl schon darum, weil es Gefühl ist, für wahr zu erklären,
d. h. jede Vorstellung für wahr auszugeben, insofern sie als inte-
grirender Bestandtheil eines Gefühls aufzutreten scheint ; einer solchen
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32 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
Schleiermacliersclien TJe|)erspaniiiing gegenüber ist die Hegelsche
Kritik*) im vollen Becht, welche darauf hinweist, dass das Gefühl
ebenso das Gemeinste und Schlechteste wie das Edelste und Beste
zum Inhalt haben kOnne, und dass die dumpfe Unklarheit eines noch
nicht einmal zu vorstellungsmässiger Selbstständigkeit hinausprojicirten
intuitiven Gefühlsinhaltes unmöglich den Anspruch erheben könne,
die höheren, durchgebildeten und abgeklärten Formen der Vorstellungs-
sphäre in Betreff ihres Wahrheitsgehaltes zu meistern. Wenn alle
Gefühle und aller Gefühlsinhalt als solche wahr sind, dann ist es
ebenso unmöglich, die religiösen Gefühle aus der Masse der übrigen
auszusondern, als wenn das Prädikat der Wahrheit auf das Gefühl
gar keine Anwendung findet; darum ist auch Schleiermacher kaum
im Stande, der Klippe auszuweichen, dass jedes Gefühl als solches
eo ipso religiöse Funktion sei.
Wie wahr es auch sein mag, dass das religiöse Gefühl den
innersten Kern des religiösen Lebens bilde, so ist doch ein wahrhaft
religiöses Gefühl nur dasjenige, welches durch religiöse Vorstellungen
von objektivem (wenn auch nur relativem) Wahrheitswerth angeregt
wird. Die Beligion kann nicht bestehen ohne religiöse Weltanschauung
und diese nicht ohne die TJeberzeugung von ihrer transcendentalen
Wahrheit ; durch ihren Gehalt an religiöser Weltanschauung ist darum
allezeit die Religion für den Kreis ihrer Gläubigen der Inbegriff der
objektiven Wahrheit, wenigstens soweit dieselbe für den Menschen
von praktischer Wichtigkeit ist. Wo die religiöse Weltanschauung
mit der theoretischen noch nicht in Konflikt gekonmien, oder bereits
wieder zur Harmonie gelangt ist, da enthält die Religion denjenigen
Ausschnitt der theoretischen Wahrheit, welcher für den Menschen
praktische Bedeutung besitzt; wo ein ungelöster Konflikt zwischen
beiden besteht, da pflegt sich doch die Masse des Volkes, welches
die Wahrheit der theoretischen Weltanschauung selten zu prüfen im
Stande ist, an die ihm wichtigere Wahrheit der religiösen Welt-
anschauung zu halten, wenigstens so lange, als die bestimmte Religion
noch ungebrochene Lebenskraft besitzt. So wenig eine Religion,
welche intellektualistisch zu religiöser Weltanschauung vertrocknet,
auf die Dauer im Stande ist, das religiöse Leben zu erhalten und zu
fördern, ebensowenig ist eine Religion, welche einseitig das innere
*) Hegels s. Werke Bd. XI. S. 121—134.
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2. Die religiöse Sanktion als Gefühl. 33
Gefohlsleben betont, im Stande, dem Volke die Wahrheit zu bieten,
welche es mit Recht von seiner Religion verlangt.
Um zum Inbegriff der Wahrheit zu werden, müssen die vor-
stellungsmässigen Voraussetzungen der religiösen Gefühle aus der
dumpfen unklaren Befangenheit im Gefühl herausgehoben, auf einander
bezogen und in systematischen Zusammenhang gebracht, mit einem
Wort zur religiösen Weltanschauung entwickelt und durchgebildet
werden; erst in .dieser abgeklärten Ausgestaltung vermögen sie das-
jenige Maximum von religiöser Motivationskraft zu entfalten, dessen
sie überhaupt fähig sind. Wie eine Vorstellung erst dadurch zur
religiösen Vorstellung wird, dass sie sich als motivationskräftig zur
Erregung eines religiösen Gefühls erweist, so wird ein Gefühl nur
dadurch zum religiösen Geftlhl, dass es sich auf eine Vorstellung von
bestimmtem Inhalt bezieht, nämlich auf eine solche, welche geeignet
ist, Objekt eines religiösen Verhältnisses zu werden, oder welche doch
zum Objekt eines religiösen Verhältnisses in engster Beziehung steht.
Nur durch feste und klare Beziehungen des Gefühls auf deutliche
und bestimmte religiöse Vorstellungen wird dasselbe davor geschützt,
dass die ihm psychologisch anhaftende Unbestimmtheit seines eigen-
thümlichen Anschauungs- und Vorstellungsgehaltes zu völlig haltloser
Verschwommenheit fortschreitet, wenn immer nur Gefühle auf Gefühle
bezogen werden und ein Gefühl das andere ablöst.
Lospräparirt von dem sicheren Boden einer bestimmten religiösen
Weltanschauung verdämmert dajs religiöse Gefühlsleben in träume-
rische Nebelhaftigkeit, und seine Gestalt zerfliesst, wie die Phantasie-
gestalten des sturmgepeitschten Wolkenhimmels rastlos in einander
übergehen. Wie die Phantasie verschiedener Beschauer in derselben
Wolke bald einen Sarg, bald einen Walfisch, bald einen Berg, bald
einen Altar u. s.w. sieht, so auch deutet die Phantasie verschiedener
Menschen den unbestimmten Anschauungsgehalt desselben religiösen
Gefühls ganz verschieden; wer unter Abstraktion von der religiösen
Weltanschauung die Religion auf das Gefühl beschränken will, der
schraubt damit das religiöse Bewusstsein auf jenen urwüchsigen Stand-
punkt zurück, auf welchem es sich befand, bevor aus der Mannig-
faltigkeit phantastischer Deutungen durch die vereinte Selektionsarbeit
AUer feste Vorstellungen erarbeitet wurden. Wer aber das nicht
will, der liest aus seinem Gefühl, wie er es durch die Vererbung von
reUgiös-entwickelten Eltern überkommen und durch religiöse Erziehung
y. Hartmann, Die Beligion des Geistes. 3
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34 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
ausgebildet hat, alles dasjenige von religiösem Vorstellungegehalt
heraus, was ihm nach der Gestalt seines persönlichen religiösen Be-
dürfnisses und seiner theoretischen Bildung zur Konstituirung einer
religiösen Weltanschauung erforderlich scheint. Hiermit thut er aber
weiter nichts, als dass er den phylogenetischen Entwickelungsgang
der Religion überspringt und sich mit dem Ergebniss seines indi-
viduellen ontogenetischen Entwickelungsganges begnügt.
Dies wäre nun insofern erträglich, als jeder ontogenetische Ent-
wickelungsgang eine abgekürzte Bekapitulation des phylogenetischen
Entwickelungsganges seiner direkten Ahnenreihe darstellt; bedenklich
aber wird dieses Verfahren darum, weil jede solche individuelle Be-
kapitulation keine rein objektive, sondern eine subjektiv gefärbte ist.
Es wird also einerseits von den sich darbietenden Hilfsmitteln zur
Fixirung einer objektiv wahren religiösen Weltanschauung kein
Gebrauch gemacht, andrerseits aber auch nicht auf die Aufstellung
einer solchen verzichtet, sondern diese lediglich aus dem dunkeln und
getrübten Brunnen der individuellen Subjektivität des Gefühls heraus-
gepumpt und dessen ungeachtet der Anspruch auf objektive Wahrheit
des so zu Tage Geförderten aufrecht erhalten. Dagegen ist entschieden
Protest einzulegen und daran zu erinnern, dass das Gefühl recht
eigentlich die Sphäre der zuföUigen Besonderheit, der individuell ab-
geschlossenen Partikularität ist, dass, wie Hegel sagt,*) mit dem
Appelliren an das eigene Gefühl die Gemeinschaft unter uns abgerissen
ist. Auf dem Boden des Gedankens gilt die Vernunft, welche das
uns allen Gemeinsame ist, gelten die vernünftigen Gründe als Mittel
zur Beseitigung von Meinungsverschiedenheiten; wer sich dagegen auf
sein Gefühl beruft, thut es gewöhnlich, weil ihm die Gründe aus-
gegangen sind, und schneidet damit die Möglichkeit gemeinsamer
Verständigung ab. So lange die Religion das Streben nach Gemein-
schaft der Gläubigen festhält, so lange muss sie auch an einer
objektiven gemeinsamen Basis festhalten, d. h. an einer objektiv wahren
religiösen Weltanschauung; sie darf dem Gefühl wohl den Spielraum
zur Entfaltung inviduellen religiösen Lebens gönnen, aber nicht ein
Princip gutheissen, welches den gesammten Raum der Religion als
Spielraum der subjektiven Gefühlswillkür in Anspruch nimmt, anstatt
*) S. Werke XI. S. 127 und 133.
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2. Die religiöse Funktion als Gefühl. 35
sich dem objektiven Kegulator des vernünftigen Denkens unter-
zuordnen. —
Das verselbstständigte religiöse Gefühl kann sich in dreifacher
Eichtang entfalten, in sinnlicher, ästhetischer und mystischer. — Die
nachstKegende Gestaltung des religiösen Gefühls ist offenbar die sinn-
liche, schon deshalb, weil die Sinnlichkeit dem geistig ungebildeten
Menschen nicht fehlt und auch im gebildeten nur zu oft dominirt.
Dass das religiöse Gefühl in der Naturreligion noch stark sinnlich
gefärbt, wo nicht ganz und gar sinnlich ist, bedarf keines Beweises,
aber auch in den supranaturalistischen Religionen spielt die Sinnlich-
keit eine bedeutende Bolle. Soweit das religiöse Verhältniss auf
eudämonistischer Basis steht und selbst in der Volksauffassung höherer
Eeligionen stehen gebUeben ist, liegt der sinnliche Charakter des
religiösen Gefühls auf der Hand ; das Gefühl hat nämlicl; in diesem
Falle grade insoweit einen sinnlichen Inhalt, als die eudämonistischen
Wünsche des Menschen, zu deren Erfüllung ihm die Gottheit behilflich
sein soll, selbst noch sinnlicher Natur sind, und wer könnte zweifeln,
dass dies auch heute noch bei der Mehrzahl aller Frommen in ganz
überwiegendem Maasse der Fall ist.
Aber auch in formeller Hinsicht und ganz abgesehen von dem
sinnlich eudämonistischen Rest im religiösen Verhältniss kann man
sagen, dass alle, auch die im engeren Sinne geistigen Gefühle eine
sinnliehe Beimischung haben, welche mit dem Erregungsgrad des
Gefühls wächst. Die erhabenen Schauer der Andacht, die herz-
zermalmende Zerknirschung der Reue, das mitleidende Versenken in
das Martyrium eines sterbenden Gottes, die zerschmelzende Seligkeit
in dem Durchbruch der erlösenden Gnade, die himmelhoch jauchzende
Verzückung im Genuss der Versöhnung, die höchsten Liebeswonnen
im Bewusstsein des Besitzes der Liebe des geliebten Gottes — das
alles sind Gefühle, die ohne sinnliche Beimischung gar nicht denkbar
sind, und in welchen die begleitenden sinnlichen Empfindungen einen
ganz wesentUchen und unabtrennbaren Bestandtheil des Gefühls
bilden. Bleibt der geistige Gehalt des Gefühls von dieser Bei-
mischung ungeschädigt, so ist gegen dieselbe auch gar nichts ein-
zuwenden, da wir als geistig-sinnliche Wesen unsere natürliche Sinn-
lichkeit ebenso wenig abstreifen können, als wir uns derselben zu
schämen haben. Aber woher soll das Gefühl die Mittel nehmen, um
den geistigen und den sinnlichen Faktor in seinem Inhalt zu unter-
3*
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36 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
scheiden, den geistigen Gehalt zu schützen and vor TJeherwucherung
durch den sinnlichen zu wahren? Dazu müsste das Gefühl selbst
Intellekt besitzen, oder den Intellek:t ersetzen können.
Das Gefühl hält sich im Qegentheil an die Erfahrung, dass der
sinnUche Faktor mit dem Erregungsgrade des Gefühls steigt, dass
also das religiöse Gefühl relativ um so sinnlicher wird, je kräftiger
und mächtiger es sich entfaltet; wie nahe liegt da nicht die üm-
kehrung, dass man die grössere Eräftigkeit des religiösen Gefühls zu
befördern sucht durch Pflege und Stärkung seines sinnlichen Bestand-
theils? Die Geschichte lehrt, dass eine einseitig das Gefühl betonende
Keligiosität immer auf diesen Abweg gerathen ist. Ich erinnere hier
nur an die Verwandtschaft zwischem religiösem Mitleid und Grausam-
keitswollust, so wie zwischen religiöser Liebe und Geschlechtsliebe;
wie erstere sich in der pietistischen Schwelgerei in Christi Blut und
Wunden oder in den dionysischen Orgien der Manaden kundgiebt, so
die letztere in dem Bestreben der Frommen, wo möglich ein Wesen
entgegengesetzten Geschlechts zum Objekt des religiösen Liebes-
verhältnisses zu gewinnen (Madonnenkultus der Ritter und Mönche,
Himmelsbräutigam der Nonnen). Solche Extreme werden mit Recht
als pathologische Vertrrungen des religiösen Gefühls gebrandmarkt;
aber es kommt eben darauf an, zu erkennen, dass das isolirte religiöse
Gefühl in sich selbst keinen Regulator besitzt, um sich vor Aus-
schreitungen zu schützen, zu welchen es die Tendenz unzweifelhaft in
seiner eigenen Natur trägt. Auch wo es gelingt, sich vor Extremen
der Versinnlichung zu hüten, wird es doch kaum zu vermeiden sein,
dass in der Gefahlsrcligion den sinnlichen Beimischungen stark erregter
Gefühle ein Werth beigelegt und eine Pflege gewidmet wird, die ihnen
aus dem Gesichtspunkt einer geistigen Religion nicht gebühren.' —
Die zweite Gestalt, welche das religiöse Gefahl annimmt, ist das
ästhetische Gefühl; auf dieses passen die Vorwürfe nicht mehr, welche
man gegen das sinnliche religiöse Gefühl richten kann und muss,
denn dasselbe ist in einem Maasse vergeistigt, welches der Sinnlichkeit
in der ästhetischen Anschauung und Empfindung nur einen Spielraum
von massiger Weite gestattet. Wenn sich sinnliche Gefühle im
engeren Sinne mit ästhetischen mischen, so bleiben doch die letzteren
derart im üebergewicht, dass sie die ersteren selbst in eine höhere
und geistigere Sphäre hinaufheben ; so z. B. wenn in einem katholischen
Dome die kühle und doch schwüle Luft, der sinnbenebelnde Weihrauch-
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2. Die religiöse Funktion als Gefühl. 37
duft, das dämmerige, durch bunte Fenster in allen Farben gebrochene
Halbdunkel, die Erhabenheit der unermesslich aufstrebenden Pfeiler
und Gewölbe, die gedämpfte Musikbegleitung und die Heiligkeit der
Handlung zusammenwirken, um süsse andächtige Schauer in den
Frommen hervorzurufen, so wird doch das Ensemble der darin mit-
klingenden sinnlichen Gefühle schon durch das ästhetische Gefühl der
Erhabenheit derart geadelt und gehoben, dass sie das religiöse Gefühl
nicht mehr mit Herabziehung in die sinnliche Sphäre bedrohen.
Die ästhetischen religiösen Gefühle erschliessen überhaupt erst die
Sphäre des religiösen Gefühls für viele Menschen, welche weder durch
die Gewohnheit der Erziehung in dieselbe eingeführt sind, noch von
intellektueller Seite her in dieselbe einzudringen vermochten; sie
dienen als ein propädeutisches Hilfsmittel zur religiösen Propaganda.
Es ist bekannt, wie sehr der Gemeindegesang zur Ausbreitung der
Keformation beigetragen hat und wie sehr die neueren TJebertritte
zum Katholicismus von dem' ästhetisch überlegenen Eindruck des
katholischen Kultus über den protestantischen mitbedingt sind. Aber
auch solche Personen, welche der Eeligion bereits gewonnen sind,
haben doch nöthig, ihr religiöses Gefühlsleben zu üben, um es zu
stärken, durch Gewöhnung zu befestigen und durch Ausbildung zu
verfeinern; es kommt darauf an, die ßeaktionsempfindlichkeit des
religiösen Gefühls auf religiöse Vorstellungen zu steigern, damit das-
selbe schon auf schwächere Motive anspricht und auf stärkere Motive
desto stärker reagirt. Die Feinheit in der Durchbildung des religiösen
Gefühls besteht wesentlich darin, dass bei gemischten Vorstellungen
das Gefühl nicht nur auf die stärker motivirenden, sondern auch auf
die schwächer motivirenden unter denselben reagirt und dadurch ein
Gefühlsensemble von komplicirterer Mischung entsteht, in welcher die
stärkeren Grundtöne von leiser mitklingenden Obertönen begleitet
sind; auf diese Weise ergiebt sich die Mannigfaltigkeit der Klang-
farben und der individuellen Nuancirungen im religiösen Gefühl, auf
welchen zugleich die specifische Eigenart und persönlich gefärbte
Lebendigkeit der Religiosität beruht. Dies alles aber verlangt eine
besondere Pflege des religiösen Gefühls zum Zweck seiner üebung
und Durchbildung, und nichts scheint geeigneter für diese Pflege,
namentlich nach Seiten der Verfeinerung, als die ästhetische Kultivirung
der Religion.
Deshalb ist der Werth des Ssthetischen religiösen Gefühls keines-
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38 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
wegs gering anzusehlagen. Namentlich in solchen Zeiten, wo durch
ungelöste Konflikte zwischen religiöser und theoretischer Welt-
anschauung die gehildeten Bestandtheile der Gesellschaft sich von
einer intellektuellen Behandlung der Beligion abgestossen fühlen, ist
das ästhetische religiöse Gefühl ganz geeignet, den vorläufig nicht zu
beseitigenden Konflikt wenigstens zu verschleiern; das religiöse Gefühl
findet auf dem ästhetischen Gebiet gleichsam einen neutralen Boden,
wo es die Widersprüche, die in der intellektuellen Behandlung der
Religion in grelle Beleuchtung treten, mit dem dair obscur seiner
Unbestimmtheit verdunkeln und dem religiösen Bedürfniss in glück-
licher Vergessenheit der intellektuellen Aporien zeitweilige Anerkennung
und Befriedigung gewähren darf. Darum ist es charakteristisch für
die Zeiten des unaufhaltsamen Verfalls einer bestimmten Religion,
dass die religiöse Kunstübung und Kunstpflege in ihnen blüht wie
unter keinen andern Verhältnissen, während das schöpferische Ver-
mögen zur Hervorbringung religiöser Kunstwerke von schlichter Grösse
und wahrhafter Tiefe mit der ungetrübten Zuversicht und un-
erschütterten Kraft des Glaubens erloschen ist. Niemals ist z. B. die
klassische Kirchenmusik eifriger und hingebender gepflegt worden, als
es heut in unsrer unkirchlichen Zeit und zwar grade von den un-
kirchlichen, vom Unglauben durchdrungenen Ständen geschieht.
Für den oberflächlichen Beobachter liegt darin ein Widerspruch,
während dem tiefer eindringenden Blick sich der nothwendige Zu-
sammenhang enthüllt; das religiöse Bedürfniss bekundet beim Verfall
der herrschenden Religion grade dadurch seine Lebendigkeit, dass es
sich in Ermangelung einer mit dem theoretischen Zeitbewusstsein
verträglichen religiösen Weltanschauung in das romantische Nebelreich
flüchtet und im ästhetischen Gefühl seine Befriedigung sucht. Die
Vertreter der Religion haben also ebenso Recht, diese Thatsache zum
Beweise für die Unverwüstlichkeit des religiösen Gefühls anzuführen,
als sie irre gehen, wenn sie durch dieselbe ihre Behauptung einer
noch ungebrochenen Lebenskraft und Lebensfähigkeit der betrefiTenden
bestimmten Religion stützen zu können glauben.
Ein solcher Antagonismus zwischen unmittelbarer Glaubenskraft
und ästhetischer Kultivirung religiöser Gefühle giebt immerhin zu
denken, ob es nicht doch mit dem ästhetischen religiösen Gefühl seine
Bedenken habe, wenn dieselben auch auf anderer Seite liegen als
beim sinnlichen religiösen Gefühl. Es zeugt gewiss nur von über-
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2. Die religiöse Funktion als Gefühl. 39
schfissiger Energie religiöser Lebenskraft, wenn dieselbe schöpferisch
in Produktionen der religiösen Kunst hinausströmt; aber es zeugt von
von einem Versiegen der naturgemässen realen Quellen zur Be-
friedigung des religiösen Bedürfnisses, wenn das letztere sich in die
impotente reproduktive Pflege der religiösen Kunst flüchtet. Es zeugt
von einem Fortschritt, einer Vertiefung der Einkehr bei sich selbst,
wenn eine wesentlich ästhetische Weltanschauung (wie z. B. die der
Romantiker) den üebergang von der Kunst zur Religion, die Steigerung
des ästhetischen zum religiösen Gefilhls in irgendwelcher Gestalt
anstrebt*); aber es zeugt von einem Erlahmen und Erschlaffen, kurz
von Verfall, wenn die Religion sich zum ästhetischen religiösen Ge-
fühl herabschraubt, oder gar in religiöse Kunstübung verflüchtigt.
Die Religion ist Leben, die Kunst ist Abbild des Lebens; die
Religion giebt und fordet lebendige Wirküchkeit, die Kunst bietet an
Stelle der Wirklichkeit den «ästhetischen Schein». Die religiöse An-
schauung setzt nothwendig ihre eigene transcendentale Wahrheit,
d. h. die transceudente Realität ihres Objektes voraus; die ästhetische
Anschauung hat es nur mit dem hypothetischen Bilde einer möglichen
Wirklichkeit zu thuu und ihre realistische Wahrheit beruht nur
darin, dass die Phantasievorstellung den Bedingungen der Wirklich-
keit konform sei. Das religiöse Gefühl ist demnach ein durch wahre
Vorstellungen motivirtes und darum reales Gefühl, das ästhetische
Gefühl ist hingegen ein durch den idealen Schein einer bloss möglichen
Wirklichkeit motivirtes und darum rein ideales Gefühl. Im religiösen
Gefühl lebt und webt der Mensch als in emer Realität gleich den
übrigen realen Momenten des menschlichen Gefühlslebens; im
ästhetischen Gefühl hingegen spielt er mit dem idealen Bilde (der
Anempfindung) derjenigen idealen Gefühle, welche er voraussichtlich
haben würde, wenn die Schein-Objekte der ästhetischen Anschauung
ihm als reale Objekte einer wahren Anschauung gegenübertreten
würden. Darum ist die Religion ein ernstes Leben in den realsten
Gefühlen, der Kunstgenuss ein heiteres Spiel mit idealen Gefuhls-
*) So z. B. die katholisirende Tendenz der romantischen Dichter, die Schluss-
wendung der romantischen Philosophen theils zum Christenthume (wie Fichte,
Schelling und Hegel), theils zur indischen Religion (wie Schopenhauer) und
endlich die der romantischen Musiker theils zum katholisirenden Oratorium
(wie Lißzt), theils zur religiösen Ti'agik des germanischen Heidenthums (wie
R. Wagner).
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40 A. I. Die religiöse FiiDktion als einseitig menschliche.
bildern, relativ heiter auch da, wo die ernstesten Gefühle im
ästhetischen Schein wiedergespiegelt werden.
Aus diesen Unterschieden ergiebt sich zunächst nur, dass das
ästhetische religiöse Gefühl kein wahres und ernstes religiöses Gefühl
ist, dass es das letztere durch Erziehung der religiösen Gefühlsanlagen
wohl propädeutisch unterstützen, aber niemals ersetzen kann. Die
ästhetischen religiösen Gefühle haben ihren selbstständigen Werth
neben den eigentlichen religiösen Gefühlen und verdienen die ihnen
gewidmete Pflege sowohl um ihrer selbst willen (als Gipfelpunkt der
ästhetischen Gefühle überhaupt) wie auch wegen ihres propädeutischen
Werthes für die Keligion; aber wenn sie gepflegt werden mit dem
Anspruch, das religiöse Leben als solches zu ersetzen oder seine
höchste und verfeinertste Gestalt darzustellen, dann zeugt dies von
einer BegrifFsverwechselung, welche für die Religion unheilvoll werden
muss. Das Spiel mit ästhetisch anempfundenen religiösen Gefühlen
kann nämlich einen mittelbaren religiösen Werth grade nur in soweit
haben, als es den Menschen dazu vorbereitet, in seinem religiösen
Leben diese Gefühle um so ernster, tiefer und feiner zu produciren;
d. h. sein religiöser Werth hängt davon ab, dass der betreffende
Mensch wirklich noch ein ernstes religiöses Leben besitzt, und dies
hängt wieder davon ab, dass die religiösen Vorstellungen, auf deren
ästhetischen Schein er mit religiöser Anempfindung* reagiren gelernt
hat, ihm zu andrer Zeit mit der Glaubenskraft transcendentaler Wahr-
heit entgegentreten. Wo dagegen die Menschen sich deshalb in das
auf ästhetischen Schein gebaute Spiel mit religiösen Anempfindungen
flüchten, weil ihnen der Glaube an die transcendentale Wahrheit der
religiösen Vorstellungen abhanden gekommen ist, da hört diese Mög-
lichkeit auf, und mit ihr entschwindet auch der propädeutische religiöse
Werth der ästhetischen religiösen Gefühle, wenigstens für die lebende
Generation. Wo ein religiöses Leben zwar noch nicht ganz aufgehört
hat, aber doch durch den erschütterten Glauben bereits gelitten hat,
da wird die Gewöhnung an die Verwechselung von religiösem Ernst
und ästhetischem Spiel nothwendig dahin drängen, auch den noch
verbliebenen Eest religiösen Ernstes in ein Spiel mit ästhetischen
Anempfindungen aufzulösen ; der ästhetische Schein wird alsdann dazu
gemissbraucht, die mangelnde Glaubenfswahrheit zu ersetzen, die aus
äusseren Gründen etwa fortgesetzte Betheiligung am reügiösen
Gemeindeleben mit dem Schleier jener Verwechselung zu umhüllen
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2. Die religiöse Funktion als Gefahl. 41
und dem zur theatralischen Komödie herabgesunkenen religiösen Leben
den Vorwurf der Heuchelei zu ersparen, den es nach Aufdeckung jener
Verwechselung verdienen würde.
Wenn man sonst bei dem ästhetischen Schein von der ästhetischen
«Wahrheit» spricht, so meint man, wie oben bemerkt, die Konformität
desselben mit den Bedingungen der Wirklichkeit, welche eine Möglich-
keit desselben im transcendentalen Sinne einschliesst. Bei der
ästhetischen Anschauung auf dem Gebiete der religiösen Kunst ist
man hingegen nicht mehr in der Lage, die ästhetische «Wahrheit»
auf eine -— wenn auch nur mögliche — transcendente Realität zu
beziehen, sondern man hat sich mit einer phänomenologischen Realität
zu begnügen. Wenn ich die Statue eines sterbenden Fechters be-
trachte, so sehe ich deren Wahrheit darin, dass ein Fechter im
Sterben wirklich diese Stellung und diesen Ausdruck annehmen
könnte, wenn auch noch niemals ein wirklicher Fechter ihn bisher
genau so angenommen hat; es besteht hier eine Uebereinstimmung
mit den Bedingungen der transcendenten Realität, d. h. des Fechtens
und Fallens wirklicher lebender Menschen. Wenn ich dagegen die
Statue des olympischen Zeus betrachte, so kann die ästhetische
Wahrheit derselben nicht mehr darin gesucht werden, dass der
Hinmiels- und Gewitter-Gott als transcendente Realität so aussehen
könnte, obzwar er vielleicht nicht genau so aussehen mag; sondern
die Wahrheit des Kunstwerkes besteht nur noch darin, dass es die
typische ideale Darstellung der religiösen Anschauungen und Vor-
stellungen ist, welche das Hellenenvolk zur Zeit des Phidias sich
thatsächlich von dem Aussehen des Himmels- und Gewittergottes
gemacht hat. Ebenso besteht die Wahrheit eines Christusbildes,
eines Madonnenbildes, oder einer Bachschen Kirchenmusik nicht
darin, dass Christus als lebender oder auferstandener Jesus wirklich
so ausgesehen hat, dass seine Mutter diese Züge und diesen Ausdruck
getragen hat, oder dass etwa die Engel im Himmel vor Gott ihre
Kantaten nach dieser Partitur exekutiren, sondern darin, dass diese
Bilder und Gesänge den treuen Ausdruck des thatsächlichen Inhalts
des religiösen Gemeindebewusstseins einer bestimmten katholischen
oder evangelischen Epoche bilden.
Die historische Fakticität völkerpsychologischer Bewusstseins-
phänomene ist die Sphäre der Wirklichkeit, nach welcher die «Wahr-
heit» religiöser Kunstwerke sich bemisst, und grade unsere Zeit
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42 ^' I- I^io religiöse Funktion als einseitig menschliche.
historischen Verständnisses und Anempfindens ist so bereit, sich mit
dieser phänomenologischen Wahrheit in der ästhetischen religiösen
Anschauung zu begnügen, dass die transcendentale ästhetische Wahr-
heit im Sinne einer realistischen Kunst dabei gar nicht mehr in
Betracht kommt. Man kultivirt die christliche Kunst vergangener
Zeiten grade darum jetzt mit ebenso viel und noch grösserem Eifer
wie die heidnische, weil man objektiv und historisch genug denken
gelernt hat, um an dem Mangel transeendentaler Wahrheit keinen
Anstoss mehr zu nehmen und sich mit liebevollem Verständniss in
religiöse Gefühle früherer Epochen ästhetisch anempfindend zu ver-
senken. Weit entfernt, ein positives Verhältniss zu dem religiösen
Inhalt der christlichen Kunst zu bekunden, beweist die eifrige und
genussreiche Pflege derselben von Seiten der heutigen Gebildeten
vielmehr eine so grosse Entfremdung und Ferne von diesem
lebendigen religiösen Gehalt, dass jede Neigung zur Opposition gegen
die sich an ihn heftende Kunst bereits geschwunden ist und einer
objektiven historisch-ästhetischen Würdigung Raum gegeben hat.
Wer Heiligenbilder seiner eigenen Kirche nur mit denselben religiös-
ästhetischen Empfindungen betrachtet wie heidnische Götterstatuen,
wer heute ein Bachsches oder Händelsches Oratorium und morgen die
Wagnersche Götterdämmerung mit der gleichen Andacht hört, der
muss eben daran sich klar werden, dass das ästhetische religiöse
Gefühl nichts weiter als ein Spiel mit ästhetischen Anempfindungen
ist, wie sie durch den ästhetischen Schein hervorgerufen werden, aber
nicht mehr ein ernstes religiöses Leben, das ohne den Glauben
an die transcendentale Wahrheit der es motivirenden Anschauungen
unmöglich ist.
Hieraus lässt sich nun der Schluss ziehen, dass man zwar die
selbstständige Pflege der religiösen Kunst zu beschränken von Seiten
der Religion keine Ursache hat, vielmehr dieselbe als ein schätzbares
Surrogat der zeitweilig abhanden gekommenen Bedingungen zu wahrem
religiösem Leben und als propädeutisches Hilfsmittel des vorhandenen
religiösen Lebens unterstützen darf und muss, dass man hingegen
sich hüten soll, die Verwechselung von ernstem Leben in religiösen
Gefühlen und ästhetischem Spiel mit religiösen Gefühlen zu unter-
stützen. Diese Verwechselung hat vielmehr der wahre Freund der
Religion theoretisch wie praktisch zu bekämpfen; die praktische Be-
kämpfung wird vornehmlich darin zu suchen sein, dass man die
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2. Die religiöse Funktion als Gefühl. 43
Mischung ernster religiöser und ästhetisch-religiöser Gefühle vermeidet,
d. h. beim Gottesdienst nur auf die Erregung ernster religiöser Ge-
fühle abzielt. Mit anderen Worten: die selbstständige Pflege der
religiösen Kunst ist zwar zu unterstützen, aber die religiöse Kunst-
pflege im Gottesdienst unbedingt zu verwerfen. Ihren Dienst
als Lockvogel für die Religion kann und soll die religiöse Kunst
ausserhalb des Gottesdienstes erfüllen ; diejenigen, für welche sie diesen
Zweck noch nicht draussen erfüllt hat, mögen lieber dem Gottesdienst
fern bleiben, als dass sie durch religiöse Kunstgenüsse in denselben
hineingelockt werden.
Nicht auf die Theilung und Zerstreuung der Aufmerksamkeit,
nicht auf die Annäherung der ästhetischen an die sinnlichen Gefühle
lege ich das Hauptgewicht als Gründe der Bekämpfung, obwohl ja
beides auch Berücksichtigung verdient; sondern die Unmöglichkeit,
vor der Verwechselung ernster und ästhetischer Gefühle zu schützen,
und die aus dieser Verwechselung folgende Gefahr der Auflösung des
religiösen Ernstes in ein ästhetisches Spiel mit religiösen An-
empfindungen ohne religiöse Wahrheit, — das ist* es, was mir gegen
alle religiöse Kunstübung beim Gottesdienst zu sprechen scheint. Die
Geschichte bestätigt meine Ansicht insofern, als in allen Religionen
die eifrigsten Parteien und Richtungen gegen die Verquickung von
Kultus und religiöser Kunst aufgetreten sind, und immer nur die
Konnivenz einer opportunistischen Geistlichkeit gegen die Hör- und
Schaulust des unreifen und halbwarmen Volkes für die Einfuhrung
oder den Fortbestand einer solchen Verquickung entschied. Wenn
früher der religiöse Eifer das Kind mit dem Bade auszuschütten
pflegte und durch Bekämpfung der religiösen Kunst schlechtweg
leicht zur unkünstlerischen Barbarei entartete, so vermeidet der hier
entwickelte Standpunkt solches unkluge TJebermaass und trägt dem
Werthe der religiösen Kunst durch die Forderung ihrer sorgsamen
Pflege ausserhalb des Gottesdienstes (wenn auch zum Theil in den-
selben Räumen) volle Rechnung.
Die religiöse Kunstpflege und die durch sie angeregten ästhetisch-
religiösen Gefühle werden ihren propädeutischen Zweck — zwar nicht
im Sinne einer einzelnen geschichtlich überlieferten Religion, aber
doch im Sinne der Religion überhaupt — um so besser erfüllen, je
weitere Kreise der phänomenologischen Wirklichkeit sie durchdringen,
und je mehr sie durch das Verständniss von der relativen Wahrheit
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44 ^' ^' ^io religiöse Fanktion als einseitig mensohliche.
aller religiösen Weltanschauungen gehoben worden. Jede bestimmte
Religion ist mehr oder minder einseitig, und ihre relative Wahrheit
darum mehr oder minder ergänzungsbedürftig; wenn in intellektueller
Hinsicht diese Ergänzung nur durch Verlassen und üeberschreiten
der bestimmten geschichtlichen Stufe in bestimmter Richtung erreich-
bar ist, so ist dieselbe in künstlerischer Hinsicht von unbeschränkter
Vielseitigkeit, weil die Kunst ja nur mit ästhetischem Schein operirt.
In diesem Sinne kann die plastische religiöse Oefühlsweise der
Hellenen dazu dienen, die malerische des Christenthums zu ergänzen,
ist die katholische Gefuhlsweise eines Palestrina und Liszt ganz dazu
angethan, die protestantische eines Händel und Bach zu vervollständigen,
und die musikalisch restaurirte kosmotragische Gefühlsweise des
germanischen Heidenthums in den Wagnerschen Musikdramen wohl
geeignet, die individuelle Tragik der christlichen Erlösergestalt zu
erweitem. Jede kulturgeschichtlich bedeutende Epoche der Beligions-
entwickelung, welche eine eigenartige religiöse Kunst aus sich heraus-
getrieben hat, liefert einen dankenswerthen und schätzbaren Beitrag
zu dem Anschauungsvorrath der religiösen Kunstübung überhaupt;
jede ist geeignet, eine bestimmte Seite -des religiösen Gefühlslebens
auf dem Wege der ästhetischen Anempfindung zu entfalten und zu
verfeinern. Die religiöse Kunstübung kann darum gar niclit uni-
versalistisch genug betrieben werden ; erst aus der gesammten religiösen
Kunst aller Hauptentwickelungsepochen duftet uns jene Universalität
des religiösen Empfindens entgegen, die, erhaben über jede einseitige
bestimmte Religion, der höchsten, alle relative Wahrheit in sich um-
fassenden Stufe des religiösen Bewusstseins entspricht. —
Wenn das sinnliche und das ästhetische religiöse Gefühl als
Beimengungen und ideale Nachbildungen des religiösen Gefühls
erkannt sind, so muss das letztere in seine Tiefe steigen, um zu
seiner wahren und eigentlichen Form zu gelangen; erst die dritte
Gestalt des religiösen Gefühls, die mystische, erfüllt diesen Anspruch.
Das mystische religiöse Gefühl ist in der That der letzte und tiefste
Urgrund aller Religiosität, der lebendige Quell, aus dem alles echte
reügiöse Leben entspringt, der unversiegliche Born, an dem es sich
immer von neuem erfrischt und ewig verjüngt. Das mystische
religiöse Gefühl ist ebenso wenig sinnlich wie das ästhetische; aber
es ist zugleich realer innerer Lebensprocess, nicht bloss ästhetische
Nachempfiudung und ideale Anempfindung, und es wetteifert an
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2. Die religiöse Funktion als Gefühl. 45
innerer Wärme, Gluth und Lebendigkeit mit dem sinnlichen religiösen
Gefühl. Jeder religiöse Genius hat nur aus seinem mystischen
religiösen Gefühl die Freiheit und Kraft zur Erhebung über die von
ihm vorgefundene Stufe des religiösen Bewusstseins geschöpft; nur
die grössere Reinheit und Tiefe des mystischen religiösen Gefühls
befähigt dazu, die Voraussetzungen der religiösen Weltanschauung zu
vertiefen, d. h. einen Fortschritt in der relativen religiösen Wahrheit
zu begründen. Das mystische religiöse Gefühl besitzt in sich selbst
den festen Ankergrund, hat von selbst jene unerschütterliche reli^öse
Selbstgewissheit, welche die bloss reproduktive Religiosität von aussen
her vergebens zu empfangen hoflFt. Das mystische religiöse Gefahl
ist das eigentliche Schöpferische in der Religion wie das ästhetische
Gefühl in der Kunst; oder wenigstens sind beide die primitivsten
Bewusstseinsresonanzen, in denen das unbewusste schöpferische Yer-
mögen in Religion und Kunst sich offenbart.
Hiermit schiene denn die Ansicht, dass die religiöse Funktion
Gefühl sei, gerechtfertigt, insofern die bedenklichen Beimischungen
des sinnlichen und ästhetischen Gefühls als solche durchschaut werden
und das specifisch religiöse Gefühl auf das mystische beschränkt
wird; aber eine nähere Betrachtung lässt auch die Mängel und Ein-
seitigkeiten des mystischen religiösen Gefühls leicht erkennen.
Das mystische Gefühl ist das unbestimmteste, unklarste aller
Gefühle; die ünsagbarkeit und Unaussprechlichkeit, welche letzten
Endes jedem Gefühl beiwohnt, haftet keinem in dem Grade an wie
dem mystischen. Wer sich in sein mystisches religiöses Gefühl
versenkt, schaut gleichsam in einen nächtigen Abgrund hinab, in
welchem er nichts zu erkennen und zu unterscheiden vermag; oder was
dasselbe sagen will, er schaut wie in den allerfüllenden Glanz eines
absoluten Lichtes, das seine Sehkraft blendet. Das mystische Gefühl
ist sich bewusst, alle religiöse Wahrheit in sich zu beschliessen und
täuscht sich darin nicht; aber es hat dieselbe lediglich als eine sein
Gefühl afficirende, also an sich unbewusste und nur durch die Gefühls-
affektion mittelbar (d. h. als unbewusste Ursache einer bewussten
Gefühlswirkung) zum Bewusstsein kommende. So ist das mystische
Gefühl einerseits das reichste, denn es ist die Bewusstseinsresonanz
der höchsten religiösen Wahrheit, andrerseits das ärmste, denn es
hat die religiöse Wahrheit als solche nicht im Bewusstsein und ist
deshalb für das Streben nach religiöser Erkenntniss zunächst schlechthin
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46 A. I. Die religiöse Faaktion als einseitig menschliche .
leer. Es bietet allerdings dem religiösen Erkenntnissdrang die Handhabe,
sich der religiösen Wahrheit zu bemächtigen, indem das mystische Geftthl
analysirt wird und die vorstellungsmässigen Voraussetzungen desselben
aufgestellt, d. h. seine unbewussten Ursachen in's Bewusstsein erhoben
werden; aber dieser Process, der allen Irrthümem und Täuschungen
des Erkennens unterworfen ist und mit dem Entwickelungsprocess des
religiösen Bewusstseins der Menschheit zusammenfällt, liegt doch selbst
ausserhalb des mystischen Gefühls, ist etwas zu demselben Hin-
zukommendes, durch welches seine Einseitigkeit ergänzt, seine Leerheit
überwunden wird.
Gewährt das mystische religiöse Gefühl neben sich dem religiösen
Erkenntnissdrang den ihm im religiösen Leben gebührenden Baum,
ergänzt es sich selbst durch Annahme und Yerwerthung der jeweiligen
Ergebnisse des religiösen Erkenntnissprocesses, dann erkennt es eben
damit schon seine eigene Einseitigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit
an, verzichtet auf den Anspruch, mit sich als Gefühl die religiöse
Funktion zu erschöpfen und nimmt den ihm im religiösen Bewusstsein
wahrhaft gebührenden Platz ein. Aber die Vertreter einer einseitigen
religiösen Gefuhlstheorie wollen eben von solcher Einordnung nichts
wissen und beharren auf der Behauptung, dass das Gefühl als solches
die religiöse Punktion erschöpfe; dadurch aber wird die berechtigte
Mystik des religiösen Lebens in eine unberechtigte Richtung gedrängt,
welche in ihrer abstossenden Exklusivität gegen die vom Erkenntniss-
drang nothwendig geforderte TJeberwindung der Geftthlsleerheit als
Mysticismus zu bezeichnen ist.
Der Mysticismus lehnt die vom religiösen Erkennen gebotenen
Aufschlüsse über die unbewussten Ursachen des mystischen Gefühls
ab; er will nichts wissen von gedanklichen Vermittelungen des Gefühls.
In dem Erkenntnissprocess und seinen Ergebnissen fürchtet er den
fälschenden Irrthum, die Einseitigkeit und Unzulänglichkeit der
menschlichen Vorstellung; in den Vermittlungen des Denkens schaut
er ein endliches Element, welches ihm die Unmittelbarkeit und Un-
endlichkeit des mystischen Gefühls zerstören könnte. Weil der Weg
aus der leeren Unendlichkeit zur unendlichen Fülle der Bestimmtheit
nothwendig durch endliche einseitige Bestimmungen hindurchgeht,
darum wiU der Mysticismus lieber gleich bei seiner leeren Unendlich-
keit stehen bleiben, anstatt aus dem mystischen Gefühl den Antrieb
und das Vermögen zur Ueberwindung der vorgefundenen Einseitig-
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2. Die religiöse Funktion als Gefühl. 47
keiten zu schöpfen; weil die eben befruchtete Eizelle erst durch die
unzulänglichen Stufen der embryonalen und kindlichen Entwickelung-
hindurch muss, um zum reifen Menschen zu werden, darum bleibt der
Mysticismus lieber bei der Eizelle stehen und schwärmt mit seinem
Gefühl in der Unendlichkeit der darin itnplieite enthaltenen, aber in
diesem Zustande schlechthin unerkennbaren Prädispositionen und
keimartigen Bestimmungen.
Die Leerheit des eigensinnig bei sich selbst verharrenden mystischen
Gefühls erzeugt nun durch ihre Monotonie eine so unausstehliche
Langweiligkeit, dass der Mensch es dabei schlechterdings nicht aus-
halten kann, oder wenigstens erst jede menschliche Begung in sich
abgetödtet haben muss, um die geistlose Langweiligkeit dieses mystischen
Quietismus zu ertragen. An Stelle der strengen, aber allmählichen
Entwickelung des religiösen Erkennens tritt die spielende Willkür
einer träumerischen Phantasie, welche bei der Subjektivität ihres
stinunungsmässigen Ursprungs dem Mysticisten momentan seinen Ge-
fühlen angemessener dünkt als präcise Vorstellungen und Gedanken;
der nächste Moment religiöser Gefühlserregung bei etwas veränderter
Stimmung bestätigt vielleicht diesen Schein der Angemessenheit nicht,
aber die Leichtigkeit der Phantasieproduktion gewährt durch neue
willkürliche Schöpfungen Ersatz für diesen Mangel, Nicht selten
auch fugen die Mysticisten die ihnen häufiger wiederkehrenden
Phantasievorstellungen zu einem Ganzen zusammen, das nicht minder
ein System religiöser Weltanschauung ist wie die aus dem religiösen
Erkenntnissprocess hervorgegangenen; es unterscheidet sich von
letzteren dann nur durch die subjektiv-willkürliche Phantastik der
Vorstellungen, welche seine Verwendbarkeit für das religiöse Leben
anderer Personen verschwindend klein macht. Andere Mysticisten
brauchen ja auch nicht die Phantasie eines Dritten für sich arbeiten
zu lassen, sobald sie selbst solche besitzen; so stehen eine Keihe
mystischer Phantasiesysteme neben einander und heben die Gemein-
samkeit der religiösen Weltanschauung auf.
Jeder Mysticist glaubt natürlich nur an seine eigenen Phantasien
und hält die aller übrigen für gleich werthlos; unter dieses Urtheil
begreift er aber auch alle religiösen Weltanschauungen, die aus dem
religiösen Erkenntnissprocess hervorgehen und bei denen ja auch ein
bedeutender Antheil der Phantasie (namentlich auf den niederen
Stufen des religiösen Bewusstseins) unbestreitbar ist. Der Mysticismus
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4g A. t. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
darf alle religiöse Weltanschauung als etwas Gleichgiltiges behandeln,
weil es ja nach seinem Princip lediglich auf das aus der Unmittelbar-
keit der unbewussten religiösen Anlage quillende mystische Gefühl
ankommt; er erweckt damit den Schein der Toleranz^ aber doch nur
auf Kosten der Missachtung der religiösen Wahrheit, d. h. des In-
differentismus.
Fehlt es nun aber gar dem Mjsticisten an Phantasie, um sich
eine subjektive religiöse Weltanschauung zurecht zu dichten, so kann
er trotz seines Princips bei der leeren Unendlichkeit und Unmittelbar-
keit des mystischen Gefühls nicht stehen bleiben; er greift dann
unwillkürlich zu einer Anleihe bei der religiösen Weltanschauung
Anderer, und bei seiner Gleichgiltigkeit gegen alle wird er gewöhnlich
nach der nächstliegenden greifen, d. h. der in seinem Volke land-
läufigen und herrschenden. Diese nimmt er blindlings auf, ohne das
Interesse, sie auf ihre Zulänglichkeit zu prüfen, und ohne das Be-
streben, durch neues tieferes Schöpfen aus dem Quell des mystischen
religiösen Gefahls ihre Einseitigkeiten berichtigend zu überwinden;
d. h. aus Gleichgiltigkeit gegen das religiöse Erkennen fallt der
Mysticist, sofern er weder Phantast noch religiöser Genius ist, meistens
der Orthodoxie in die Arme.
Da es ihm aber doch wieder kein rechter Ernst ist mit dem
orthodoxen System, das er nur ftmie de mieux aus Indifferentismus
annahm, — da er nicht die durch das orthodoxe System vermittelten
beschränkten und einseitigen religiösen Gefühle will, sondern das un-
beschränkte mystische Gefühl, so bleibt ihm die Leerheit des letzteren
auch trotz der Annahme des orthodoxen Systems unerträglich. Darum
sieht sich aller Mysticismus ausser zur Erdichtung oder Entlehnung
eines religiösen Vorstellungssystems auch noch zum Zurückgreifen auf
das sinnliche und ästhetische religiöse Gefühl hingedrängt, um durch
die sinnliche oder ästhetische Bestinuntheit dieser die leere Un-
bestimmtheit des mystischen Gefühls zu •verdecken. Je wärmer und
glühender der Mystiker empfindet, desto näher liegt ihm die Gefahr,
die Gluth seiner Empfindungen durch Pflege ihrer sinnlichen Bei-
mischungen zu erhöhen; je gleichgiltiger ihm die erdichtete oder
entlehnte religiöse Vorstellungswelt erscheint, desto mehr wird dieselbe
zu einem von der spielenden Phantasie erdichteten ästhetischen Schein
und die durch sie ausgelösten Gefühle zu blossen ästhetischen An-
empfindungen.
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^. t)ie religiöse ^nktion als Gefühl. 49
So führt der Mysticismus zum Subjektivismus einer willkürlichen
Phantastik, zum IndiflFerentismus, zur Unterwürfigkeit gegen die Herrsch-
sucht der Orthodoxie und endlich zum Paktiren mit sinnlichen und
ästhetischen religiösen Gefühlen, lauter Irrwege, durch die er von dem
graden Wege des religiösen Entwickelungsganges der Menschheit
ablenkt. Das religiöse Gefühl ist demnach selbst in seiner tiefsten
und geistigsten Gestalt nicht im Stande, die religiöse Funktion zu
erschöpfen, und es sucht da, wo es principiell in gewaltsamer Isolirung
von den normalen Ergänzungsmomenten gehalten wird, unvermerkt
und unwillkürlich einen Ersatz in weniger geeigneten und auf Irrwege
führenden Ergänzungsmomenten.
Das reUgiöse Gefühl darf deshalb die beschränkende Einseitigkeit,
welche mit den von dem religiösen Erkennen erschlossenen religiösen
Weltanschauungen nothwendig in höherem oder geringerem Grade
verknüpft ist, schlechterdings nicht zum Vorwand nehmen, um bei
seiner gefühlssmässigen Unbestimmtheit zu verharren; es darf nur
seine den einseitigen religiösen Weltanschauungen überlegene Tiefe
und potentielle Universalität dazu benutzen, jede sich ihm darbietende
religiöse Weltanschauung berichtigend zu vertiefen. Aus seiner eigenen
Selbstgewissheit soll es nicht Gleichgiltigkeit gegen all und jede
religiöse Weltanschauung schöpfen, weder im Sinne einer allgemeinen
Missachtung derselben, noch im Sinne einer indiflferentistischen Unter-
ordnung unter die grade herrschende; sondern es soll nur die Freiheit
des Gesichtspunktes daraus gewinnen, welche ihm gestattet, un-
bekümmert um allen Autoritätsglauben an jeder bestimmten religiösen
Weltanschauung neben der relativen Wahrheit auch die Unwahrheit,
d. h. die Reformbedürftigkeit und die Richtung, in welcher die
reformirende Ergänzung der vorhandenen Einseitigkeit zu suchen ist,
aufzuzeigen. Wo das religiöse Gefühl dieses seines hohen religiösen
Berufes eingedenk bleibt, da wird es ebensosehr zur Quelle des
positiven religiösen Fortschrittes der Menschheit, wie zum höchsten
Schrecken aller Wächter und Vertreter einer bestimmten ReUgions-
form ; denn den bloss negirenden Rationalismus, der das unbefriedigte
religiöse Bedur&iiss schliesslich doch zu den vorhandenen Quellen
religiöser Befriedigung zurückkehren lässt, haben die Hüter der Be-
stehenden weit weniger zu fürchten, als eine der ihrigen gefühls-
mässig mindestens ebenbürtige, wo nicht überlegene Religiosität,
welche grade aus Religiosität auf die Unzulänglichkeit des Bestehenden
T. Hartmann, Die Beligion des Geistes. 4
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50 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menscbüclie.
tind auf die positive Möglichkeit seiner umgestaltenden Erneuerung
hinweist.
Aber auch da, wo das religiöse Gefühl die richtige Stellung zum
religiösen Erkennen zu gewinnen sucht, erweist es sich dennoch als
nicht zureichend, das religiöse Leben auf die rechte Bahn zu leiten
und auf derselben zu erhalten. Das religiöse Gefühl wird niemals
sich selbst als Mittel zum religiösen Erkennen, sondern es wird mit
vollem Kechte stets das Erkennen als Mittel für sich betrachten;
wenn es aber principiell die religiöse Funktion in Vorstellung und
Gefühl erschöpft sieht, so wird es sich selbst, den Zweck des religiösen
Erkennens imd Vorstellens, nicht mehr als Mittel für etwas Drittes
ansehen können, sondern sich, so lange ein Drittes ausgeschlossen ist,
als Selbstzweck setzen und nehmen müssen. Dadurch aber, dass alle
Gefuhlsreligion, gleichviel ob sie dem religiösen Erkennen den ihm
zukonmienden Platz einräumt oder nicht, logisch genöthigt ist, das
religiöse Gefühl als Selbstzweck zu betrachten und zu behandeln, er-
öffnet sie eine Quelle unabsehbarer Gefahren.
Das Gefühl ist ja grade die Zuständlichkeit des Individualgeistes,
das innerste Beisichsein, die tiefste Einkehr bei sich selbst, das Gegen-
theil des Aussichherausgehens ; es ist von allen Arten der psychischen
Funktion diejenige, bei welcher das Ich sich am entschiedensten auf
sich selbst bezieht und die gesammte dabei in Sede kommende
Aussenwelt nur mitspielen lässt, in soweit es dieselbe in seine eigene
Zuständlichkeit hinein reflektirt. Im Gefühl leidet und geniesst das
Ich die Reflexe, welche sein reales Verhältniss zum Nichtich in die
Idealität seines Bewusstseins hineinwirft; wird das Gefühl zum Selbst-
zweck erhoben, so wird damit zugleich diese schmerzliche oder wonnige
Bewusstseinsresonanz zum Maassstab proklamirt, an welchem das reale
Verhältniss des Ich zum Nichtich gemessen, seinem Werthe nach ab-
geschätzt und je nach dem Ausfall dieser Abschätzung praktisch
regulirt werden muss. Das Gefühl mit seinem Charakter von sub-
jektiver Lust und Unlust für den Regulator der realen Beziehungen
zwischen Ich und Nichtich erklären, heisst aber nichts anderes als den
Eudämonismus, und zwar den Individualeudämonismus, als praktisches
religiöses und religiös-ethisches Princip hinstellen, mit andern Worten:
den religiösen Egoismus für das letzte Wort der Religion ausgeben.
Es ist für diese principielle Bestimmung eine Frage von untergeordneter
Bedeutung, ob man das religiöse Gefühl vorzugsweise in hochgradigen
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2. Die religiöse Sanktion als Gefühl. 51
sinnlichen Erregungen (in Andachtsschauern, herzzermalmenden und
herzzerschmelzenden Affekten, religiöser Grausamkeits- und Liebes-
Wollust u. s. w.) oder in einem Phantasiespiel mit religiös-ästhetischen
Anempfindungen im Anschluss an religiöse Kunstgenüsse, oder in dem
geistig verfeinerten» aber desto feinschmeckerischeren Genuss mystischer
Versenkung, Entrückung und Verzückung, oder in einer verschiedent-
lich abgestuften Mischung aus diesen Bestand theilen sucht; immer
bleibt die eigne Geftthlserregung und Geftthlsbefriedigung der letzte
Zweck des religiösen Lebens. Wer von der religiösen Gefühlstheorie
ausgeht, muss nothwendig dabei anlangen, die Eudämonie des religiösen
Individuums zum Zweck aller Eeligion, ihrer objektiven Existenz und
ihrer subjektiven Ausübung, zu proklamiren; ebenso muss umgekehrt
jeder, der davon ausgeht, den Zweck aller Religion in der religiösen
Glückseligkeit des Individuums zu sehen, folgerichtig dazu getrieben
werden, sich der religiösen Gefühlstheorie anzuschliessen.
Nun kann es aber keinen beschränkteren, unsittlicheren, heid-
nischeren und irreligiöseren Standpunkt geben, als den egoistischen
Wahn, dass die Religion zum Zweck der mdividuellen Glückseligkeit
der Frommen existire, und es ist dabei principiell völlig gleichgiltig,
ob die Glückseligkeit in der göttlichen Segnung mit irdischen sinn-
lichen Gütern (wie noch im Mosaismus), oder in einem transcendenten
sinnlichen Paradiese mit Houris oder Bacchanalien, oder in inneren
religiös sinnlichen Gefuhlserregungen, oder in einem freien ästhetischen
Spiel mit religiösen Empfindungen, oder in mystischen Verzückungen,
oder in einem rein negativen Erlöschen der individuellen Lebenspein
(Mrvana) gesucht wird. Es kommt principiell genommen gar nichts
darauf an, ob der egoistische Eudämonismus seinem Inhalt nach dies-
seitig oder jenseitig, sinnUch oder geistig, positiv oder negativ, gesund
oder krankhaft, gröber oder feiner, plumper oder raffinirter ist; so
lange der Religion das selbstsüchtige Ziel der Beförderung der indivi-
duellen Glückseligkeit zugeschrieben wird, so lange wird ihre Hoheit
und Reinheit erniedrigt und befleckt, ihre Würde und ihr Adel ent-
würdigt und entehrt, gleichviel in wie tönende Phrasen von Seelenheil
diese gemeine Selbstsucht und Glückseligkeitshascherei sich hüllen
möge.
Wo immer ködernde Lockungen mit solchen eudämonistischen
Phrasen im Munde von Vertretern der Religion einem begegnen, da
kann man sicher sein, es mit Leuten zu thun zu haben, welche von
4*
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^2 A. I. Die religiöse Funttion als einseitig menscliliclie.
den wahren Zwecken und Postulaten der Religion und von der Unverträg-
lichkeit derselben mit dem heidnischen Eudämonismus entweder keine
Ahnung oder ganz verkehrte Vorstellungen haben. Das erste, was
die Eeligion von uns Individuen verlangt, ist Selbstverleugnung, und
wer das noch nicht begriffen hat, der ist nicht berufen, die Religion
zu vertreten; die Forderung der Selbstverleugnung zwar im Munde
führen und doch daneben die individuelle Seligkeit für den Zweck der
Religion ausgeben, bekundet eine Gedankenlosigkeit oder Denkunfähig-
keit, welche noch sicherer als die zufällige Vertretung eines falschen
Standpunktes vom praktischen Mitreden in religiösen Dingen ans-
schliessen. Wenn die Religion wirklich eine gewisse relative Beseligang
des in ihr Lebenden mit sich bringt, so ist das jedenfalls doch nur
eine accidentielle Nebenwirkung, aber nicht der Zweck ihres Daseins;
wer dieses Verhältniss auf den Kopf stellt und den individuellen
Gefühlsgewinn, welchen das Individuum aus der Religion schöpft, an
die Stelle ihres objektiven Zweckes setzt, der leiht damit der tiefsten
Wurzel alles Bösen und Antireligiösen, der eudämonistischen Selbst-
sucht, einen gefälschten Freibrief, der schädigt die Entwickelung der
Religion durch Konservirung und Stärkung der ihr aus der heid-
nischen Vorstufe noch anhaftenden eudämonistischen Verunstaltungen.
Denselben schädlichen Einfluss wie die direkte Aufstellung des
Eudämonismus als religiösen Princips hat aber dessen indirekte Auf-
stellung in und mit der religiösen Geftthlstheorie ; auch da, wo der
religiöse Eudämonismus noch nicht explicite als Konsequenz der
Gefühlsreligion ausgesprochen ist, wirkt er doch implidte und un-
ausgesprochen durch dieselbe hindurch, weil er unweigerlich von ihr
involvirt ist. Deshalb hat alle Mystik, gleichviel ob sie sich mit
Gnosis paart oder nicht, eine eudämonistische Tendenz, die auch ohne
alle Reflexion aus dem beständigen Schwelgen in den Erregungen des
eigenen Gefühls sich ergiebt und in diesem zugleich das Feld ihrer
Bethätigung findet. Die Gefühlsreligion räumt dem Gefühl, indem sie
es zum Selbstzweck stempelt, eine Wichtigkeit und Breite ein, die
ihm im Leben nicht gebührt und zieht es aus der dunklen Tiefe, wo
es rein und unentstellt seine wohlthätigen Wirkungen übt, an die
Oberfläche der hellen Tagesbeleuchtung, wo es, seiner schüchtern
schamhaften Zurückhaltung entkleidet, unter aUzu üppiger Düngung
geile Schösslinge treibt. Das Köstlichste am Gefühl, das religiöse
nicht ausgeschlossen, ist seine Keuschheit; dieser aber geht es noth-
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2. Die religiöse Funktion als Gefühl. 53
wendig verlustig, wo es künstlich zum Vergeilen getrieben wird. Die
prätentiöse Schönseligkeit und das gesuchte Schwelgen im eigenen
Gefühl ist unter allen Umständen eine ungesunde und widerwärtige
Erscheinung; es wirkt aber um so abstossender, je edler, keuscher,
vornehmer und heiliger die aus ihrer Verborgenheit hervorgezerrten
Gefühle sind, am abstossendsten also beim religiösen Gefühl.
Geschieht die zum Selbstzweck erhobene religiöse Gefühlsschwelgerei
in Gemeinschaft und öffentlich, so ist sie als schamlose Prostitution
zu bezeichnen und fuhrt durch die Beimischung sinnlicher Bestand-
theile und durch den Indifferentismus gegen positive Religionssysteme
und deren Sittengebote leicht zu wirklichen Orgien und libertinistischer
Genusssucht; geschieht sie in einsamer Stille, so giebt sie weniger
öffentlichen Anstoss, ist aber noch bedenklicher als die gemeinschaft-
liche und offen zur Schau getragene, ebenso wie heimliche, einsame
Trunksucht oder geschlechtliche Sünden noch weit demoralisirender
wirken als offene. Die Orthodoxie aller Zeiten hat aus dem Hinweis
auf die bedenklichen Früchte des religiösen Mysticismus Nutzen zu
ziehen gewusst zur Diskreditirung des Mysticismus und Separatismus
überhaupt, indem sie die üblen Folgen nur auf Rechnung einer
individualistischen Missachtung des orthodoxen Systems schrieb; in
Wahrheit aber ist nicht die Abweichung vom orthodoxen System und
der individualistische Separatismus das Bedenkliche und Schädliche
an der Mystik, sondern das Steckenbleiben in der religiösen Gefühls-
theorie und dem mit ihr unabtrennbar verknüpften Eudämonismus.
Die Mystik ist nur der religiös wahrhafte, und darum auch kühnste
und konsequenteste Höhepunkt der Gefühlsreligion; sie allein wagt
es, die Konsequenzen der religiösen Gefühlstheorie bis zu Ende zu
ziehen, während die orthodoxen Systeme sich mit Halbheiten und In-
konsequenzen vor solchen Endergebnissen zu wahren wissen.
Es ergiebt sich hieraus, dass das religiöse Gefühl neben der Er-
kenntniss noch einer zweiten Ergänzung bedarf, wenn die in ihm ent-
haltenen religiös werthvoUen Momente zu uneingeschränkter Geltung
gelangen sollen; diese zweite Ergänzung darf sich aber nicht wie die
des Erkennens als blosses Mittel zum Gefühl verhalten, sondern muss
geeignet sein, das Gefühl aus seiner Stellung als Selbstzweck zu ent-
thronen und es zum Mittel zu einem andern Zweck herabzusetzen.
Sobald das letztere geschieht, hört der Verführungsgrund zum Hervor-
ziehen des Gefühls an die Oberfläche auf und es bleibt dann eine ge-
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54 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
sonderte Pflege des religiösen Gefühls nur in dem Maasse zu recht-
fertigen, als sie unerlässlich erscheint, um dem Gefühl die zur Er-
füllung seiner teleologischen Aufgabe erforderliche Leichtigkeit,
Sicherheit, Stetigkeit und Energie der Reaktion zu gewähren. Das
Ideal der Religiosität würde dann nicht mehr darin zu suchen sein,
dass das Gefühl eine möglichst hohe selbstständige Ausbildung im
Lichte des Bewusstseins erhalten hat, sondern darin, dass es einer
solchen gar nicht einmal bedurft hat, weil es alle seine teleologischen
Aufgaben spontan erfüllt; dis selbstständige Pflege des religiösen
Gefühls in der lebenden Generation hat dann den Hauptzweck, die-
jenigen psychischen Dispositionen herauszubilden, welche in künftigen
Generationen die gesonderte Pflege des religiösen Gefühls entbehrlich
machen, und demselben gestatten, den Flügelschmelz seiner Keusch-
heit unangetastet zu bewahren.
Das Gefühl soll im Grunde des Herzens bleiben, und man kann
darauf rechnen, dass ein Gefühl um so weniger wahr, tief, innig und
nachhaltig ist, je weniger es Scheu trägt, sich an der Oberfläche
breit zu machen. Die oberflächlich zur Schau getragenen Gefühle
sind am meisten der Gefahr ausgesetzt, mit blosser ästhetischer An-
empfindung verwechselt zu werden (sowohl vom Besitzer selbst, wie
von Andern); sie sind aber auch die am meisten zufälligen, vom
Wirbelwind kleinlicher Motive angefachten, und deshalb unzuverlässigen,
weil sie unstet und flüchtig mit andern ebenso zufälligen wechseln.
Was dem Gefühl vor allem noththut, wenn es praktisch fruchtbringend
werden soU, ist diejenige Stetigkeit, welche nachhaltige Dauer und
zuverlässige Sichselbstgleichheit verbürgt, und nicht dem einzelnen
Gefühl in seiner Besonderung, sondern nur dem unbewussten Grunde
anhaften kann, aus dem die einzelnen Gefühle entspringen. Diesen
Grund nennt man aber das Herz oder Gemüth, und darum bemerkt
Hegel mit Recht, dass Religion des Herzens schon weit mehr besage
als GefühlsreUgion, weil im Herzen der Charakter mitgesetzt ist. Eine
stetige reUgiöse Gefühlsrichtung, wie sie am besten von einer ge-
sicherten religiösen Weltanschauung verbürgt ist, nennt man religiöse
Gesinnung; die Gesinnung ist gegenüber der leeren Potenzialität des
Herzens und Gemüths etwas Aktuelles, gegenüber den partikulären
wechselnden Gefühlen etwas Allgemeines und Stetiges. So ist die
Gesinnung unbedingt die allein brauchbare oder wenigstens allein zu-
verlässige Form des Gefühls für die ReUgion.
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3. Die religiöse Funktion als Wille. 55
Die Gesinnung unterscheidet sich auch dadurch wesentlich von
dem partikulären Gefühl, dass es im Gegensatz zu diesem, welches in
vielen Fällen bei sich beharrt, unbedingt zur That drängt, sich bei
vorkommender Gelegenheit unmittelbar in That umsetzt. Der Werth
des religiösen Gefühls liegt also nicht in dem Geföihl als solchem,
sondern in dem unbewussten Motivationsprocess, den dasselbe als
symptomatische Bewusstseinsresonanz signalisirt, und der Werth dieses
Motivationsprocesses liegt in dem thatsächlichen Ergebniss, welches er
zu Tage fördert Wie der Werth der religiösen Vorstellung in ihrer
Eigenschaft als Motiv liegt, so der des Gefühls in der Bekundung
der Thatsache, dass die Vorstellung ihre Aufgabe als Motiv wirklich
erfüllt. Der Werth der Pflege des religiösen Gefühls liegt demgemäss,
wie schon oben bemerkt, nicht in der Erregung von Gefühlen als
solchen, sondern in der fördernden Ausbildung und Verfeinerung der
Erregungsfähigkeit, und der Werth der gesteigerten Erregungsfähigkeit,
welche symptomatisch an der Lebhaftigkeit der gefuhlsmässigen
Bewusstseinsresonanzen gemessen wird, liegt wiederum nicht in der
Steigerung des Gefühlslebens als solchen, sondern in der Steigerung
der Motivirbarkeit zur That, welche durch die gesteigerte Gefühls-
erregbarkeit angekündigt wird (oder doch angekündigt werden soll,
sofern nämlich normale Verhältnisse vorausgesetzt werden). So ruht
letzten Endes die Bedeutung des Gefühls darin, dass es im Bewusst-
sein die Stelle markirt, hinter welcher im unbewussten Motivations-
process die Umsetzung der bestimmten Vorstellung in einen bestimmten
Willen stattfindet; die Gesinnung ist darum der vollendetste Ausdruck
für das religiöse Gefühl, weil die Gesinnung als solche das Moment
des Willens schon einschliesst, weil in der Gesinnung die religiöse
Gefühlsbestimmtheit in religiöse Willensbestimmtheit umschlägt, d. h.
die Gefühlsreligion zur Willensreligion wird.
3. Die religiöse FiuLktion als Wille.
Der religiöse Wille ist das A und £1 aller Eeligion; als un-
bewusster Wille ihr erster Grund, als bewusster ihr letztes Ziel.
Ohne den unbewussten religiösen Trieb zur Erhebung aus der Ab-
hängigkeit von der Welt zur Freiheit in Gott, ohne die unbewusste
Sehnsucht nach dem Göttlichen, welche sich anfangs sogar mit den
relativ ungeeignetsten Objekten zum Aufbau eines religiösen Ver-
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56 A. I. Die religiöse Fanktion als einseitig menschliche.
hältnisses begnügt, würde es niemals zur Entwickeiung der Religion
im Menschen kommen; das können selbst diejenigen zugeben, welche
das Ziel dieses sehnsüchtigen Triebes für illusorisch erklären. Ohne
den Trieb zur objektiven Verwirklichung des subjektiven religiösen
Bewusstseinsinhaltes, ohne das Verlangen nach praktischer Aus-
gestaltung des gesammten individuellen und socialen Lebens im Sinne
des religiösen Verhältnisses und seiner Konsequenzen wäre alles innere
religiöse Leben unfruchtbar und objektiv zwecklos. Von der Religion
vor allem gilt das Wort: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen;
erst die That oder, psychologisch betrachtet, der Wille zur That ist
die Frucht, die als Maassstab für den Werth aller religiösen Funktionen
dienen muss. Die religiösen Vorstellungen und Gefühle werden also
in ihrem Werthe danach zu bemessen sein, welche Art von religiösem
Willen sie im Gefolge haben, d. h. in welchem Maasse sie den Menschen
heiligen, nicht aber danach, in welchem Maasse sie ihn beseligen.
In dem bewussten religiösen Willen, wie er aus der religiösen
Vorstellung als Motiv und aus dem religiösen Gefühl als repräsentativem
Symptom des Motivationsaktes entsprungen ist, gewinnt der unbewusste
reUgiöse Trieb, welcher dem religiösen Process als Triebkraft diente,
seine Realität und Konkretheit als praktisch wirksamer Bewusstseins-
Inhalt ; in ihm erhält also der religiöse Process seinen kreisförmig zum
Ausgangspunkt zurückbiegenden Abschluss. Der Abschluss ist das
Nämliche wie der Ausgangspunkt, aber in höherer Potenz; darum
steht der Process hier nicht still, sondern beginnt von neuem, insofern
das Resultat des bewussten religiösen Willens zugleich zur Kräftigung,
Steigerung und Verfeinerung des unbewussten religiösen Triebes dient.
Das religiöse Leben setzt sich somit aus einer Reihe von kreis-
förmigen Umläufen zusammen, deren jeder wie der Umlauf einer
Schraubenlinie, zwar zu dem Ausgangspunkt, aber auf erhöhtem
Niveau zurückkehrt; das religiöse Leben ist natürlich ausserdem zu
reich und seine Bewegungen zu mannigfaltig mit einander verschlungen,
als dass eine einfache Schraubenlinie ein passendes Bild abgeben
könnte.
Die Bedeutung des religiösen Willens ist denn auch vielfach
richtig gewürdigt worden, aber nicht überall hat man auch die
Wechselbeziehung des religiösen Willens zu Vorstellung und Gefahl
mit hineinbezogen. Es liegt der Missgrifif sehr nahe, dasjenige, was
das letzte Ziel und den eigentlichen Werthmesser des religiösen Lebens
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3. Die religiöse Funktion als Wille. 57
bildet, aus seinem psychologischen Zusammenhang mit den übrigen
Momenten herauszureissen und in seiner Isolirung als selbstständige
religiöse Funktion hinzustellen. Entweder wird dabei eine vorstellungs-
massige Offenbarung, also eine religiöse Weltanschauung, als eine der
rationalistischen Kritik unantastbare Sphäre zwar bestehen gelassen,
aber auf das zur Erregung des Willens unerlässlich nothwendige
Minimum reducirt ; oder es wird behauptet, dass der Wille selbst erst
der wahre und zureichende Erkenntnissgrund für jenes vorstellungs-
mässige Minimum sei und demgemäss eine anderweitige Offenbarung
entweder geleugnet oder als bloss propädeutische Anticipation des aus
dem Willen allein Erkennbaren bei Seite geschoben. Den ersteren
Standpunkt repräsentirt Spinoza, den letzteren Kant.
Spinoza lehrt eine Scheidung zwischen Theologie und Vernunft
(religiöser und theoretischer Weltanschauung) in dem Sinne, dass
keine der andern unterthan sei, weil letztere es mit Wahrheit und
Weisheit, erstere es mit Frömmigkeit und Gehorsam zu thun habe,
und erklärt in den heiligen Schriften nur das für Offenbarung, was
unerlässlich in Bezug auf den Willen des Menschen und seinen Ge-
horsam gegen den göttlichen Willen sei;*) die hierzu erforderlichen
Eigenschaften Gottes beschränkt er auf die Existenz, Einzigkeit, All-
wissenheit, Gerechtigkeit (einschliesslich der lohnenden und strafenden)
und vergebende Liebe. Der jüdische Standpunkt der Gesetzesreligion
läutert sich in Spinoza zu seiner principiellen ßeinheit, indem er seine
vorstellungsmässigen Voraussetzungen auf das Niveau des englischen
Deismus jener Zeit einstellt; damit wird freilich ebensosehr die buch-
stäbliche Autorität des geoffenbarten jüdischen Gesetzes untergraben,
als die unendlich viel tieferen religionsphilosophischen Ideen der
Spinozistischen Metaphysik unbenutzt bleiben. Kant sagt sich von
der bei Spinoza noch unentbehrlichen Zweiheit von Offenbarungs-
religion und moralischer Religion los, und hält nur die letztere auf-
recht; soweit die erstere noch irgendwelche Bedeutung übrig behalten
will, muss sie sich an die engen Kreise der letzteren aecommodiren,
welche somit gleichzeitig die Euthanasie des Judenthums und des
Christenthums genannt werden kann. Alles konunt in der Religion
auf das Thun an, d. h. auf den guten Lebenswandel; denn alles, was
ausser diesem der Mensch thun zu können glaubt, um Gott wohl-
*) Theolog.-polit. Traktat, Kap. 13—15,
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58 A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
gefällig zu werden, ist blosser Beligionswahn und Afterdienst Gottes.
Religion ist der Inbegriff unsrer Pflichten als göttlicher Gebote, also
nur formaliter, nicht materialiter, von der Moral unterschieden. Da
die statutarische Religion als Frohn- und Lohnglaube bekämpft wird,
so wird das erforderliche Minimum religiöser Vorstellungen auf den
einzigen Satz reducirt: „es ist möglich, dass ein Gott sei", als welcher
genügt, um zur Moral die formale Beziehung der Pflicht auf den
göttlichen Willen hinzuzufügen,*) Diese Reduktion der Religion auf
Moral ist dann in einer zwischen Kant und Spinoza schwankenden
Gestalt von einem grossen Theil der populären Aufklärungslehrer
verbreitet worden, und stets der Satz betont worden, dass Rechtthun
die wahre Religion sei.
In der That hat die Religion nach Seiten ihrer praktischen Yer-
wirklichung kein anderes und kein breiteres Feld als die Moral, und
Kant hat ganz Recht, wenn er als Vorzug seiner Definition die Aus-
schliessung des Irrthums anführt, als ob Religion ein Inbegriff be-
sonderer unmittelbar auf Gott bezogener Pflichten wäre (X S. 184
Anm.). Es ist nicht zu bestreiten, dass, wenn einmal die religiöse
Funktion ausschliesslich im Willen gesucht wird, Religion auf Moral
zusammenschrumpfen muss, beziehungsweise zwischen beiden nur ein
formaler Unterschied von höchst zweifelhaftem Werthe bestehen bleiben
kann, der in der Praxis gar nicht in Betracht kommt. Bei Kant ist
der sittliche Wille das selbstgewiss auf sich selbst Ruhende ; dass der
Inhalt des sittlichen Willens zugleich Inhalt des göttlichen Willens sei,
und dass ein Gott existiren müsse, damit diese Identifikation möglich
werde, sind beides nur Folgerungen aus der Selbstgewissheit des
sittlichen Willens. Weit entfernt, dass die Moral sich auf die Religion
stützen könnte, muss vielmehr die Religion sich auf die Moral stützen,
d. h. die religiösen Perspektiven, welche zu der Moral hinzutreten
können, sind nichts weiter, als transcendente Projektionen des imma-
nenten Ideengehaltes der Moral.
Hierin liegt nun die richtige Ahnung, erstens dass aUe positiven
statutarischen Religionen nicht im Stande sind, echte Moral zu be-
gründen, wenn dieselbe nicht autonom aus dem menschlichen Geiste
*) Kant's „Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft" und „Streit
der Fakultäten" (SämmÜ. Werke ed. Ros. u. Schub. Bd. X specieU S. 137-8,
184-7, 184 Anm., 202, 205, 211, 287-8, 294, 304, 308).
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3. Die religiöse Funktion als Wille. 59
quillt, zweitens, dass in einer Zeit des Verfalls der positiven Keligionen
sehr wohl die Moral ein von der Religion abgelöstes, selbstständiges
Dasein für längere Generationen zu führen im Stande ist, und drittens,
dass auch die Religion, deren statutarische Formen nur Veräusser-
lichungen ursprünglich autonomer Kundgebungen sind, berufen ist,
nach TJeberwindung der Periode der Heteronomie in eine solche
autonomer Bethätigung einzutreten. Das Irrthümliche in dieser
Position liegt nur darin, dass nicht nur der Moral für die Dauer eine
selbstständige, von der Religion isolirte Existenzfähigkeit zugeschrieben
wird, sondern auch das religiöse Moment in und an der Moral auf eine
Religion von der Moral Gnaden reducirt wird. Dies ist eine offenbare
Umkehrung des wahren Sachverhaltes.
Alle Moral hat sich geschichtlich aus der Religion entwickelt,
und wenn auch die so entwickelten geistigen Anlagen der Menschheit
zur Sittlichkeit Dank ihrer Herkunft eine Zeit lang selbstständig fort-
bestehen können, wenn sie von ihrem Mutterboden abgelöst werden,
so ist doch diese selbsständige Existenzfähigkeit zeitlich sehr begrenzt,
und schon in der zweiten Generation machen sich deuthch die
Symptome des Verfalls der Sittlichkeit bemerkbar. Die Selbstgewissheit
des kategorischen Imperatives ist keine Täuschung, wenn man die
eigenen religiösen Jugendreminiscenzen, beziehungsweise die Religiosität
der Eltern und Grosseltern als psychologischen Grund dieser Selbst-
gewissheit gelten lässt; aber sie ist eine baare Illusion, wenn sie, ab-
gesehen von diesen psychologischen Wurzeln, auf ihre Aseität pocht
und ebensosehr eine religiöse wie eine theoretisch-metaphysische Be-
gründung abweist, vielmehr sich selbst für den alleinigen Erkenntniss-
grund metaphysischer Wahrheiten ausgiebt.
Wo die Moral die dürftigen üeberreste einer theoretisch ganz
unerweislichen Metaphysik bloss aus ihrer vermeintlichen Selbstgewiss-
heit herausspinnt und die Religion somit nicht nur nach ihrer prak-
tischen, sondern auch nach ihrer theoretischen Seite mit Haut und
Haaren verschlingt, da bekommt die Religion ein greisenhaft ver-
trocknetes und verschrumpftes Antlitz, und der moralische Rigorismus,
der den herbeigeführten Verlust decken soll, macht diese Physiognomie
nur um so starrer, härter und frostiger. Während der religiöse
Moralismus Spinoza's noch durch den dünnen Faden des Gehorsams
gegen die geoflfenbarten göttüchen Gebote mit der wirklichen Religion
zusammenhängt, hat der religiöse Moralismus Kants als reiner
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gO A. I. Die religiöse Funktion als einseitig menschliche.
Kationalismus auch dieses letzte Band zerrissen und mutliet dem
Menschen zu, sich mit einer schlechthin religionslosen Moral als
Surrogat der Religion zu begnügen.
Dies war selbst der Aufklärung zu stark, die deshalb eine
Mittelstellung zwischen Spinoza und Kant einnahm, d. h. die deistische
Metaphysik der englischen Philosophie als selbsstandige theoretische
Grundlage des religiösen Moralismus acceptirte; während so ein
seichter religiöser Intellektualismus mit einem trocknen religiösen
Moralismus zu einem unerquicklichen Ganzen verknüpft wurde, führte
Fichte die Entwicklung weiter, indem er auf die Immanenzlehre der
spinozistischen Metaphysik zurückgriff und die Religionsphilosophie
auf diese pantheistische Basis stützte. Von beiden Seiten wurde also
anerkannt, dass eine theoretische Weltanschauung selbstständig neben
der Moral gegeben sein müsse, damit der religiöse Moralismus er-
träglich werde; welche Bedeutung dem Moralismus für das religiöse
Bewusstsein zukommt, hängt alsdann von dem religiösen Werth ab,
den die betreflfende religiöse Weltanschauung beanspruchen darf.
Wo der Moralismus, rein auf sich gestellt, die Religion zu ersetzen
unternimmt, da ist zu unterscheiden, ob die Moral, der die Selbst-
gewissheit zugeschrieben wird, auf Principien beruht, welche keine
nothwendige Beziehung zur Religion haben, oder ob sie selbst schon
unbewussterweise auf einem specifisch religiösen Moralprincip fusst.
Im ersteren Falle ist der Moralismus, gleichviel ob er sich niit einer
rein theoretischen Metaphysik verbindet oder nicht, die Aufhebung der
Religion unter dem Vorwand ihrer Konservirung; im letzteren Falle
kann der Moralismus sich mit Recht religiöser Moralismus nennen,
aber doch nur insofern, als er implicite die religiösen Momente enthält,
ohne sie zu expliciren. Der Ersatz der Religion durch die Moral ist
also nur im ersteren Falle, wo die Religion durch ihn vernichtet
wird, ein wirklicher, im letzteren Falle aber nur ein scheinbarer,
insofern die Moral grade nur soweit fähig ist, die Religion zu ersetzen,
als sie selber unvermerkt schon religiöse Moral, d. h. Religion, ist.
Aus einer solchen religiösen Moral lassen sich dann allerdings auch
die vorstellungsmässigen Voraussetzungen ihrer Möglichkeit, d. h.
eine religiöse Weltanschauung, heraus entwickeln und in dieser Weise
kann der religiöse Moralismus in der That den Anspruch vertheidigen,
den gesammten Inhalt der Religion zu erschöpfen.
Nennt man die psychologische Quelle, aus welcher das sittliche
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3. Die religiöse Fanktion als Wille. 61
Bewusstsein die Gewissheit seiner moralischen Forderungen schöpft,
das Gewissen, so kann der religiöse Moralismus in diesem Sinne das
Gewissen als die psychologische Quelle der gesammten Religion hin-
stellen, wie z. B. Schenkel es gethan hat. Dies ist aber immer nur
richtig unter der Voraussetzung, dass man in das Gewissen, d. h. den
jeweiligen Zustand des sittlichen Bewusstseins, alle den religiösen
Inhalt schon hineingelegt sein lässt, den man nachträglich aus ihm
herausholen will, und die Frage ist eben, wie dieser religiöse Inhalt
in das Gewissen hineinkommt. Ist schon das ausserreligiöse sittliche
Bewusstsein der Menschheit ein völkerpsychologisches Produkt, bei
dessen Entwickelung als Triebkraft und wesentlicher Faktor das religiöse
Bewusstsein gewirkt hat, so gilt das in noch ganz anderem und
eminentem Sinne von dem religiös-sittlichen Bewusstsein, d. h. von
dem sittlichen Bewusstsein auf Grund reUgiöser Moralprincipien. Wie
sehr auch der unbewusste religiöse Trieb dem religiösen Vorstellen
und Fühlen vorhergeht, so fehlt diesem doch eben jenes klare Be-
wusstsein über seinen eigenen Inhalt, dessen Gewissheit die Natur
des sogenannten Gewissens ausmacht; das religiöse Gewissen oder das
seiner selbst gewisse religiös-sittliche Bewusstsein kann seiner Natur
nach auf allen Phasen seiner menschheitlichen und individuellen Ent-
wickelung immer erst das Ergebniss der voraufgegangenen religiösen
Processe sein, welche sich in Vorstellen, Fühlen und Wollen bewegen.
Je reicher darum der Begriff des religiösen Gewissens gefasst wird, je
weniger sich der religiöse Moralismus inhaltlich von der Wahrheit
entfernt, desto auffallender und widernatürlicher wird die formelle
Umkehrung des psychologischen Thatbestandes, durch welche er sein
Dasein erkauft. Das religiöse Wollen ist einmal die Frucht des
religiösen Lebens, und so gewiss es dem Kundigen möglich sein
muss, aus der echten Frucht eines Baumes alle Stadien des Lebens-
processes desselben zu rekonstruiren, so wird doch niemand diese
künstliche Rekonstruktionsmethode zur Demonstration dieses Lebens-
processes einschlagen, wenn alle Phasen desselben, wie Keim,
Spross, Baum, Blüthe u. s. w. in der Erfahrung offen vor seinem
Blick daliegen.
Der religiöse Moralismus wird leichter im Stande sein, eine
religiöse Weltanschauung aus sich hinauszuprojiciren, als der Gefühls-
seite der Religion ihr volles Recht widerfahren zu lassen; trotz der
Betonung des religiösen Willens kann er das religiöse Vorstellen (als
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52 A. I. Die religiöse Fanktioa ab einseitig menschliclie.
das Motiv, welches dem Willen erst seine inhalüiche Bestimmtheit
und formelle Energie verschafft) weit weniger entbehren, als das
religiöse Fühlen. Der Moralismus, der eine bestimmte religiöse Welt-
anschauung aus sich heraussetzt, bekleidet nun nothwendig diese aus
dem religiösen Gewissen geschöpften Bestimmungen mit der gleichen
Selbstgewissheit, welche dieses Gewissen beansprucht; dabei vergisst
er aber nur zu leicht, dass das Gewissen des Menschen jeweiliges
Resultat seiner ererbten Anlagen und seines geistigen Entwickelungs-
ganges ist und deshalb auch mit den Einseitigkeiten und Unzuläng-
lichkeiten aller endlichen Individualentwickelung behaftet sein muss.
Der Moralismus verwechselt nur zu leicht die subjektive Selbstgewiss-
heit des religiösen Gewissens mit einer objektiven, und vermisst sieh,
das Gewissen andrer Menschen aus dem Inhalt des seinigen zu richten;
dadurch führt der Moralismus ebenso zur rigoristischen Intoleranz wie
die mystische Gefühlsreligion zur indifferentistischen Toleranz. Der
Moralismus kann kaum umhin, seine religiöse Weltanschauung, die er
aus dem Gewissen geschöpft hat, auch andern «in's Gewissen zu
schieben»; die theoretische Uneinigkeit unter den Vertretern des
religiösen Moralismus sowohl untereinander als auch mit den Ver-
tretern andrer religiöser Standpunkte nimmt darum leicht eine Wendung
zum Widerstreit praktischer Willensrichtungen, was als eine der un-
erfreulichsten Folgen des Moralismus zu bezeichnen ist.
In Bezug auf die Gefühlsreligion ist die Gefahr solcher Konflikte
für den Morahsmus geringer als in Bezug auf die Verstandesreligion,
weil er weniger nöthig hat, sich um das religiöse Gefühl zu bekümmern
und dasselbe mehr bei Seite liegen lassen kann. Während der religiöse
Moralismus in seiner positiven Stellung zu der von ihm postulirten
religiösen Weltanschauung leicht in Ueberspannung verfällt und wo
möglich den Andersdenkenden das Opfer des Intellektes als religiös-
verdienstliche moralische Leistung zumuthet, wendet er der Sphäre des
religiösen Gefühls eine Geringschätzung zU, welche zwar an sich über-
trieben ist, welche aber als Reaktion gegen egoistische religiöse
Genusssucht und pathologische Gefühlsschwelgerei wie eine gesunde
Ernüchterung sehr heilsam wirken kann. Der religiöse Moralismus
sorgt dafür, die Wahrheit lebendig zu erhalten, dass der Grad der
Religiosität eines Menschen von anderen Menschen weder nach der
Orthodoxie seiner religiösen Weltanschauung noch nach der Sichtbar-
keit seiner religiösen Gefühlswallungen beurtheilt werden darf, sondern
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3. Die religiöse Fanktion als Wille. 63
einzig und allein nach den sittlichen Früchten, welche sein religiöses
Vorstellungs- und Gefühlsleben zeitigt, dass weder der Eifer zur
Theilnahme an ceremonialen Kultushandlungen noch die geflissentliche
zeitweilige Beschäftigung mit religiösen Gefühlsresonanzen die Religiosi-
tät ausmacht oder verbürgt, sondern dass die vollkommene ideale
Religiosität gerade da gefunden werden kann, wo beides fehlt, wo die
religiösen Vorstellungen als Motive des echt religiösen Willens wirken,
ohne andere als tief im Grunde verharrende Gefühle dabei anklingen
zu lassen. Das Wort, dass stille Wasser tief sind, ist nirgends so
wahr wie im Gebiet der Religion, womit freilich nicht gesagt ist, dass
religiöse Gefühlsstille der Oberfläche allemal auf religiöse Gefühls-
tiefe schliessen lasse; es soll nur soviel behauptet werden, dass die
Fernhaltung des religiösen Gefühls von der Oberfläche des Bewusst-
seins eher ein günstiges als ein ungünstiges Vorurtheil erwecken
sollte, und dass nur ein Herzenskündiger es wagen dürfte, über den
inneren Werth der Religiosität eines Menschen abzuurtheilen, der
keinerlei religiöses Fühlen zur Schau trägt oder zum Gegenstand aus-
drücklicher Pflege macht.
Denjenigen religiösen Moralismus, der auf jede exklusive Ein-
seitigkeit verzichtet, den selbstständigen und bedingten Werth des
religiösen Vorstellens und Fühlens zwar anerkennt, aber trotzdem den
überlegenen und unbedingten Werth des religiösen Willens hochhält,
den wird man in der That als die wahrste und höchste Erscheinungs-
form der Religion gelten lassen müssen; denn in einem solchen
religiösen Moralismus, der den unersetzlichen Werth eines tiefen und
keuschen Gefühls sowie einer durchgebildeten religiösen Weltanschauung
anerkennt, ist keine Beimischung mehr enthalten, welche die Betonung
des überlegenen Werthes des religiösen Willens beschränken oder be-
denklich machen könnte. Das einzige, was dabei zu bemerken wäre,
ist die Unangemessenheit der Bezeichnung als religiöser Moralismus,
die sich nur da allenfalls genetisch rechtfertigen lässt, wo der Stand-
punkt durch Ausbildung und Vervollkommnung eines einseitigen
religiösen Moralismus sich entwickelt hat; im allgemeinen muss man
sagen, dass ein Standpunkt, der allen psychologischen Hauptfunktionen
im religiösen Process das ihnen gebührende Recht zukommen lässt,
nicht mehr nach einer einseitigen Funktion genannt werden sollte,
auch dann nicht, wenn diejenige Funktion den Namen hergiebt, zu
welcher die andern sich als Mittel verhalten. Denn der moralische
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64
A. t Die religiöse Sanktion als einseitig menschliclie.
Wille wird doch immer nur dadurch zum religiösen, dass er aus einem
Motivationsprocess resultirt, der religiöse Vorstellungen zum Motiv
und religiöse Gefühle zu Bewusstseinsresonanzen 'hat, d. h. dadurch,
dass er aus einem religiösen Process resultirt. Darum hat ein Stand-
punkt, welcher allen psychologischen Momenten des religiösen Processes
ihr Recht widerfahren lässt, auch das Becht, sich für die vollständige
Darstellung des religiösen Lebensprocesses auszugeben, ohne dass er
für seine Darstellung noch von einem dieser psychologischen Momente
eine einschränkende Sonderbezeichnung entlehnen dürfte.
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II. Das religiöse Verhältniss als doppelseitige,
göttliche und menschliche Funktion.
1. Gnade und Glauben im Allgemeinen.
Die vorhergehenden Abschnitte haben die religiöse Funktion als
einseitig menschliche nach ihren drei Hauptrichtungen erörtert; es
kommt nunmehr zunächst darauf an, zu erkennen, dass diese drei
Hauptrichtungen wirklich nur verschiedene Momente .eines und desselben
Processes, verschiedene sich kreislaufartig wiederholende Entwickelungs-
phasen einer und derselben Anlage, verschiedene Bethätigungsrichturigen
eines und desselben Gruudtriebes sind. Man würde gänzlich fehl-
greifen, wenn man meinte, aus einer Vielheit von Vorstellungs-,
Gefühls- und Willensakten, die ursprünglich ohne inneren psychologischen
Zusammenhang wären, die religiöse Funktion mosaikartig zusammen-
setzen zu können.
Alle Vorstellungen können erst dadurch zu religiösen Vorstellungen
werden, dass sie zu Objekten eines religiösen Verhältnisses gestempelt
werden, oder auf ein solches bezogen werden ; dass dies aber geschieht
und nicht unterbleibt, dafür liegt die zureichende Ursache nicht in
der Natur und BeschafTenheit der Vorstellung. Nur mitwirkende Be-
dingung für die Anknüpfung eines religiösen Verhältnisses, nicht zu-
reichende Ursache für dieselbe, kann die Vorstellung sein, insofern
ihre BeschafTenheit sie zum Objekt eines solchen Verhältnisses fähig
oder geeignet macht; dass aber die Aufmerksamkeit auf die Gewinnung
und Festhaltung von Vorstellungen dieser Art gerichtet wird, ist selbst
schon eine Aeusserung des aller religiösen Funktion voraufgehenden
unbewussten religiösen Triebes, der nach geeigneten Vorstellungen
▼. Hart mann, Die Beligion das Cteistes. 5
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66 A. n. Das religiöseYerhältniss als doppelseitige, gotÜ. n. menschl. Funktion.
zur Befriedigung seines Bedürftiisses sucht und die sich darbietenden
festhält und entwickelt. Ebenso werden Willensakte erst dadurch zu
religiösen Willensakten, dass sie aus dem religiösen Verhältniss ent-
springen, in ihm ihre psychologische Wurzel haben; die blosse Moral
kann so irreligiös und antireligiös sein wie die blosse Metaphysik,
auch dann noch, wenn beide mit Gefühlen verbunden auftreten, denen
selbst wiederum kein religiöser Charakter zugesprochen werden kann.
Denn auch das Gefühlsleben gewinnt erst dann und ins9weit religiösen
Charakter, wenn und insoweit es auf das religiöse Verhältniss direkten
oder indirekten Bezug hat, keineswegs schon dadurch, dass es auf eine
religionslose oder antireligiöse Metaphysik oder Moral Bezug hat.
Somit sind Vorstellung, Gefühl und Wille nur als die an und
für sich religiös indifTerenten psychologischen Funktionen erkannt, in
welchen die specifisch religiöse Anlage sich aktualisirt, in welchen sie
sich einfach darum darstellen und ausprägen muss, weil diese drei
Funktionen die psychische Thätigkeit des menschlichen Geistes er-
schöpfen, und andere neben ihnen, hinter ihnen oder über ihnen nicht
existiren und den natürlichen Gesetzen des Seelenlebens zufolge nicht
existiren können. Diese Funktionen bilden also in ihrer Gesammtheit
nichts weiter als das natürliche psychologische Medium, in welchem
und durch welches die religiöse Anlage sich manifestirt, und nur
insoweit konstituiren sie die Gesaammtheit des religiösen Lebens, als
die religiöse Anlage sich in ihnen manifestirt.
Religiöse Funktion ist sonach alle menschliche Geistesbethätigung,
in welcher die religiöse Anlage sich durch Anknüpfung und Pflege
eines religiösen Verhältnisses, sowie durch Bezugnahme auf das
errungene religiöse Verhältniss oflFenbart; in jedem solchen Akt sind
thatsächlich alle drei Seiten der menschlichen Geistesthätigkeit ver-
einigt, wenn auch die eine oder die andere in den Vordergrund tritt.
In der dunklen Sehnsucht des noch unbewusston religiösen Triebes
dämmert doch schon heller oder dunkler die Vorstellung als voraus-
greifende Ahnung des Göttlichen, und die Sehnsucht selbst kündigt
sich als Gefühl an; in der Vorstellung ist es unbewusster Weise der
religiöse Trieb, der sie zum Objekt eines religiösen Verhältnisses, d. h.
zur religiösen Vorstellung stempelt, und damit sofort auch das
Gefühl religiös afficirt; im religiösen Gefühl lebt und webt impücite
der ganze Reichthum der das Individium erfüllenden religiösen Welt-
anschauung und drängt die Gesinnung zur religiösen That; im
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1. Gnade und Glauben im Allgemeinen. 67
religiösen Willen endlich stellt sich die reifste Frucht des religiösen
Lebensprocesses dar, welche selbstverständlich die ursächlichen Momente
ihrer Genesis in sich schliesst, und zwar in einer dem Bewusstsein
relativ leichter ergreifbaren Gestalt in sich schliesst, als dies in den
früheren Phasen des reUgiösen Processes der Fall ist. Nirgends
mischen sich so sehr die unbewussten mit den bewussten psychischen
Funktionen, nirgends spielt das unbewusste Geistesleben eine relativ
so bedeutende Bolle, als auf dem Felde der Religion; darum ist aber
auch bei jeder religiösen Specialfunktion dieses Ineinanderwirken der
unbewussten und bewussten Geistesthatigkeit anzuerkennen, und wenn
man dies nicht unterlässt, so wird man sich leicht überzeugen, dass
jeder religiöse Akt Einheit von Vorstellung, Gefühl und Wille ist.
Wir können nunmehr folgende Definition aufstellen: Die religiöse
Funktion ist die Bethätigung der einheitlichen religiösen Anlage des
Menschen in einem einheitlichen Akt von Vorstellung, Gefühl und
Wille, in welchem die eine oder die andre dieser drei Seiten über-
wiegen kann. Für diese so in ihrer potentiellen und funktionellen
Einheit begriffene religiöse Punktion bedarf es auch einer einheitlichen
Bezeichnung, welche den einheitlichen Aktus einer einheitlichen Anlage
ausdrückt; die einzige ^on der Sprache dargebotene Bezeichnung
welche den Inhalt dieser Definition deckt, aber auch vollständig deckt,
ist «Glaube», ein Wort, dessen allgemeiner Gebrauch sehr viel älter
ist als der des Wortes Keligion, und das in seiner Identität mit Ge-
loben, Gelübde, Verlöbniss noch seinen ursprünglichen Sinn durch
die neuhochdeutsche Vereinseitigung hindurchschimmern lässt. Versteht
man unter religio das religare oder Knüpfen und Binden des religiösen
Verhältnisses, so ist die Bedeutung des Wortes fast identisch mit
Glauben oder (sich) Geloben; nur hat Religion mehr die kollekti-
vistische Bedeutung einer alle objektiven und subjektiven Bestand-
theile des religiösen Lebens zusammenfassenden Bezeichnung an-
genommen, während Glauben im rehgiösen Sprachgebrauch jederzeit
der Ausdruck für die specifisch menschliche Seite in der doppel-
seitigen religiösen Funktion geblieben ist. Glaube ist das vertrauens-
volle sich Hingeben des Menschen an das religiöse Objekt, die stetige
Willensrichtung oder die Treue, welche das Gelöbniss hält und eine
diesem Verlöbniss gemässe Haltung beobachtet; der Glaube ist also
die menschliche Seite des religiösen Verhältnisses selbst, und es
erscheint nur als ein Accidenz am Glauben, dass die vertrauensvolle
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68 A. n. Das religiöse Verhältniss als doppelseitige, gotÜ. n. menschl. Fanktion.
Hingebung an das religiöse Objekt auch das Vertrauen in die trans-
cendentale Wahrheit der religiösen Vorstellung, d. h. in die trans-
cendente Wirklichkeit des religiösen Objekts, einschUesst Erst durch
die kathoUsche Veräusserlichung der Religion und durch die einseitig
intellektualistische Auffassung derselben in der älteren protestantischen
Orthodoxie und dem theologischen Rationalismus ist diese intellektuelle
Seite des Glaubens so in den Vordergrand gedrängt worden, dass sie für das
moderne Sprachgefühl den eigentlichen tieferen Wortsinn überwuchert hat.
Die religiöse Anlage erschöpft ihr Wesen darin, den Menschen
zum religiösen Verhältniss zu fuhren und in demselben zu fördern;
der Glaube als einseitig menschliche religiöse Funktion erschöpft sein
Wesen darin, die menschliche Projektion des religiösen Verhältnisses
zu sein. Alles dreht sich also um das religiöse Verhältniss; nur
wenn dieses eine Wirklichkeit und keine blosse Illusion ist, nur dann
ist der Glaube vor der Gefahr geschützt, ein bloss illusorisches, wenn
auch psychologisch nothwendiges Produkt der illusorischen religiösen
Anlage zu sein. Demgemäss ist die Wirklichkeit des religiösen Ver-
hältnisses unerlässliche Voraussetzung für die Möglichkeit des Glaubens,
ein Postulat des religiösen Bewusstseins, mit welchem dieses sich
selbst aufgeben würde. Die Wirklichkeit des religiösen Verhältnisses
besagt nun aber mehr, als die Wirklichkeit des religiösen Objektes
besagt; es könnte ja ein religiöses Objekt — d.h. ein Objekt, welches,
wenn es zum Menschen in ein Verhältniss träte, ein religiöses Ver-
hältniss begründen würde — geben, und doch die menschliche Vor-
stellung, dass zwischen diesem Objekt und dem Menschen ein reales
Verhältniss existire, auf Einbildung beruhen. In diesem Falle könnte,
so lange die Einbildung nicht durchschaut wird, der Glaube fort-
bestehen; aber er würde objektiv betrachtet trotz seiner subjektiven
Existenz doch kein religiöses Verhältniss darstellen, sondern nur die
subjektive Illusion der Theilnahme an einem supponirten religiösen
Verhältniss. Der Glaube wäre in diesem Falle zu bezeichnen als die
religiöse Velleität, die sich auf Grund der Einbildung einer nicht
existirenden Realität für ein erfolgreiches Wollen hält; er entspräche
dem Zustand des durch's Fernrohr Verliebten, wenn die ferne Schöne
zwar existirte, aber ohne sich im Geringsten um ihn zu bekümmern,
und er in der Einbildung befangen wäre, dass sie seine Neigung er-
widert, und etwaige zufällige Bewegungen ihres Kopfes als Zeichen
zärtlichen Einverständnisses deutete.
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1. Gnade und Glauben im Allgemeinen. 69
Ein wirkliches Verhältniss besteht nur da, wo beide Theile in
eine auf einander bezügliche Funktion eintreten, also eine doppel-
seitige Funktion gegeben ist, — nicht aber da wo nur der eine Theil
sieh zu dem andern in eine rein subjektive, bewusstideale Beziehung
setzt, welche den andern Theil unberührt lässt. Zu einem Objekt,
das entweder in starrer Ruhe und Unthätigkeit verharrt oder aber
sich in Thätigkeiten erschöpft, welche keinerlei Beziehung auf mich
haben, ist kein Verhältniss für mich möglich ; alle Funktionen, welche
ich auf ein solches Objekt richte, bleiben erfolglose Versuche zur An-
knüpfung eines Verhältiiisses und nichts weiter. Deshalb hängt fftr
das religiöse Bewusstsein alles davon ab, dass das religiöse Verhältniss
ein nicht bloss einseitig ideal angestrebtes, sondern ein zweiseitig
reales ist, .d. h. die religiöse Funktion eine doppelseitige, ebensowohl
göttliche als menschliche ist; es ist conditio sine qua non für die
menschliche religiöse Funktion, dass eine göttliche religiöse Funktion
als ihr Korrelat, als die Kehrseite ihrer selbst vorausgesetzt wird.
Wir haben ims hier nicht darum zu bekümmern, ob diese Voraus-
setzung eine Illusion oder eine Wahrheit ist; wir haben hier nur zu
konstatiren, dass sie unerlässlich ist, und dass mit ihr die Möglichkeit
der Eeligion für den Menschen aufhört. Wir werden später die
objektiven Bedingungen näher festzustellen haben, unter welchen
allein diese Voraussetzung Wahrheit sein kann; vorläufig haben wir
es bloss mit der psychologischen Thatsache zu thuu, dass Eeligion
nur da möglich ist, wo diese Voraussetzung als feststehend angenommen
wird, und haben auf Grund dieser psj^chologischen Thatsache näher
zu untersuchen, welcher Art die göttlichen Funktionen sind, die als
Korrelat der menschlichen religiösen Funktionen vom religiösen Be-
wusstsein voraussgesetzt werden.
Dem Glauben, als der einheitlichen menschlichen religiösen
Funktion, muss auch eine einheitliche göttliche religiöse Funktion
entsprechen, und der Gliederung des Glaubens in Specialfunktionen
von überwiegendem Vorstellungs-, Gefühls- oder Willens-Charakter
muss eine ähnliche Gliederung der göttlichen religiösen Funktion
korrespondiren. Es fragt sich nur, ob eine sprachliche Bezeichnung
vorhanden sei, welche in ebenso umfassender und doch prägnanter
Weise diese göttliche Seite des religiösen Verhältnisses deckt, wie das
Wort Glaube es mit der menschlichen Seite thut; diese Frage un-
bedingt zu bejahen verbietet das Schwanken des Sprachgebrauches bei
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70 ^' ^^' ^^ religiöse Yerhältniss als doppelseitige, götÜ. u. mensclil. Funktion.
den verschiedenen Theologen. Trotzdem scheint mir die Entscheidung
unter den vorhandenen Bezeichnungen keinem Zweifel unterliegen zu
können, da eigentlich nur die Worte Gnade und OflFenbarung in die
engere Wahl kommen können. Nun kann zwar jede göttliche Funktion
auf den Menschen von diesem als OflFenbarung aufgenommen werden,
aber doch immer nur dadurch, dass und insofern er mit seinem
Intellekt auf dieselbe reflektirt und sie zur Bereicherung oder Be-
festigung seiner religiösen Vorstellungswelt verwerthet; nur eine un-
mittelbar auf den menschlichen Intellekt gerichtete göttliche Funktion
kann Offenbarung*) im engeren Sinne genannt werden, während die
auf das Gefühl oder den Willen gerichteten göttlichen Funktionen an
und für sich zunächst etwas andres sind als OflFenbarung, wenngleich
sie mittelbar durch ihre Kückwirkung auf den Intellekt* zu solcher
werden können. Die alle Specialitäten der göttlichen Funktion unter
sich befassende Bezeichnung kann deshalb nicht «OflFenbarung», sondern
nur «Gnade» sein. In dem Wortsinne der ^Gnade» ist der Umstand
betont, dass die auf den Menschen gerichtete göttliche Funktion nicht
aus einer Verpflichtung oder Schuldigkeit Gottes entspringt, sondern
eine huldreich gewahrte Gunst ist, — dass sie nicht der Entgelt für
eine sie bezahlende Gegenleistung des Menschen, sondern ein gratuitus
gespendetes Geschenk ist. Dieser Umstand erscheint för die princi-
pielle Betrachtung allerdings als nebensächlich; aber dadurch, dass
er allen göttlichen religiösen Funktionen gemeinsam ist, stellt er
gleichsam ein neutrales generelles Merkmal dar, das zur Bezeichnung
fttr die Sache selbst verwendet ist. So wird die Gnade zum Korrelat
des Glaubens; erst Gnade und Glaube in ihrer Einheit bilden die
vollständige religiöse Funktion, welche das religiöse Verhältniss
aktualisirt.
Jeder religiöse Akt erschien vom einseitigen Standpunkt einer
bloss die menschliche Subjektivität berücksichtigenden Betrachtungs-
weise als Glaubensakt; von dem umgekehrten ebenso einseitigen
Standpunkt einer die menschliche Betheiligung ignorirenden und Alles
ganz allein Gott zuschreibenden Betrachtungsweise würde er als reiner
Gnadenakt in dem als tabula rasa vorgestellten Menschengeist er-
*) Offenbarung heisst: kund und zu wissen thun, das vorher Verborgene dem
Einblick eröffnen, das Verdeckte dem Bewusstsein entschleiern, das Verschlossene
der Ertenntniss aufschliessen, das Verhüllte baar und bloss aufzeigen.
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1. Gnade und Glauben im Allgemeinen. 71
scheinen. Aus einem die Doppelseitigteit der religiösen Funktion an-
erkennenden Gesichtspunkt hingegen erscheint jeder religiöse Akt als
einheitlicher Glaubens- und Gnaden- Akt, als eine in sich ungetheilte
und Tintheilbare konkrete Aktualisirung des religiösen Verhältnisses,
an welcher trotz ihrer Untheilbarkeit mit Nothwendigkeit die beiden
Seiten der göttlichen Gnade und des menschlichen Glaubens unter-
schieden werden müssen. In jedem religiösen Akt wird man darauf
rechnen dürfen, dem wahren Verstäudniss um so näher gekommen zu
sein, je mehr es gelungen ist, die göttliche und menschliche Seite der
Fnnktion zu unterscheiden und doch die Funktion als ungetheilte
reale Einheit zu begreifen.
So wenig ein religiöses Verhältniss möglich wäre, wenn alle
Aktivität nur auf der menschlichen Seite des Glaubens gesucht und
Gott zu einem funktionslos starren Götzen versteinert würde; ebenso-
wenig wäre ein religiöses Verhältuiss möglich, wenn alle Aktivität
lediglich auf Seiten Gottes gesucht und der Mensch zu einem
schlechthin passiven Schauplatz der göttlichen Aktionen erniedrigt
würde. Der Glaube ist ebenso aktiv wie die Gnade; es findet auch
keine Theilung und Vertheilung der Aktivität zwischen Gnade imd
Glaube statt, sondern jeder Seite kommt die volle und ganze Aktivität
an dem religiösen Akte zu, was eben nur dadurch ohne Widerspruch
möglich ist, dass Gnade und Glaube nicht zwei mit einander in
Wechselwirkung stehende Akte, sondern die beiden untrennbaren
Seiten eines und desselben Aktes, der momentanen Aktualisirung des
religiösen Verhältnisses, sind. Ebendasselbe aktuelle Verhältniss,
welches, von der göttlichen Seite her angesehen, Gnade ist, eben-
dasselbe ist, von der menschlichen Seite her gesehen, Glaube, und eben
durch diese reale Einheit der Funktion wird das aktuelle Verhältniss
zum realen einheitlichen Band zwischen Gott und Mensch.
Sobald dagegen die ihrem BegriflF nach zu unterscheidenden
Seiten der einen und untheilbaren religiösen Funktion von der Vor-
stellung reell auseinandergerissen und zu getrennten Funktionen ver-
selbstständigt werden, ist das einheitliche reale Band zwischen Gott
und Mensch zerrissen in zwei Stücke, mit deren nachträglicher
Wiedervereinigung sich das religiöse Bewusstsein vergebens abquält.
Die göttliche Gnade, die nicht zugleich menschlicher Glaubensakt ist,
ist und bleibt etwas dem Menschen und seinem geistigen Leben
Fremdes, von aussen auf magisch-übernatürliche Weise in dasselbe
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72 ^' n. Das religiöse Verhältniss als doppelseitige, götÜ. u. menschl. Funktion.
Hineinragendes; der Glaube hingegen, der nicht zugleich göttlicher
Gnadenakt ist, ist und bleibt etwas rein menschlich-Natürliches, durch
das der Mensch sich nimmermehr über seine natürliche Beschränkt-
heit zu erheben vermag. Der einseitige magische Supranaturalismus
des ersteren Standpunktes ist ebenso unfähig, von seinem göttlichen
Ausgangspunkt zur Realität des religiösen Verhältnisses hindurch-
zudringen, wie der ' einseitige Rationalismus von seinem menschlichen
Ausgangspunkt; der erstere bleibt jenseits des reügiösen Verhältnisses
stehen, weil die Gnade dem Menschen wesensfremd und äusserlich
bleibt, — der andere diesseits, weil der Glaube ohne Gnade bloss
reügiöse Velleität ist, aber nicht reales religiöses Verhältniss. Die
Gnade bleibt in der dem Menschen transcendenten göttlichen Sphäre
stecken, ohne innerlich zum Menschen zu kommen, ohne ihm wesens-
eigen zu werden, wenn sie nicht zugleich menschlicher Glaubensakt
ist; der Glaube bleibt in der menschlichen Sphäre stecken, für welche
die göttliche ein ewig unerreichbares und darum ewig vergeblich er-
sehntes Jenseits ist, wenn der Glaube nicht zugleich göttlicher
Gnadenakt ist.
Auch das nützt nichts, von Gott und vom Menschen zugleich
auszugehen ; denn so lange Gnade und Glaube als getrennte, numerisch
verschiedene Funktionen betrachtet werden, häufen sich bei diesem
Verfahren nur die beiden Schwierigkeiten der einseitigen Versuche,
ohne im geringsten der Lösung näher zu kommen. Es ist, wie wenn
eine Hand über eine unendliche Kluft von der einen oder von der
andern Seite oder von zwei Seiten hinübergestreckt wird; im letzteren
Falle wird durch das zweiseitige vergebliche Mühen der Widersinn
der gestellten Aufgabe nur noch augenscheinlicher. Der Gnadenakt
bleibt dem Menschen gleich transcendent und wesensfremd, mag er
ihn durch einen entgegenkommenden Glaubensakt sich anzueignen
versuchen oder nicht; der Glaubensakt bleibt gleich ohnmächtig, die
menschliche Sphäre zu überschreiten und ein reales Verhältniss zu
Gott zu gewinnen, mag von Jenseits ein Gnadenakt ihm zu Hilfe
kommen oder nicht. Denn die magisch supranaturalistische Gnade
bleibt immer ein äusserlicher, dem Menschen wesensfremder Wunder-
eingriflf, den keine noch so intensive Anstrengung des Menschen zu
seiner eigenen Wesensäusserung zu verinnerlichen, d. h. im wahrsten
Sinne anzueignen vermag, und die rationalistische Bemühung, durch
einseitig menschliche Glaubensakte sich zum Göttlichen in ein reales
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1. Gnade und Glauben im Allgemeinen. 73
Verhältniss zu setzen, bleibt immer mit gleicher Erfolglosigkeit be-
haftet, 80 lange die entgegenkommende supranaturalistische Gnaden-
hilfe von aussen statt von innen den Menschen zu ziehen und zu er-
heben versucht.
Nur einem mit Verwischen und Vertuschen der Probleme sich
zufrieden gebenden Denken kann durch reell getrennte Gnaden- und
Glaubensfunktionen der Schein vorgespiegelt werden, dass durch
Nebeneinanderstellung zweier für sich allein unzulänglicher Lösungs-
versuche' etwas gewonnen sei; ein klares und scharfes Denken wird
nie darüber im Zweifel sein, dass bei solcher Verdoppelung der
Versuchsrichtung nichts weiter als eine Verdoppelung der Schwierig-
keiten erreicht wird. Die einzige Lösung, welche den Widersinn der
magisch-supranaturalistischen, ebenso wie der der rationalistischen
Aufgabestellung vermeidet, besteht in der Anerkennung, dass das
religiöse Verhältniss nur dann ein nichtillusorisches, reelles sein kann,
wenn seine jeweilige Aktualisirung sich in einer numerisch identischen,
untheilbaren Funktion vollzieht, an welcher Gnade und Glaube nur
als die beiden dem Objekt, beziehungsweise Subjekt des Verhältnisses
zugekehrten Seiten zu unterscheiden sind.*)
Alle tiefere Frömmigkeit auf allen Stufen des religiösen Bewusst-
seins hat sich faktisch und praktisch dieser Wahrheit gemäss ent-
faltet, gleichviel ob dieselbe dem erkennenden Bewusstsein der
Frommen aufgegangen war oder nicht, gleichviel ob sie mit der
religiösen Weltanschauung, in welcher dieselben sich bewegten, in
Einklang oder in Widerspruch stand. Der Fromme begnügt sich für
gewöhnlich mit dem Bewusstsein, wirklich in dem religiösen Verhält-
niss zu Gott zu stehen, also wirklich die einseitig menschliche Sphäre
in seinem religiösen Bewusstsein überschritten zu haben; er ergreift
instinktiv und ohne Reflexion die Einheit von Glaube und Gnade,
indem er sich in seinem Glauben durch Gott zu Gott emporgehoben
weiss und fühlt. Es liegt allerdings ursprünglich nicht im unmittel-
baren Interesse der Frömmigkeit, über die psychologischen und
metaphysischen Bedingungen dieser .Thatsache zu reflektiren; wenn
die Reflexion sich dieser Fragen bemächtigt und sie im Sinne einer
bestimmten religiösen Weltanschauung, vielleicht im Widerspruch mit
der Grundthatsache des religiösen Bewusstseins beantwortet und
*) Vgl. Biedermanns Dogmatik § 18—20; Lipsius' Dogmatik § b'd.
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74 A. IL Das religiöse Verhältoiss als doppelseitige, götÜ. u. meoschl. Fanktion.
dogmatisch fixirt, so lässt sich dadurch das religiöse Bewusstsein
sowohl des naiv Frommen als auch des die Dogmen missachtenden
Mystikers nicht beirren, und nur das vor der Reflexion sich beugende
religiöse Bewusstsein des Gebildeten ohne mystische Energie geräth
in einen Zwiespalt, der gebieterisch seine Lösung durch eine mit den
Thatsachen des religiösen Bewusstseins harmonirende religiöse Welt-
anschauung fordert. Mag der naiv-Fromme nach einer solchen noch
kein Bedürfniss spüren, der Mystiker sie geflissentlich verschmähen,
so wird doch die Schicht der Gebildeten immer breiter, für welche
es religiöse Lebensfrage ist, den durch eine einseitige und unvoll-
kommene religiöse Weltanschauung geschaffenen Zwiespalt nodt dem
religiösen Bedürfniss zu überwinden, und darum ist es so wichtig,
dass dasjenige, was der naiv-Fromme und der Mystiker in seinem
religiösen Bewusstsein als fundamentale Thatsache besitzt, die
funktionelle Identität von Glaube und Gnade, auch in dieser funktio-
nellen Identität als grundlegende Thatsache des religiösen Bewusst-
seins und conditio sine qua non des religiösen Verhältnisses an-
erkannt werde.
2. Offenbarungsgnade und intellektueller Glaube.
Das religiöse Bewusstsein braucht, wie wir oben gesehen haben,
eine XJeberzeugung von praktisch ausreichendem Wahrscheinlichkeits-
grade, dass das Objekt des reUgiösen Verhältnisses und das religiöse
Verhältniss selbst transcendente Realität besitze. Diese Ueberzeugung
geht geschichtlich aller wissenschaftlichen Erkenntniss der betreffenden
Gegenstände voran und muss praktisch von derselben unabhängig
sein, d. h. ihrer entbehren können; sie muss deshalb eine andere
Quelle haben als die wissenschaftliche Erkenntniss. Psychologisch
betrachtet ist sie ein Postulat des religiösen Bewusstseins, eine Pro-
jektion des religiösen Bedürfnisses, ein Produkt des religiösen Triebes;
indem sie aber so ihrer Existenz und ihrer Beschaffenheit nach auf
die religiöse Anlage und deren unbewussten potentiellen Inhalt zurück-
weist, greift sie über allen ausser der Eeligion gegebenen Geistes-
gehalt des Menschen hinaus und hinüber. Das religiöse Bewusstsein
ist deshalb vollständig in seinem Recht, wenn es diese Ueberzeugung
als etwas aus dem religiösen Verhältniss selbst Entspringendes und
mit ihm Wachsendes und Gedeihendes erfasst; denn die religiöse
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2. Offenbarangsgnade und intellektueller Glaube. 75
Anlage selbst ist ja nichts als der unbewusste Trieb zur Gewinnung
des religiösen Verhältnisses, welcher die unbewusste Vorahnung des-
selben zu seinem Inhalt hat, und auf jeder Entwickelungsstufe greift
die Sehnsucht und Ahnung über den jeweiligen Inhalt des religiösen
Bewusstseins und die bereits bestimmt entwickelten religiösen Dispo-
sitionen mehr oder minder anticipirend auf eine noch nicht erreichte
höhere Entwickelungsstufe des religiösen Verhältnisses hinaus.
Insofern aber jene Ueberzeugung etwas aus dem religiösen Verhältniss
selbst Entspringendes und mit ihm Wachsendes ist, hat auch das
religiöse Bewusstsein rechte wenn es dieselbe als Produkt der das
religiöse Verhältniss konstituirenden Faktoren betrachtet, d. h. als
etwas von Gott im Menschen Gewirktes und Gesetztes auffasst; mit
andern Worten: die Ueberzeugung von der religiösen Wahrheit
erscheint im Lichte des religiösen Bewusstseins selbst als Gnadengabe.
Die Gnade, insofern sie eine Erleuchtung des Menschen über das
Wesen und die Bedeutung des religiösen Objektes und Verhältnisses
und eine Ueberzeugung desselben von der transcendenten Realität
beider zum Zweck hat, heisst nun Offenbarung; die Offenbarung aber,
insofern sie vom Menschen als sein eigener Bewusstseinsinhalt und
als seine eigene Funktion gewusst wird, ist der intellektuelle Glaube.
Offenbarung und intellektueller Glaube sind also ein und derselbe Akt
von seiner göttlichen und seiner menschlichen Seite aufgefasst: die
göttliche Gnade der Offenbarung, insofern sie sich als Aktualisirung
des realen religiösen Verhältnisses, d. h. im menschlichen Geistesleben
selbst und diesem immanent vollzieht, ist nicht etwa bloss Ursache
und Mittel des menschlichen Glaubens, sondern der intellektuelle
Glaubensakt des menschlichen Geistes selbst, allerdings in seiner
göttlichen Bestimmtheit, und umgekehrt ist der menschliche Glaubens-
akt, insofern er wirklich eine Aktualisirung des religiösen Verhältnisses
darstellt, nicht mehr bloss einseitig menschliche Geistesfunktion,
sondern der menschliche Adspekt der doppelseitigen gottmenschlichen
Funktion, welche als solche zugleich nach ihrem göttlichen Adspekt
Offenbarung heisst.
Dieses Verhältniss der funktionellen Identität von Offenbarung
und intellektuellem Glauben wird erst dann völlig einleuchtend, wenn
man die uneigentlich so genannten Formen der Offenbarung auf ihren
eigentlichen Kern zurückführt. Zunächst sind alle diejenigen Maui-
festationen Gottes aus dem Begriff der Offenbarung auszuscheiden,
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76 A. II Das religiöBe YerhältDise als doppelseitige, göttl. u. menschl. Funktion.
welche als solche nicht zugleich immanente Gnadenakte im mensch-
lichen Geiste, sondern äussere Momente des Weltprocesseö sind;
hierher gehört einerseits die sogenannte allgemeine OflFenbarung Gottes
in der Natur und in der Geschichte, andererseits jede angebliche
specielle Offenbarung Gottes durch sinnliche Erscheinung für das
menschliche Auge oder Ohr.
Der natürliche und der geschichtliche Process sind für den
Menschen äussere Thatsachen, welche an und für sich genommen,
d. h. ohne Verarbeitung durch das Denken, keineswegs die Existenz
Gottes bezeugen; erst das menschliche Denken, welches sie auf ihren
inneren Zusammenhang verarbeitet, ist in der Lage, sie als empirisches
Material für induktive Schlussketten zu verwerthen, aus denen die
Ueberzeugung von dem Dasein und der Wahrheit Gottes resultiren
kann. Ob dieses Resultat aus der gedanklichen Verarbeitung jenes
empirischen Materials folgt oder das entgegengesetzte, hängt nun aber
nicht bloss von jenem Material, sondern auch von der Beschaffenheit
des menschlichen Denkvermögens ab; also liegt die Offenbarung
keinenfalls schon in jenem Material, sondern erst in dem Denken und
Schliessen des menschlichen Geistes, und Natur und Geschichte können
nur als eine äussere Veranstaltung bezeichnet werden, welche in einem
prädisponirten Denken die betreffende Offenbarung auslöst.
Dasselbe gilt von den angeblichen Erscheinungen der Götter vor
wachenden oder träumenden Menschen; ob die wahrgenommene Er-
scheinung ein von andern Menschen veranstalteter Betrug, eine natür-
liche Sinnestäuschung, eine krankhafte oder eine von Gott inspirirte
Hallucination, ein gewöhnliches oder ein inspirirtes Traumbild, oder
die Wirkung einer übernatürlichen Materialisation des betreffenden
Gottes gewesen sei, darüber sagt die Wahrnehmung als solche gar
nichts aus, sondern es ist Sache des Denkens, unter diesen ver-
schiedenen Möglichkeiten nach Maassgabe der vorliegenden inneren
und äusseren Umstände die Entscheidung zu treffen. Erst die innere
geistige Deutung der Thatsache ist die eigentliche und wahre Offen-
barung; die äussere Veranstaltung ist nur technische Beihilfe zu ihrer
Herbeiführung oder psychologischen Auslösung. Darum ist es auch
für den religiösen Werth der Offenbarung ganz gleichgiltig, ob sie
durch Licht- oder Schallwellen, welche von einer übernatürlichen
göttlichen Materialisationserscheinung auf die Sinneswerkzeuge des
Menschen treffen, oder durch eine, der so entstehenden Wahrnehmung
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2. OfPenbarangsgnade und intellektaeller Glaube. 77
gleiche, aber von Gott innerlich im Menschen gesetzte Hallucination
angeregt wird, und ebenso gleichgiltig ist es, ob eine solche sinnliche
Erscheinung oder irgend ein andrer Akt des Geisteslebens zum äusseren
Anlass wird, der die innere Offenbarung auslöst; denn wenn einmal
die innere geistige Offenbarung zu Stande gekommen ist, so ist sie
als solche zum geistigen Besitz des Menschen geworden, so dass die
zufälligen Anlässe zur psychologischen Auslösung als irrelevant fort-
geworfen werden können.
Wenn schon im geistigen Leben des Menschen selbst nur die
Punkte, wo die Glaubensüberzeugung als Aktuahsirung des religiösen
Verhältnisses hervorspringt, Offenbarung genannt werden können, nicht
aber die vorbereitenden Glieder, welche den Eintritt eines solchen
Momentes erleichtem, so muss in noch höherem Grade der Ausdruck
Offenbarung von solchen äusseren Ereignissen ferngehalten werden,
welche nur dadurch auf den Menschen Einfluss gewinnen, dass sie
durch die Wahrnehmung repräsentativ in seinen Bewusstseinsinhalt
eintreten. Wir haben also alle unrichtig sogenannte äussere Offen-
barung auf innere zurückzuführen, und in demselben Sinne müssen*
wir weiterhin alle fremde oder überlieferte Offenbarung auf eigne
oder persönliche zurückführen.
Zur Sphäre des »Aeusseren« gehört nämlich für einen bestimmten
Menschen nicht bloss die gesammte Körperwelt und deren Ver-
änderungen, sondern auch die gesammte übrige Geisterwelt und deren
Veränderungen; was in der Seele eines Dritten vorgeht, ist für mein
Bewusstsein etwas Draussen Liegendes (erkenntnisstheoretisch-Trans-
cendentes). Wenn also ein Dritter eine Offenbarung empfangen hat,
so ist dies zwar für ihn eine Offenbarung, aber darum noch für
keinen andern Menschen; wenn ich oder ein andrer auch an die
Wahrheit und Thatsächlichkeit der betreffenden Offenbarung glaube,
so ist und bleibt sie darum doch immer nur eine Offenbarung für
ihn, ohne Offenbarung für mich zu werden. Wenn freilich Offen-
barung und Glaube zwei funktionell verschiedene Akte wären, dann
könnten sie auch zeitlich auseinandergezerrt oder in verschiedene
Personen vertheilt werden, dann würde nichts hindern, dass mein
Glaubensakt einem Offenbarungsakt korrespondirte, welcher sich früher
einmal in einem andern Menschengeist vollzogen hat; ich hätte dann
nur nöthig, den Wahrscheinlichkeitsgrad, welchen jener Offenbarungs-
akt in dem Geiste des Empfängers hatte, mit den Koefficienten der
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78 ^' II- I^as religiöse Verhfiltniss als doppelseitige, gottl. u. menschl. Panktion.
Wahrscheinlichkeit dafür zu multipliciren, dass Selbsttäuschung oder
Lüge bei der üeberlieferung ausgeschlossen blieb, und könnte dann
auf die so in ihrer Wahrscheinlichkeit reducirte Offenbarung des
Dritten meinen Glauben beziehen. Diese völlig äusserliche Auffassung
ist aber durch das oben über die Einheit von Gnade und Glaube
Bemerkte schlechthin unmöglich gemacht; der einzige Glaubensakt,
welcher der göttlichen Offenbarung in dieser dritten Person korre-
spondirt, ist der Glaube dieser dritten Person selbst, für welche sie
innere Offenbarung ist. Der Charakter der Offenbarung beruht eben
darin, dass man sie selbst erlebt und erfahren hat, denn was mir
nicht in meinem eigenen personlichen Geistesprocess offen und baar
geworden, das ist mir eben noch nicht offenbar, gleichviel wie vielen
Andern es offenbar sein mag.
Die einem Dritten zu Theil gewordene Offenbarung ist als
Offenbarung unveräusserliches Eigenthum dieses Dritten und als
solches mit seinem Glauben eins und dasselbe ; der überlieferte Bericht
von solchem geistigen Besitz ist so wenig diesem Besitz gleichwerthig,
»wie die Mittheilung, dass ein andrer Millionär sei, meine Armuth be-
seitigt. Wohl aber kann der überlieferte Bericht über die Thatsache
einer solchen früher in einem dritten stattgehabten Offenbarung meine
Sehnsucht und Hoffnung auf eigene persönliche Offenbarung stärken
und ermuthigen und mich dadurch in eine zum Eintritt der Offen-
barung günstigere Gemüthsstimmung versetzen; ebenso kann der
Bericht über den Inhalt der fremden Offenbarung meinem Geistesleben
zur Anregung und zum Anstoss dienen, und dadurch wiederum den
Eintritt einer ähnlichen Offenbarung befördern und vorbereiten.
Die überlieferte Offenbarung kann also niemals mehr leisten, als
die sogenannte äussere Offenbarung in Natur und Geschichte auch
thut; d. h. sie kann nur äussere technische Beihilfe zum Zustande-
kommen einer inneren, persönlichen Offenbarung sein, ebenso wie sie
selbst auf stattgehabte innere persönliche Offenbarung zurückweist.
Bleibt solche persönüche Offenbarung in einem Menschen aus, so giebt
es für diesen keine Offenbarung, also auch keinen wahren geistigen
Glauben, dessen Ersatz durch todten Autoritäts- und Buchstaben-
glauben vergebens angestrebt wird; tritt eine persönliche Offenbarung
(wie z. B. nach christlicher Lehre in dem inneren Zeugniss des
heiligen Geistes in dem Fronmien) ein, so ist dieser Offenbarungsakt
der einzige für den betreffenden Menschen existirende, und nicht die
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2. Offenbanmgsgnade und intollekttteUer Glaube. 79
sogenannte überlieferte Offenbarung, obschon eine solche immerhin
für Eintritt und Inhalt der persönlichen Offenbarung mitbestimmend
geworden sein kann. Im religiösen Geistesleben des Einzelnen, d. h.
in der Bethätigung des religiösen Verhältnisses, handelt es sich also
immer nur um die eigene persönliche Offenbarung, welche ihrerseits
mit dem persönlichen Glaubensakt ein und dasselbe ist.
Neben dem religiösen Geistesleben des Einzelnen als solchen ist
allerdings auch die Entwickelung des religiösen Bewusstseins der
Menschheit in ihrer Gesammtheit in Betracht zu ziehen, welche sich
einerseits aus der Summe aller persönlichen Geistesprocesse zusammen-
setzt, andrerseits aber wieder das Niveau bestimmt, auf welchem das
religiöse Geistesleben des Einzelnen sich entfaltet, oder den Boden,
in welchem es mit allen Wurzeln haftet, und aus welchem es seine
geistige Nahrung und Anregung fttr die individuelle Entwickelung
zieht. Die Entwickelungsstufe des religiösen Bewusstseins, innerhalb
deren der Eiuzelne aufwächst, lebt und sich bewegt, ist nämhch nicht
bloss entscheidend für die religiöse Weltanschauung, welche er vor-
findet, sondern auch für die Beispiele religiösen Lebens, welche ihm
als Vorbild und Anregung für die eigene Religiosität dienen, mit
andern Worten: die objektive Entwickelungsstufe des religiösen
Bewusstseins kann als der allerwichtigste äussere Umstand gelten,
welcher mitbestimmend ist für die Beschaffenheit der zur Auslösung
gelangenden subjektiven Offenbarungen.
Aus diesem Gesichtspunkt kann der Werth, welcher in den posi-
tiven Religionen auf die errungene objektive Entwickelungsstufe des
religiösen Bewusstseins gelegt wird, nicht übertrieben genannt werden,
wofern nur nicht vergessen wird, dass dieser Werth einerseits niemals
über den eines äusseren Beförderungsmittels der subjektiven Offen-
barung hinausgehen kann, und dass andrerseits diese Entwickelungs-
stufe das Ergebniss aller in direkter Entwickelungsreihe voraufgehenden
Offenbarungen, nicht aber das Ergebniss einer einzigen oder einiger
wenigen ist. Eine Verkennung der ersteren Einschränkung wäre
irreligiös, wäre eine glaubentödtende Verdrängung der lebendigen
persönlichen Offenbarung durch den objektiven Niederschlag ver-
gangener Offenbarungsakte; eine Verkennung der letzteren Ein-
schränkung wäre unhistorisch, wäre eine Verdrängung des be-
wunderungswürdigen providentiell geleiteten Entwickelungsganges der
ganzen Menschheit durch einzelne in die dumpfe Unproduktivität der
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80 A, n. Bas religiöse Verhältniss als doppelseitige, göttl. tt menscM. Funktion.
Masse hineinplatzende Offenbarungsakte, denen alle geschichtliclien
und psychologischen Vorbedingungen zur naturgesetzlichen Entstehung
fehlen.
Wer nur innerhalb der eigenen Religion (beziehungsweise deren
Mutterreligion) Offenbarung anerkennt, ausserhalb derselben sie aber
leugnet, der beweist damit nur, dass ihm ebenso sehr das religiöse
Verständniss für den Begriff der Offenbarung in ihrer Korrelation
zum Glauben, wie das historische Verständniss für den Entwickelungs-
gang des religiösen Bewusstseins der Menschheit fehlt; wer aber gar
die in der eigenen Religion vorgefundene Entwickelungsstufe des
religiösen Bewusstseins auf die subjektiven Offenbarungen eines oder
einiger religiöser Heroen zurückführt, der zeigt dadurch seinen Mangel
an Verständniss dafür, dass kein Zweig des geistigen Menschheits-
lebens in höherem Grade als die Religion von völkerpsychologischen,
meist unbewussten Processen des Gesammtgeistes abhängt. Damit
soll keineswegs der bedeutende Einfluss des religiösen Genius geleugnet
werden, wie er sich z. B. in einem Jesajah oder Paulus als Eröffner
neuer Bahnen manifestirt; aber es muss daran erinnert werden, dass
grade auf dem Gebiete der Religion der Volksgeist es noch mehr als
auf anderen Gebieten liebt, die allmählichen Umwandlungen ganzer
Kulturepochen auf eine Einzelgestalt als Urheber zurückzuprojiciren.
Wo solche Einzelgestalten vor der geschichtlichen Kritik ihre Be-
deutung als Religionsgründer behaupten, pflegen sie, wie Muhammed,
den Nimbus des schöpferischen Genius einzubüssen, und zu unproduk-
tiven Kompilatoren vorgefundener Ideen herabzusinken; in den
häufigeren Fällen handelt es sich entweder (wie bei Jesus) um
Personen, denen die spätere Auffassung das Gegentheil der wirklich
gehegten Grundansichten andichtet, oder (wie bei dem ägyptischen
einmal grossen Thot, dem persischen Zarathustra, dem indischen
Manu und Buddha, dem israelitischen Moses) um mythische Figuren,
die nie existirt haben, oder doch um einen unerkennbar gewordenen,
verschwindend dürftigen historischen Kern herumkrystallisirt sind.
Nie hat ein religiöser Heros etwas andres sein wollen, als Reformator,
d. h. Wiederhersteller und Reiniger der von ihm vorgefundenen Volks-
religion; je weniger originell ein solcher auftrat, je mehr er sich
damit begnügte, für das in der Volksseele Lebende den betreffenden
Ausdruck zu finden, desto geeigneter schien er dem Volke, als Ueber-
bringer der neuen Offenbarung verherrlicht zu werden, während die
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^, Öäenbaningsgiiade und intellektaeller Glaubd. gl
wirklich originellen und neue Wege einschlagenden religiösen Genien (wie
Jesajah und Paulus) dem Volke zu fremd gegenüberstanden, um sie
über das Maass ihrer wirklichen Bedeutung hinaus zu verherrlichen.
Es scheint hier geboten, darauf aufmerksam zu machen, dass der
formelle Charakter der Offenbarung gänzlich unabhängig davon ist,
ob der Inhalt originell oder schon beUebig oft producirt ist. Es kann
ein gedanklicher Inhalt über Gott und seine Beziehungen zum
Menschen völlig neu und originell in den geistigen Entwickelungs-
process der Menschheit eintreten, ohne irgendwie den Charakter der
Offenbarung an sich zu tragen, sofern er nämlich als Produkt
theoretischer Spekulation in einem irreligiösen Menschen hervorgetreten
ist, d. h. in einem solchen, der nicht in einem religiösen Verhältniss
steht, also auch nicht diesen Inhalt aus dem religiösen Verhältniss
geschöpft haben kMin; gleichwohl kann solcher Gedankenihhalt be-
frachtend und anregend auf die Entwickelung des religiösen Bewusst-
seins in anderen Menschen wirken, sei es nun durch seinen indirekten
Einfluss auf die Entwickelung der Religion, sei es durch seinen
direkten Einfluss auf die Entwickelung der Wissenschaft, sei es durch
beides im Verein. So wenig die vorhandene Originalität eines aus
anderen Quellen stammenden Gedankengehalts den Charakter der Offen-
barung verleihen kann, ebenso wenig kann der Mangel an Originalität
einem Glaubensinhalt den Charakter der Offenbarung rauben oder
beeinträchtigen, sofern derselbe aus dem religiösen Verhältniss als
solchem geschöpft ist.
Die Offenbarung in ihrer Einheit mit dem Glauben ist eben
zunächst für jeden Einzelnen bestimmt, in welchem sich der religiöse
Process vollzieht; fttr den Einzelnen aber ist einmal im Leben alles
neu, auch das in Anderen schon Dagewesene. Erst in zweiter Reihe
kommt der Offenbarungsinhalt über seine Bedeutung fttr das religiöse
Einzelleben hinaus auch der Entwickelung der Religion im Ganzen
zu gut; für diese aber kommt es eben so sehr darauf an, dass der
wesentliche Gehalt der bereits erreichten Entwickelungsstufe ein all-
gemeiner, im religiösen Geistesleben aller Einzelnen sich wiederholender
sei, als dass er durch Bereicherung und Vertiefung fortentwickelt
werde. Nur für die letztere Seite ist eine gewisse Originalität der
Offenbarung im Einzelnen erforderlich; diese ist aber schon dadurch
verbürgt, dass jeder Mensch ein in seiner Art Einziger ist, in welchem
das allen Gemeinsame sich nur auf eine eigenthümliche, individuell
V. Hartmann, Die Religion des Geistes. G
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g2 A. n. Das reli^köseYerhältniss ds doppelseitig, gfotÜ. u. menschl. Fanktioa.
modificixte Art und Weise wiederhden kann. In den m^ten
Menschen wird diese individuelle Färbung nur zur Bereicherung, Ver-
feinerung und allseitigen Durcharbeitung der bereits erreichten Stufe
des religiösen Bewusstseins beitragen, nur in einer Minderzahl wird
sie auch der Vertiefung und der Vorbereitung und Herbeiführung
eines wirklichen Fortschrittes dienen. Aus einer grossen Summe
solcher individuellen OflFenbarungen heraus bildet sich diejenige
Stimmung des Volksgeistes, welche als Empfänglichkeit für und Be-
dürfniss nach einem principiellen reUgiösen Fortschritt sich geltend
macht, und welche dann endlich in den Offenbarungen änes oder
einiger vorwiegend „begnadeten" Individuen (religiösen Genies) die
Formulirung für das Ersehnte findet.
Vom Rationalismus wird gegen den religiösen Begriff der O&mr
barung das Bedenken erhoben, dass der Inhalt der Offenbarung, als
einer göttUchen Funktion, absolute Wahrheit besitzen müsse, was a1»er
bei der Verschiedenheit des empirisch vorliegenden OfTenbarungsinhaltes
thatsächlich ausgeschlossen sei. Eine Theologie, welche den magisch-
supranaturalistischen Begriff der Offenbarung als einer einseitig gött-
lichen Funktion retten will, sucht diesen rationalistischen Einwand
durch die Annahme zu entkräften, dass Gott in seiner Offenbamng
aUerdii^s die absolute Wahrheit darbiete, aber in einer dem unvoU-
konmienen menschlichen Fassungsvermögen accommodirten, d. h. ver-
hüllten und theilweise entstellten Form; diese Ausflucht wird aber
weder der göttlichen, noch der menschlichen Natur gerecht und lässt
auf beiden Seiten unlösbare Schwierigkeiten bestehen. Nach ihr
beraubt nämlich Gott aus äusseren Gründen die absolute Wahrheit
ihrer Absolutheit, zunächst in formeller und dadurch mittelbar auch
in inhaltlicher Hinsicht, erweiset sich also in seiner einseitig göttlichen
Funktion doch wieder nicht als absolut wahr; der Mensch hingegen
empfängt trotzdem durch diese widerspruchsvolle göttliche Funktion doch
nur einen Inhalt, der nicht nach den natürlichen psychologiechen Gesetzen
auss einem eigenen Geiste geboren, also auf magisch-supranaturalistiscbe
Weise in denselben von aussen eingepfropft ist. Der Nationalismus
hat in seinem Einwand zwar insoweit Becht, dass er die absolute
Wahrheit des Offenbarungsinhaltes im Hinweis auf ihare gesetzmässige
psychologische Entstehung im Individualgeist bestreitet ux^ auf der
natürlichen Gesetzhchkeit des Geisteslebeiiis besteht; aber er hat
Unrecht, wenn er deshalb die göttliche Seite am Glaubensakt negirt
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2. OlEdDbanmgsgiiade und inteUektueller Glaube. 83
und die religiöse Funktion zu einer einseitig menschlichen herabsetzt
Die supranatoralistische Theologie ist dem gegenüber im Becht, wenn
sie an der Offenbarung als einer wesentlich göttlichen Funktion fest-
hält» aber sie vermag ihr Recht nur zu behaupten, nicht zu erweisen,
angesichts des Widerspruches, dass die einseitig göttlich gefasste
Fanktion der Offenbarung formell wie inhaltlich sich als nicht absolut
dar^tdlt, und trotz dieser Selbstverleugnung doch nur im Widerspruch
mit den psychologischen Gesetzen sich im menschlichen Geiste dar-
zustellen vermag.
Die Lösung dieses Widerstreites liegt darin, dass die göttliche
Offienbarung in ihrer funktionellen Identität mit dem menschlichen
Glauben genommen werden muss. Dadurch wird dem Rationalismus
sein Recht, insofern die Funktion ausschliesslich im menschlichen
Geistesleben verläuft und an dessen natürliche Gesetze gebunden ist,
und es wird dem Supranaturalismus^ sein Recht, insofern diese gesetz-
massig verlaufende menschliche Geistesfunktion zugleich als AktuaU-
sirung des religiösen Verhältnisses eine göttUch determinirte ist, also
ebensowohl Funktion Gh)tte8 als Funktion des Menschen genannt
werden muss. Die Schwierigkeit, an welcher die Accommodations-
theorie der supranaturalistischen Theologie scheitert, dass Gott aus
äusseren Gründen in mer einseitig göttlichen Funktion seine gött-
liche Natur verleugnen und zur relativen Unwahrheit verstellen soll,
sehwindet hier dadurch, dass die natürliche Gesetzlichkeit des mensch-
liehen Geistesprocesses das Material ist, in welchem und durch
welches die göttliche Funktion sich darstellt; was für die einseitig
göttliche Funktion eine ihrer Selbstheit sich entäussemde Acconmiodation
wäre, ist für die doppelseitige gottmenschliche Funktion der normale,
selbsverständliche, naturgesetzmässige Verlauf. Insofern es aus-
schliesshch die menschlichen Geistesfunktionen sind, in welchen der
OffenbaruBgsakt sich vollziehen kann, kann von einer Anbequemung
der Offenbarung nicht mehr die Rede sein; indem aber die mensch-
lichen Geistesfnnktionen, welche das ausschliessliche Material der
Offenbarung bilden, mit der ünvoUkommenheit eines endlichen
Bewusstseins behaftet sind, können sie selbstverständhch auch nur
eine relative, nicht die absolute Wahrheit zum Ausdruck bringen.
Der Werth dieser relativen Wahrheit ist kein absoluter, aber er kann
trotz seiner Relativität praktisch mehr oder minder ausreichend sein,
imi das religiöse Verhältniss zu verwirklichen; er ist ein sehr ver-
6*
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84 ^- ^ ^^ religiöse Verkältniss als doppelseitige, gottL u. ibenschl. fWktion.
schiedener, je nach dem Grade der Annäherung der relativen Wahr-
heit an die absolute. Dass auch in der relativen Wahrheit Wahr-
heit liege, Wahrheit überhaupt, Wahrheit schlechthin, ohne welche
auch die relative Wahrheit nicht relative Wahrheit heissen
könnte, das ist der berechtigte Gedanke, den die supranaturalistische
Theologie retten will, wenn sie den mderspruchsvollen Satz aufstellt,
dass die Offenbarung absolute Wahrheit biete, wenn auch in mensch-
lich unvollkommene Formen gekleidet; grade diese widerspruchsvolle
Fassung verleitet aber dazu, den rein graduellen Unterschied zwischen
der relativen Wahrheit der eigenen Religion und derjenigen der
fremden zu verkennen.
Wir haben nunmehr noch auf die Hauptformen der intellektuellen
menschlichen Funktion einen Blick zu werfen, in welchen die göttliche
Offenbarung ihren Ausdruck findet.
Jeder geistige Inhalt tritt zunächst als Anschauung in das Be-
wusstsein ein, sei es als Wahrnehmung, sei es als Erinnerungs-
vorstellung einer früheren Wahrnehmung, sei es als anschauliche
Phantasievorstellung, welche aus Bestandtheilen früherer sinnlicher
Wahrnehmungen selbstthätig ein nicht wahrgenommenes Ganzes zu-
sammensetzt. Allen diesen Arten der Anschauung gemeinsam ist die
Form der Sinnlichkeit, aber es wäre ein grosser Irrthum, zu glapben,
dass die Sinnlichkeit allein genüge, um die Form der Anschauung zu
konstituiren und dass auch der Inhalt der Anschauung ein bloss
sinnlicher sei. Schon der Fortgang von der Erinnerungsvorstellung
zur Phantasievorstellung zeigt, dass der Geist in der Form der
empirischen Sinnlichkeit über den empirisch gebotenen Inhalt hinaus-
geht, indem er synthetisch konstruktiv mit dem sinnlichen Anschau-
ungsmaterial schaltet und dadurch sein schöpferisches Vermögen
bewährt; dieser Fortgang über die sinnliche Erfahrung wäre un-
verständlich, wenn nicht schon in der empirischen Anschauung selbst
eine aktive geistige Produktivität sich äusserte trotz des aus der
Unbewusstheit dieser Produktion entspringenden Scheines einer rein
passiven Receptivität des Bewusstseins. Die Sinnlichkeit als solche
liefert nur Empfindung, nicht Anschauung, und erst der Intellekt
formirt durch seine vorbewusste (apriorische) Thätigkeit aus den
sinnlichen Empfindungen die Anschauung. In Folge dessen ist die
Anschauung ein Gewebe ans sinnlicher und intellektueller Geistes-
funktion, so dass es kein Wunder ist, wenn hinterdrein die Anschau-
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2. Offenbanmgsgnade xmd intellektaeller Glaube. g5
nng trotz ihrer sinnlichen Form henntzt wird, nm aus ihr und durch
sie zu geistigem Inhalt empor zu steigen. Ja sogar die Bausteine
der Anschauung, die sinnlichen Empfindungen, sind selbst zwar
psychologisch determinirte, aber doch spontane und aktive Reaktionen
des Geistes auf die Gehirnschwingungen, zeigen also trotz ihrer
scheinbaren Passivität doch eine ganz entschiedene Aktivität und
Produktivität des Geistes an, welche aus der nämlichen Wurzel (dem
teleologischen Unbewussten) entspringt, wie die sekundäre intellektuelle
Reaktion auf den so gesetzten primären Bewusstseinsinhalt.
Wenn somit zunächst die Anschauung als Medium der Offen-
barung dient, so liegt die ünangemessenheit dieses Ausdrucksmittels
der Wahrheit allerdings in seiner sinnlichen Form, gleichviel ob die
empirische Wahrnehmung (z. B. Himmel, Sonne, Blitz), oder ein
Gedächtnissbild derselben (z. B. die Sonne in der Nacht, der Blitz
bei klarem Wetter), oder eine Phantasiekombination von Erfahrungs-
elementen (z. B. ein geflügelter Stier, ein menschenköpfiger Löwe)
das Objekt des religiösen Verhältnisses darstellen soll. Aber diese
Unangemessenheit des Ausdrucks vermag nur die absolute Wahrheit
zur relativen herabzusetzen, nicht ihr gänzlich den Charakter der
Wahrheit zu benehmen ; denn in der sinnlichen Form der Anschauung
drückt sich thatsächlich mehr als ein bloss sinnlicher Inhalt, drückt
sich ein geistiger Gedankengehalt aus, der die absolute Wahrheit in
höherem oder geringerem Grade ahnungsvoll anticipirt. Der Geist
verbindet mit solchen Anschauungen einen Sinn, der tiefer ist als die
sinnliche Anschauung selbst ; indem er das Anschauungsbild nicht als
solches, nicht um seiner selbst willen ergreift und festhält, sondern
um des übersinnlichen Sinnes willen, den er hineinlegt, wird ihm das
Bild zum Sinnbild. Hierbei wird aber Bild und Sinn noch nicht
unterschieden, so lange das Bewusstsein auf der Stufe der Anschauung
stehen bleibt; denn um von dem Anschauungsbilde als solchen den
tieferen geistigen Sinn unterscheiden zu können, müsste eben schon
eine ändere Form neben der Anschauung gewonnen sein, in welcher
der Sinn im Gegensatz zur Anschauung ausgedrückt würde. So dient
die Anschauung als Sinnbild, lange bevor sie als Sinnbild gewusst
wird ; das Erwachen dieses Bewusstseins wird grade zu dem kritischen
Punkt, wo die Anschauung als solche als unzulänglich zur Erfassung
der Wahrheit begriffen wird, und das Suchen nach einer angemessene-
ren Form beginnt.
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8Q A. II. Das religiöse Verhältniss als doppelseitige, göttL n. menschL Funktion.
Insoweit sinnliche Anschauung als unangemessene Fonn begriffen
ist, muss das Suchen nach der angemesseneren Form von der aa-
schaulichen Sinnlichkeit absehen oder abstrahiren; so gelangt es zur
abstrakten Vorstellung. Indem der suchende Geist von den mannig-
faltigen sinnlichen Anschauungen, welche in buntschillerndem Wechsel
zum Ausdruck des Göttlichen dienen, die sinnliche Form abstreift,
gelangt er zu etwas, das allen diesen Anschauungen als Sinnbildern
gemeinsam ist, d. h. zu einer allgemeinen Vorstellung oder dnem
BegrifiF. Indem jede dieser Gemeinvorstellungen eben wegen ihrer
abstrakten Natur sich als einseitig und insofern unwahr erweist,
drängt die suchende Eeflexion zu immer neuen abstrakten Bestim-
mungen, deren Vielheit der Reihe nach durchlaufen werden muss;
d.h. die Reflexion in Vorstellungen ist diskursiv. Die Abstraktion
hat verschiedene Grade, je nachdem ein grösserer oder geringerer
Theil der zum Abstraktionsmaterial dienenden Anschauungen von der
Vorstellung ausgeschieden, beziehungsweise in der Vorstellung fest-
gehalten wird; jede Vorstellung bleibt also einerseits mehr oder
minder mit sinnlicher Form behaftet, während sie sich andrerseits
gegen die sinnliche Form kehrt. Für den die sinnliche Form über-
steigenden Gehalt der Vorstellung, den Begriff, klammert sich der
Geist an das äussere konventionelle Zeichen des Wortes, welches dazu
dient, bei seiner Wiederkehr den an und für sich unfassbaren Begriffs-
inhalt durch theilweise Wiederholung seiner Genesis im Geiste neu
zu entbinden. So schwebt und schillert alle Vorstellung zwischen
Sinnlichkeit und Begriff und verleitet nur zu leicht dazu, den todten
Buchstaben, das Wort, an die Stelle des Begriffs, das konventionelle
Aneinanderreihen von Worten an die Stelle eines lebendigen Geistes-
processes zu setzen. Die Vorstellung ist die Leiter, auf welcher der
Gedanke von der Anschauung zur Idee emporklimmt, und grade darum
ist ihr allmählicher fliessender Uebergang von dem einen Extrem zum
andern so unentbehrlich und werthvoU; aber wenn sie in ihrer Be-
deutung als Uebergangsstufe verkannt und vom blossen Mittel zum
Selbstzweck erhoben wird, dann bleibt der Geist auf der Leiter
stehen, weil er des Sprossensteigens müde wird, oder er kehrt gar
zum Ausgangspunkt zurück.
In der That ist ja die Anschauung in vieler Hinsicht einheitlicher
und ansprechender als die Vorstellung; sie ist konkret, wo diese ab-
strakt ist, — komplex und simultan (d. h. mit einem Blick das Ganze
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2. OffenlMffangsgnade und intellekta^er Glaube. . g7
omspaimeiid), wo diese diskarsiv und successiv ist, — ruhig in sich
ges&ttigt, wo diese von ihrer Einseitigkeit zum Aufsuchen immer
neuer Ergänzungen getrieben wird, — selbötgenügsam in sich be-
friedigt, wo diese durch ihre unvamitteltea Gegensätze (von sinnlicher
Fonn und übersisBlichem Inhalt) in immer neue Selbstwidersprüche
verwickelt wird. Wer also den positiven Gehalt der Vorstellung in
den positiven konservirten Besten des sinnlichen Abstraktionsmaterials
oder gar in dem sinnlichen Zeichen des Wortes sucht, der kann in
der That in dem Fortgang von der Anschauung zur Yorstellung nur
einen Missgriff erkennen, und muss nothwendig die Umkehr fordern
zu dem reflexionslosen, darum aber auch widerspruchsfreien Stand-
punkt d^ konkreten Intuition; so kam Schleiermacher dazu, die Be^
ligion als Gefühl und Anschauung zu bestinmien. Wer hingegen
der Meinung ist, dass die Vorstellung out ihrem Best von sinnlicher
Form nur ein Sinnbild höherer Ordnung für den positiven über-
^«nlichen Gehalt ist, der sich an den Worten in und bei dem Denken
wirklich im Geiste entbindet, der wird darauf dringen, den Weg, den
die Vorstellung wandelt, nach vorw&rts (wenn auch nur approximativ)
zu. Ende zu fahren, d. h. von der sinnlich-begrifftichen Vorstellung
zu der Idee fortzuscdireiten.
Dies geschieht, indem sich die Spekulation über die Beflexion
erhebt» wie diese sich über die Intuition erhoben hat In der In-
tuition wird der unmittelbare (d. h. unbewusst selbstproducirte) Be-
wusstseinsinhalt unmittelbar in seiner Ganzheit vom Bewusstsein
percijrirt; in der Beflexion wird er gebrochen und entstellt, aber zu-
gleich analyärt und mit dem Verständniss durchdrungen; in der
Spekulation werden die geistig werthvollen Ergebnisse der Analyse,
die bleibend werthvollen Strahlen im Brennspiegel der Synthese ver-
einigt und in dem im Brennpunkt erzeugten Spiegelbild zusammen-
geschaut. Wenn alle Vorstellungen des religiösen Objekts möglichst
ihrer Sinnlichkeit entkleidet und zu reinen Begriffen emporgeläutert
werden, wenn die Wortbezeichnungen dieser Begriffe nur noch als
die Parfumfiäschchen betrachtet werden, aus denen beim Oeffnen sich
momentan der geistige Duft entbindet, wenn all dieser unsagbare und
sinnlich unaufzeigbare Duft in ein Bouquet zusammenströmt, dann
ist dies die Idee. Die spekulative Idee ist demnach ebenso komplex,
simultan und konkret wie die Anschauung, ohne gleich ihr und der
Vorstellung sinnlich zu sein; sie ist synthetisch kombinatorisch wie
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gg A. II. Bas religiöse Verhältniss als doppelseitige, götÜ. u. menschl. Funktion.
die PhantasievorstelluDg, ohne gleich ihr willkürlich, phantastisch,
und dadurch unwahr zu sein ; sie ist übersinnlich wie der Begriff olme
gleich ihm einseitig und diskursiv zu sein. Die spekulative Idee ist
als solche ein Ideal, das sich nur annähernd psychologisch realisiren
lässt, aber allein an dem Grade der Annäherung an dieses Ideal bemisst
sich aller Werth intellektueller menschlicher Geistesthätigkeit. Der
Fortgang von der Anschauung zur Vorstellung wäre eine widersinnige
Preisgebung der intuitiven Wahrheit, wenn nicht die Vorstellung auf
jeder Stufe die Tendenz hätte, der Idee wenigstens von einer Seite
her näher zu kommen, als die Anschauung es ihr ist, und die An-
schauung selbst könnte nicht unbewusstes Sinnbild sein, wenn die
Idee nicht implicite als der tiefere Sinn des Bildes in ihr steckte
und vom Glauben ahnungsvoll herausgelesen würde.
Dass die spekulative Idee die adäquateste Form ist, in welcher
das Absolute im menschlichen Geiste zum Ausdruck gelangen kann,
ist von Hegel richtig erkannt worden ; aber um so verkehrter ist seine
Ansicht, dass die Beligion die Wahrheit nur in der Form der Vor-
stellung biete, — denn daraus würde folgen, dass mit Eintritt des
adäquatesten Ausdrucks für das Absolute im Bewusstsein das Absolute
aufhöre, Objekt des religiösen Verhältnisses und damit Inhalt des
religiösen Bewusstseins zu sein. Dass die Beligion auch da existirt,
wo das Absolute nur in der Form der Vorstellung oder der An-
schauung gewusst wird, ist zweifellos; aber man sollte es doch för
selbstverständlich halten, dass da, wo das Absolute zu seiner ad-
äquatesten Offenbarung im Menschengeist gelangt, die Möglichkeit
zur Verwirklichung des religiösen Verhältnisses nicht aufhört, sondern
gradezu erst die möglichst günstigen Bedingungen far eine möglichst
vollendete Entfaltung des religiösen Verhältnisses gegeben smd.
Wenn die Anschauung und Vorstellung auch schon ein religiöses
Verhältniss ermöglichen, so ist es doch nur darum, weil beide die
Idee implicite mehr oder minder unvollkommen oder einseitig in sich
enthalten und daher für das religiöse Bewusstsein als ein, wenn auch
unzulänglicher, Ersatz der Idee, als relative Wahrheit gelten können;
in dem Maasse, als der Mensch der spekulativen Idee sich annähert,
d. h. das vorher ahnungsvoll Durchschimmernde in ungetrübter Eein-
heit erfasst, in dem Maasse nähert sich die relative Wahrheit der
Offenbarung der absoluten, in dem Maasse werden also die intellektuellen
Grundlagen für das vollkommene religiöse Verhältniss günstiger, weil
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3. Erlösungsgnade imd Gemüthsglaube. g9
von störenden Trübungen geläutert. Nur dann, wenn die adäquate
Auffassung des Absoluten in Gestalt der Idee die ünbrauchbarkeit
desselben zum Objekt eines religiösen Verhältnisses darthun sollte,
wäre Hegels Ansicht begründet; dann wäre damit aber auch die
Religion nicht mehr auf die relative Wahrheit, sondern auf die
relative Unwahrheit der Vorstellung begründet, d. h. ebenso zur
Hlnsion herabgesetzt wie von einem antispekulativen Empirismus, der
allen tieferen Sinn der empirischen Anschauungen und Vorstellungen
für phantastische Einbildung erklärt. In Wahrheit lag es Hegel fern,
zu dieser Folgerung der linkshegelschen Schule Anlass geben zu
wollen; die wahren Konsequenzen seiner Religionsphilosophie sind
deshalb erst von der neuhegelschen spekulativen Theologie gezogen
worden.
3. Erlösnngsgnade und Gemüthsglanbe.
Die Gnade hätte keine Gelegenheit, als Erlösungsakt aufzutreten,
wenn der Mensch nicht erlösungsbedürftig wäre, d. h. sich bedrückt,
elend und unselig fühlte, und zwar aus Gründen, welche abzustellen,
seine natürliche menschliche Macht nicht ausreicht; das Bewusst-
sein von dem mit natürlichen Mitteln unheilbaren Elend des Daseins,
d. h. der Pessimismus, ist also die unerlässliche Vorbedingung aller
Erlösungsreligion und die psychologische Wurzel ihres Zustande-
konmiens. Mag der Optimismus immerhin als Intellektualismus und
Moralismus sich einen mehr oder minder religiösen Anstrich geben,
so kann er doch niemals Gemüthsreligion sein, weil alle Gemüths-
religion wesentlich Erlösungsreligion ist; da aber das Gemüth das
Centrum des religiösen Lebens ist, so bewegt sich der Optimismus in
dem Widerspruch, eine Peripherie ohne Centrum sein zu wollen, das
heisst, der religiöse Anstrich seines Intellektualismus und Moralismus
ist selbst nur ein erborgter falscher Schein, der mit seinem princi-
piellen Standpunkt in Widerspruch steht.
Ehe man die Frage beantworten kann, was Erlösung sei, muss
man zunächst feststellen, wovon der Mensch erlöst zu werden wünscht,
d. h. welcher Art seine TJnseligkeit ist. Da zeigt sich denn, dass
dieselbe zwiefacher Art ist, nämlich Uebel und Schuld, dass aber
beide koordinirte Folgen der Abhängigkeit von der Welt sind; die
Weltabhängigkeit ist der unselige Druck, der auf dem Ich lastet,
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90 -^^ n. Das religiöse yerhültnisB als doppelseitige, götÜ. a. menscbl. Funktion.
und dessen Beflex in dem natürlich-praktischen, eudftmonistiscfaai
Bewusstsein als TJebel, dessen Beflex im sittlichen Bewusstsän als
Schuld erscheint.
Der Mensch ist in seinem praktischen Verhalten instinktiver
Egoist; er sucht die Olttckseligkeit fQr sich zu erringen, und setzt an
dieses Ziel alle seine Kräfte. Die Welt erscheint ihm zunächst als
wohlthätige Macht, insofern sie den Schauplatz dieses Bingens dai>
stellt und ihm die Mittel zur Befriedigung seiner einzelnen Begdirungea
zu enthalten scheint; bsdd aber muss der Mensch 8i<^ überzeugen,
dass die Glückseligkeit um so rascher vor ihm flieht, je eifriger er
ihr nachjagt, dass seine unüberwindliche Abhängigkeit von der Welt
und deren Widerständen ihn hindert, sein Ziel zu erreichen. Diese
Abhängigkeit empfindet er nun als üebel und verlangt von den
Göttern Erlösung von diesem üebel. So lange der Mensch auf der
eudämonistischen Stufe des praktischen religiös-sittlichen Bewusstseins
verharrt, vermag er sich diese Erlösung nicht anders zu denken, als
in Gestalt einer Götterhilfe, welche durch Beseitigung der Widerstände
der Welt ihm die Erreichung der Glückseligkeit ermöglicht; wenn
diese Form der Erlösung allmählig zu naiv befanden wird, so tritt
an deren Stelle die phantastische Vorstellung einer anders ein-
gerichteten jenseitigen Welt, in welcher alle Hindemisse der Glück-
seligkeit ein für allemal aufgehoben und ausgeschlossen sind. In der
einen wie in der andern Form schliesst dieser Begriff der Erlösung
von dem üebel die Voraussetzungen in sich, dass einerseits die gegen-
wärtigen Gesetze und Naturverhältnisse der Welt zeitweilig oder
dauernd aufgehoben werden könnten und würden, und dass in der
Natur des menschlichen Geistes selbst keine Hindemisse für die Er-
reichung der Glückseligkeit gelegen seien.
Eine bessere Erkenntniss der Bedeutung der Naturgesetze stellt
es ausser Zweifel, dass denselben, so lange überhaupt eine Welt
besteht, unauf hebbare Geltung zukommen muss ; eine bessere Erkennt-
niss der Beschaffenheit des menschlichen Geistes und seiner inneren
Gesetze macht es klar, dass derselbe in jeder wie immer beschaffenen
Welt seiner eigenen Natur nach gleich unfähig ist, zur Glückseligkeit
zu gelangen. Die Unabänderlichkeit der Naturgesetze fQr die ge-
sammte Dauer des Weltprooesses im weitesten Sinne und die Glücks-
unfähigkeit des menschlichen Geistes machen also den Erlösungsbegriff
der eudämonistischen Vorstufe des religiösen Bewusstseins zu einer
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3. Erlösungsgnade und Gemüthsglaube. 91
Illusion, deren Durchschaunng erst das Elend des Daseins in seiner
ganzen Grösse zum Bewusstsein bringt, d. h. das Erlösungsbedürfhiss
auf seinen Gipfel erhebt. Erst dann wird der Mensch reif für wirk-
liche, wahrhafte Erlösungsreligion, wenn er aufhört, auf Götterhilfe zur
realen Beseitigung der ihn quälenden Uebel zu hoffen, und einsieht,
dass die auf ewig glücksunfähige Natur seines eigenen Geistes mit
zu jener naturgesetzlichen Beschaffenheit der Welt gehört, in der
Abhängigkeit von welcher eben das Uebel besteht. Der Begriff der
Erlösung vom Uebel muss jetzt seine Bedeutung umkehren; was als
der üebel grösstes gilt, für das Individuum der Tod, für das Uni-
versum das Aufhören des Weltprocesses und die Weltvernichtung,
das erscheint nun als einzige reale Erlösung und gewinnt in diesem
Sinne eine vorher ungeahnte Bedeutung für das religiöse Bewusstsein.
Neb^ diesem realen Erlösungsbegriff läuft aber ein idealer ein-
her, der ebenfalls in der Umkehrung des ganzen bisherigen Stand-
punkts wurzelt; wenn während des Weltprocesses die Gesammtheit
und während des Lebens der Einzelne nicht realiter vom Uebel zu
erlösen ist, so muss er idealiter davon erlöst werden, insofern er von
einem praktischen Princip erlöst wird, welches ihm die Abhängigkeit
von der Welt als Uebel erscheinen lässt. Dieses praktische Princip
ist aber der egoistische Eudämonismus, welcher die eigne Glückselig-
keit als Lebenszweck und die Welt als Mittel zu demselben betrachtet;
denn nur aus dem Gesichtspunkte dieses Princips erscheint die Ab-
hängigkeit von der Welt, welche die Erreichung dieses Zieles hindert,
als ein Uebel im religiösen Sinne. Indem also der Mensch von der
Herrschaft des eudämonistischen Princips erlöst wird, wird er zugleich
idealiter vom Uebel erlöst; zwar bestehen realiter die Hemmungen,
welche die Welt seinem Streben entgegensetzt, und die Unlust, welche
er dabei naturgemäss empfindet, weiter fort, aber es hört die irrthüm-
liche Meinung auf, dass mit solchen Hemmungen der eigenen Glück-
seligkeit jedesmal der Weltzweck und der eigne Daseinszweck verfehlt
sei, dass also die persönlichen Misserfolge und Leiden zugleich ein
mehr als subjektives, ein objektives Uebel im Lichte des absoluten
Daseinszweckes seien.
Der Mensch hört sonach nicht auf, das subjektive Uebel als
solches zu empfinden, aber er überwindet dasselbe idealiter, indem
er dasselbe als relativ gleichgültig, als unerheblich in Bezug auf
seinen Daseinszweck beteachten lernt; di« Erhebung vom eudämonisti-
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92 A. II. Das religiöse Verhältniss als doppelseitige, gotÜ. u. menschl. Funktion.
sehen zu einem höheren, nicht mehr egoistischen Standpunkt, wie die
. wahre Religion sie darbietet, schliesst also in der That schon bei
Lebzeiten des Individuums eine ideale Erlösung vom Uebel in sieh.
Zwar ist mit dieser Wendung keineswegs die Schwierigkeit beseitigt,
warum das Objekt des religiösen Verhältnisses als absoluter Weltgrund
in den vielen Individuen die vielen subjektiven Leiden zulasse, aber
sie ist doch in eine andre Phase gerückt; denn vorher musste der
egoistische Mensch seinem Gotte grollen, der die Vereitelung seines
Daseinszweckes durch die Welt zuliess, während jetzt der selbst-
verleugnend religiöse Mensch sich nur noch zu fragen hat, warum
sein Gott ihm wie allen Menschen unbeschadet der offen stehenden
Erfüllung seines Daseinszweckes nebenbei so überwiegendes Leid zu
tragen gebe.
Parallel mit der Entwickelung des Begriffs der Erlösung vom
üebel geht die Entwickelung des Begriffs der Erlösung von der
Schuld; in dem Maasse, als die Bedeutung der ersteren vermittelst
der idealen üeberwindung des egoistisch-eudämonistischen Standpunkts
durch den religiös-sittlichen sich abschwächt, in dem Maasse gewinnt
die Sehnsucht nach Erlösung von der Schuld an Gewicht. So lange
nämlich der Daseinszweck des Menschen in der Glückseligkeit gesucht
wird, kann die sittliche Bethatigung nur als Nebenzweck angesehen
werden, also auch die aus derselben entspringenden Konflikte des
religiös-sittlichen Bewusstseins an Wichtigkeit mit denen des egoisti-
schen Bewusstseins nicht wetteifern; sobald dagegen die Beförderung
der objektiven Zwecke des Absoluten oder die Herbeiführung der
göttlichen Willensziele als Daseinszweck jedes Einzelnen gelten, müssen
auch die Konflikte zwischen dem wirklichen Verhalten des Menschen
und diesem seinem Daseinszweck in die erstere Beihe treten. Die
Schuld wird also um so schwerer und drückender vom religiösen
Bewusstsein empfunden, je vollständiger die ideale Üeberwindung des
üebels gelingt, d. h. je mehr das religiöse Bewusstsein in sich erstarkt
und sich vervollkommnet.
Das Schuldbewusstsein unterscheidet sich dadurch vom Leiden
durch Uebel, dass ersteres ein bereits irgendwie entwickeltes religiös-
sittliches Bewusstsein voraussetzt, während das letztere nichts als den
instinktiven egoistischen Glückseligkeitstrieb zur Unterlage hat; die
Hemmung des eigenen Strebens wird ohne Weiteres als Uebel em-
pfanden, während das Schuldgefühl den Konflikt zwischen Pflicht und
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3. firlosuugsgnade und Gemutksglaubd. 03
Neigung, zwischen sittlicher Weltordnung und eigenwilliger That
voraussetzt. Die Reflexion über das Uebel als vermeintliche Vereite-
lung des individuellen Daseinszweckes führt den Menschen dahin,
wider Gott zu murren und zu grollen; die Reflexion über die Schuld
als wirkliche Vereitelung des individuellen Daseinszweckes führt den
Menschen dazu, sieh mit Gott zerfallen zu fühlen, oder bei vorstellungs-
mässiger Vergegeuständlichung dieses Gefühls Gott als ihm zürnend
zu denken. Wie die Erlösung vom üebel zwar die Thatsache des
realen Uebels, nicht aufheben kann, wohl aber den aus ihr gezogenen
Groll gegen Gott, so wird auch die Erlösung von der Schuld
zwar die schuldbegründende That oder Absicht nicht ungeschehen
machen können, wohl aber das Gefühl des Zerfallenseins mit Gott, '
oder die Vorstellung von dessen Zürnen über die Schuld, zu tilgen
haben.
Auch die Schuld entspringt ebenso wie das Uebel aus der Ab-
htopgkeit von der Welt. Der Mensch will wohl das Gute, er will
sich der sittlichen Weltordnung unterordnen oder mit dem göttlichen
Willen im Einklang erhalten, denn wenn er das nicht wollte, so wäre
er auch keines Schuldgefühls fähig ; aber sein Wille wird von diesem
Ziele, das dem eigentlichen innersten Kern seines Wesens entspricht,
abgelenkt, und zwar durch lauter Faktoren, welche der Welt und
ihrem naturgesetzlichen Zusammenhang angehören und als solche dem
eigentlichen besseren Ich des Menschen als äussere Faktoren, als
Nichtich im weiteren Sinne, gegenüberstehen. Der Wille zur positiven
VerwirkUchung des Guten erlahmt an der Trägheit, an der natur-
gemäss mit jeder angestrengten dauernden Arbeit verknüpften Unlust
der Ermüdung, an dem natürlichen Hang des Menschen zur behag-
lichen Bequemlichkeit und süssen Ruhe; er wird durchkreuzt durch
zahllose andre Willenserregungen, die an und für sich sittlich in-
different sein mögen, aber durch die Zersplitterung der individuellen
Energie und ihre Ablenkung von positiv werthvoUen Zielen als sitt-
liche Hemmnisse wirken. Der negativ gegen das Böse gekehrte
sittliche Wille dagegen hat zu kämpfen mit allen Reizen und Ver-
lockungen zum Bösen, welche die Welt dem Menschen vorhält, und
welchen die natürliche Beschaffenheit des Menschen bereitwillig ent-
gegenkommt; diese natürliche Beschaffenheit des Menschen ist eben
als der instinktive Eudämonismus zu bezeichnen, in dessen üeber-
Windung wir die Erlösung vom Uebel erkannt hatten, der aber trotz
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94 -Ä.. n. Bas religiöse Terkältniss als doppelseitige, göttl. u. mensckl. Punktion.
seiner Ueberwindung von Fall zu Fall doch immer die natürliche
Grundlage des praktischen Lebens bleibt.
Ebenso wie wir bei der Betrachtung des Uebels den tiefsten
Grund der Unaufhebbarkeit^ desselben in der Beschaffenheit der
menschlichen Natur, nämlich in ihrer Unfähigkeit zur Glückseligkeit
fanden, so finden wir hier jetzt den tiefsten Grund für die Unmöglichkeit
eines gänzlichen AufhOrens menschlicher Verschuldung in der Beschaffen-
heit der menschlichen Natur, nämlich in ihrer Unfähigkeit zur Tollende-
ten Sittlichkeit, die in dem instinktiven egoistischen Eudämonismus be-
gründet ist Die Schuld entsteht also immer nur dadurch, dass der
Mensch, durch Beize der äusseren Welt verlockt, aus dem Standpunkt
selbstverleugnender Sittlichkeit in den innerlich bereits überwundenen
Standpunkt egoistischen Glückseligkeitsstrebens zurückfällt, und sich
durch diesen Bückfall zu Begehrungen oder Handlungen verleiten
lässt, welche mit den Forderungen seines sittlichen Bewusstseins in
Widerspruch stehen; die Scjiuld ist somit ein vom Menschen eigent-
lich nicht gewolltes Produkt seiner Abhängigkeit von der Welt und
ihrer natürlichen Gesetzmässigkeit, welche ebensowohl die objektive
Beschaffenheit der Motive als die subjektive Beschaffenheit seiner
Motivirbarkeit, d. h. die objektive Natur der Dinge und die subjektive
Natur seiner Triebe und Instinkte in sich schliesst.
Als unmittelbare Folge der in einem Bückfall aus dem sittlichen
in den eudämonistischen Standpunkt bestehenden Schuld ist der Ver-
lust der idealen Erlösung vom Uebel für die Folgen der schuldigen
That mitgesetzt; denn indem die Ueberwindung des eudämonistischen
Standpunktes durch den reUgiOs-sittlichen für diesen Specialfall durch
die Schuld als misslungen konstatirt ist, bleiben auch die idealiter
erlösenden Wirkungen dieser Ueberwindung für die aus der That re-
sultirenden Uebel aus, d. h. dieselben werden nicht mehr bloss als
subjektiv-reale Uebel, sondern auch als objektive Uebel, als Vereitelung
des in der schuldigen That dokumentirten individuellen Daseinszweckes
empfunden. Indem das religiös-sittliche Bewusstsein diesen Unter-
schied sehr wohl fühlt und diese Verschärfung in der Empfindung
des Uebels als Folge seiner Schuld anerkennt , wird zunächst . die
drückende Last des Sohuldbewusstseins erschwert, die Qual des Zer-
fallenseins mit Gott um die Qual der eingebüssten idealen Erlösung
vom Uebel vermehrt; aber auf der andern Seite wird diese Steigerung
des Druckes doch schon zum Wegweiser für die Richtung, in welcher
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3. Eriösungsgnade wad Gemüthsglaube. 95
die ErlosQBg Ton der Schuld UBd von dem mit ihr verknüpften Uebel
zu Süohen ist.
Fftr eine den einheitlichen gotttmenschlichen Erlösungsprocess in
zwei getrennte Hälften anseinanderreissende Vorstellung drückt sich
dies so aus, dass ebenso, wie das Geftlhl des gestörten religiösen
Verhältnisses als Zorn auf Gott hinausprojicirt wird, so auch nunmehr
das Gefühl der durch die Schuld verschärften Empfindung des Uebels
als Strafe auf Gott hinausprojicirt wird. Hiermit ist aber nichts
weiter gesagt, als was die immanente Verknüpfang von Schuld (als
Backfall auf den eudämonistischen Standpunkt) und Verlust der Er-
lösung vom Uebel (durch Negation dieses Standpunkts) auch schon
ausdrückt; es wird nur dasjenige, was in seinem immanenten Zu-
sammenhang selbstverständlich ist, durch Entrückung in eine trans-
cendente Feme unverständlich gemacht, und zugleich die Gefahr
heraufbeschworen^ dass der auf diese Weise doch einmal dem Ver-
atftndniss entrückte Zusanunenhang zwischen Schuld und üebel-
verschärfimg vom Aberglauben zu einer Alteration des naturgesetz-
lichen Weltprocesses durch Gottes strafenden Eingriff entstellt
werde.
Jedenfalls deutet auch in seiner vorstellungsmässigen Gestalt der
Zusammenhang von Schuld und üebelverschärfung darauf hin, dass
die Erlösung von der Schuld auf dem nämlichen Wege zu suchen
sei wie die Erlösung vom Uebel, nämlich auf dem Wege der Ueber-
windung der Abhängigkeit von der Welt und vor Allem auf dem
Wege der Ueberwindung des egoistischen Eudämonismus, in welchem die
Abhängigkeit von der zur Welt gehörigen natürlichen Beschaffenheit
des organisch-psychischen Individuums ihren Gipfel und den Haupt-
angriflfepunkt far alle von der übrigen Welt her anzusetzenden Hebel
der Motivation besitzt. Aber die Aufgabe ist auf dem Gebiete der
Schuld darum noch weit schwieriger, weil es sich hier nicht mehr,
wie auf dem Gebiete des Uebels, um eine bloss ideale Ueberwindung
der Abhängigkeit von der Welt handelt, sondern um eine ganz reale,
um Ueberwindung der weltlichen Motivation durch eine ihr entgegen-
gesetzte. Wenn die Erlösung vom Uebel darin bestand, das Uebel
nicht mehr im Lichte des instinktiven eignen Glückseligkeitsstrebens,
sondern im lichte der persönlich zu lösenden sittlichen Lebens-
aufgaben zu betrachten, so muss die Erlösung von der Schuld in der
Gewinnung eines Standpunktes bestehen, welcher von der Macht der
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Ö6 A. tL Das religiöse Verhäitoiss als doppelseitige, gottl. u. menschl. i^oktioil.
Motive zum Qoietismus und zum Bösen principiell unabhängig macht
und durch diese principielie Umwandlung der Gesinnung, aus welcher
die Schuld entsprang, das gestörte religiöse Verhältniss neu anknüpft.
Eine solche Leistung geht nun offenbar über die Leistungsfähig-
keit des Menschen, gofem er noch in seiner instinktiv natürlichen
Geistesbeschaffenheit befangen ist, hinaus ; das natürliche menschliche
Bewusstsein gelangt höchstens bis zum Pessimismus und der Einsicht
in den Bankerott des egoistischen Eudämonismus, aber es sucht in
sich selbst vergebens den Punkt, von dem aus es seine Abhängigkeit
von der Welt in dem oben angegebenen Sinne aus den Angeln
heben könnte. Der Standpunkt der Verzweiflung ist leer und die
Selbstverleugnung hat nur dann sittlichen Werth, wenn sie die Kehr-
seiten eines positiven sittlichen Strebens ist, welches aus dem Stand-
punkt des Eudämonismus eben nicht sich zu entfalten vermag. Der
immer wieder auffcauchende Schein des Gegentheils entspringt nur
daraus, dass unter den instinktiven Trieben des Menschen auch eine
Menge sind, welche zu einem jenseits des eigenen Glückes liegenden
Ziele führen, obwohl der Mensch diese Ziele doch wieder nur deshalb
verfolgt, weil sie seinen instinktiven Trieben Befriedigung versprechen,
d. h. seine Glückseligkeit zu fördern geeignet scheinen; alle eu-
dämonistische Pseudomoral schöpft ihre Scheinbarkeit aus den zu-
fiüligen oder teleologisch prästabilirten Harmonien zwischen eudämo-
nistischen und sittlichen Pordenmgen, scheitert aber unweigerlich an
deren Konflikten, wo das Reich der eigentlichen Sittlichkeit erst
beginnt. Wahre Sittlichkeit kann nur da entstehen, wo eine supra-
naturalistische und supraindividualistische Machte wie z. B. die
unbewusste Vernunft, sich in die Strebungen, Gefühle imd Gedanken
des Menschen hineinsenkt, ihm supraindividualistische, objektive Ziele
steckt und ihm die supranaturalistische Kraft zu ihrer Verfolgung auch
im Widerstreit mit seinen natürlichen Interessen und Neigungen
verleiht, unbeschadet dessen, dass dieser Widerstreit sich in den
Formen und nach den Gesetzen des natürlichen Geisteslebens vollzieht
und entscheidet. Insofern solche übernatürliche Macht, wie z. B. die
(unbewusste) Vernunft, mit zum' Wesen des Menschen gehört und
ein integrirender Bestandtheil desselben ist, ohne welchen der Mensch
nicht Mensch wäre, kann man sagen, dass die Erhebung über den
instinktiven Eudämonismus mit zur Natur des Menschen gehöre; aber
dann ist Natur in einem weiteren Sinne genommen, als wenn man
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3. Srlosungsgnade und (j^müthsglaube. 97
von der natürlichen Seite des tiiensclilichen Geisteslebens im Unter-
schied von oder im Gegensatz zu den ihr einwohnenden übernatür-
lichen geistigen Mächten spricht. Es genügt hier festzuhalten, dass
die Erhebung des Menschen über den im engeren Sinne natürlichen
Standpunkt des praktischen Verhaltens nur mit Hilfe der ihm ein-
wohnenden übernatürlichen Mächte erfolgt, und dass auch alle vor-
bereitenden Schritte auf diesem Wege, insbesondere die Herausbildung
moralischer Instinkte, nur auf diese Weise durch das unbewusste
Walten supranaturalistischer Faktoren zu Stande kommt.
Ist nun die Erhebung über die Abhängigkeit von der natürlichen
Welt nur durch eine Macht möglich, die jenseits und über der
natürlichen Welt zu suchen ist, d. h. in jenen Principien, welche die
natürliche Welt und ihre Gesetze selbst erst hervorbringen, so
liegt die Quelle der Kraft für die Erhebung über die Welt nicht
mehr in der Welt, sondern in dem Grunde der Welt. Wissen-
schaftlich würde sich dieser Gegensatz so ausdrücken, dass diese
Erhebung nicht mehr aus phänomenalen, sondern aus metaphysischen
Faktoren entspringt; da aber für das religiöse Bewusstsein der ein-
heitliche absolute Weltgrund mit dem Objekt des religiösen Verhält-
nisses, mit Gott, zusammenfällt, so müssen die in das individuelle
Geistesleben hineinragenden Funktionen desselben unter den Begriff
der Gnade fallen. Für das religiöse Bewusstsein ist also die Erhebung
des Menschen über die Abhängigkeit von der Welt ein Akt der
Gnade, welche hier als Erlösung zu bezeichnen ist, insofern die Er-
hebung über die Abhängigkeit von der Welt eben die Erlösung von
üebel und Schuld einschliesst. Die Erlösung ist also niemals als
einseitig menschliche Funktion zu begreifen, und ist in einem Men-
schen ohne göttliche Gnadeneinwohnung schlechterdings unmöglich;
sie kann sich nur vollziehen in einem Menschen, der als solcher zu-
gleich Schauplatz göttlicher Thätigkeit ist, ist also eine gottmensch-
liche Funktion oder eine specielle Aktualisirung des religiösen Ver-
hältnisses, so zwar, dass sie die specifisch göttliche Seite dieser
doppelseitigen Funktion darstellt.
Die Erlösung besteht darin, dass der Mensch im Bewusstwerden
seiner centralen, einheitlichen, wurzelhaften, metaphysischen Abhängig-
keit von Gott sich über die peripherische, endlos zersplitterte und
verästelte phänomenale Abhängigkeit von der Welt hinausgehoben
fohlt und in der absoluten metaphysischen Abhängigkeit von dem
y. Hart mann, Die Beligion des Geistes. 7
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98 -Ä.. IL Das religiöse Terhältniss als doppelseitige, göttl. u. menschl. Funktion.
absoluten Weltgrund zugleich jenes Gefühl der Freiheit gevdnnt, das
er im Kampf des eigenen Ich gegen die phänomenale Abhängigkeit
von der Welt vergebens sucht. In der Erscheinungswelt steht das
Ich allerdings immer nur einer relativen und endlichen Kausalität
gegenüber, und grade darin liegt für jeden einzelnen Fall die Er-
muthigung, den Kampf mit der beschränkten individuellen Kraft auf-
zunehmen ; aber gegen die endlose Menge dieser endlichen Kausalitäten
verschwindet die begrenzte Widerstandskraft des Ich, und was den
Kampf noch aussichtsloser macht, das ist der Umstand, dass es den
Feind nicht nur ausserhalb, sondern sogar innerhalb der eigenen
Mauern, d. h. der eigenen organisch -psychischen Individualität zu
bekämpfen hat. Darum ist der Kampf des Ich gegen die Welt
hoffnungslos, so lange es nur seine eigenen individuellen Ziele verfolgt
und sich nur auf die eigene Kraft stützt; die vermeintliche Freiheit
der Selbstbestinmiung des Ich in diesem Gegensatz löst sich in eine
gesetzmässige Determination natürlicher Motive und Triebe auf. Erst
dann kann der Kampf Aussicht auf Erfolg bieten, wenn das Ich sich
aller phänomenalen Weltkausalität gegenüber auf die Macht des über-
natürlichen Weltgrundes stützt, dessen Ziele zu seinen Zielen macht,
und nun mit providentiell geblähten Segeln im Fahrwasser der absoluten
Zwecke segelt. Dann findet das Ich sein wahres Selbst, das es vor-
her vergebens in der natürlichen Bestimmtheit seiner organisch-
psychischen Individualität suchte, in der es durchwohnenden absoluten
Idee, d. h. in demjenigen konstituirenden Bestandtheil seiner gesammten
geistig-sittlichen Persönlichkeit, welcher von dem religiösen Bewusst-
sein als Gnade bezeichnet wird ; weil es aber in dieser ihm immanenten
göttlichen Funktion mit Recht nicht mehr etwas Fremdes, sondern
sein besseres Ich, oder sein wahres tiefstes Selbst erkennt, darum
weiss es sich in der Hingabe an dessen Ziele auch nicht heteronom,
sondern autonom, wahrhaft aus dem eigensten Selbst bestimmt, d. h.
frei. So setzt die Erlösungsgnade nicht bloss die eine Abhängigkeit
an Stelle der andern, nicht bloss eine urständliche an Stelle der
aussenständlichen, sondern sie setzt an Stelle der unfrei machenden
endlichen Abhängigkeit die frei machende absolute Abhängigkeit, die-
jenige Versenkung in den absoluten Weltgrund, welche zugleich Ver-
senkung in den tiefsten innersten Wesenskerns des Individuums,
d. h. Freiheit ist und als «Freiheit in Gott» gewusst und ge-
fühlt wird.
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3. Erlösnngsgnade und Gemütlisglaube. 99
Wir haben nunmehr noch die menschliche Seite der doppel-
seitigen Punktion zu betrachten, deren göttliche Seite wir als Erlösung
kennen gelernt haben. Diese menschliche Seite muss eine besondere
Art des Glaubens sein, wie die göttliche eine besondere Art der Gnade
ist; im Unterschied von dem der OfiFenbarung korrespondirenden
intellektuellen Glauben werden wir ihn als Gemüthsglauben bezeichnen
dürfen. Denn wie die Offenbarung diejenige Gestalt der Gnade dar-
stellt, welche sich an den menschlichen Intellekt richtet, so die Er-
lösung diejenige Gestalt der Gnade, welche sich an das menschliche
Gemtlth wendet ; wie eine vorstellungsmässige Trennung der zusammen-
gehörigen Seiten der einheitlichen Funktion den intellektuellen Glauben
als die menschliche Aneignung der göttlichen Offenbarung definiren
würde, so den Gemüthsglauben als die menschliche Aneignung der
von Gott dargebotenen Erlösung ; aus dem Gesichtspunkt der Identität
von Gnade und Glaube hingegen kann von einer Aneignung der Gnade
nur in dem Sinne die Rede sein, dass das Besessene mehr und mehr
erworben, das unbewusst Gegebene zum BeT?usstsein gebracht, das an
sich Seiende entfaltet und durchgebildet wird, welcher Aneignungs-
process aber selbst wieder in jedem seiner Momente um nichts weniger
Gnade als Glaube ist. Wenn die religiöse Punktion als Gefühl uns
in das innerste Herz der Beligion einführt und den geheimsten
Pulsschlag des religiösen Lebens blosslegt, so muss auch die Erlösung
das Centrum der Gnade und der ihr korrespondirende Gemüthsglaube
der Mittelpunkt des Glaubens überhaupt sein, in welchem das Wesen
des Glaubens als solchen sich am unmittelbarsten enthüllt.
Der Glaube ist nun zunächst wesentlich ein sich Geloben und
sich Verloben, ein vertrauensvolles und treues sich Hingeben des
Menschen mit seinem Herzen und seiner ganzen Persönlichkeit an
Gott ; er ruht als solcher auf der Selbstverleugnung als dem Verzicht
auf die egoistischen Porderungen der instinktiven Natur des Menschen,
und bildet selbst die positive Kehrseite jenes negativen und an sich
rein werthlosen Resignationsstandpunktes. Der Gemüthsglaube ist die
Einwilligung des Gefühls in die Abdankung des natürlichen Eudä-
monismus und in dessen Ersetzung durch den religiös-sittlichen
Standpunkt; er ist die Versenkung des Menschen in den absoluten
Weltgrund, der zugleich der absolute Grund des Menschen selbst ist,
die Anerkennung, dass nur die diesem göttlichen Ursprung gemässen
Ziele auch dem Daseinszweck des Menschen entsprechen können, und
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100 A. n. Das leligiofie Yerhaltiuss als doppelseitige, g5til. fu menscbL Fanktion.
damit zugleich die Einssetzmig des menschlichen Wollens nnd Strebens
mit dem Göttlichen; er ist die Benutzung der sich darbietenden
Möglichkeit zur Ueberwindung der realitiven Abhängigkeit von der
Welt mit Hilfe der absoluten Abhängigkeit von Gott und dadurch zu-
gleich zur Erlangung der Freiheit in Gott
Nimmt man den Glauben bloss als Hingebung, so druckt man
allerdings das Wesen desselben richtig aus, aber doch nur das erste
Moment desselben, gleichsam den ersten Anlauf des Menschen zur
Aneignung der Erlösungsgnade, nicht das volle Erfassen derselben;
die Erlösung selbst erscheint unter diesem Gesichtspunkt leicht zu
einseitig als eine ausschliesslich göttliche Funktion, deren Eintritt den
Glauben als Hingebung zu seiner ebenso einseitig menschlichen Vor-
bedingung hat Deshalb ist es richtig, zu betonen, dass der Glaube
als Hingebung einerseits nur die allgemeine Form des Glaubens dar-
stellt, mit welcher das menschliche Gefühl in jedem besonderen Fall
sich zu demjenigen Höhepunkt der Funktion aufschwingt, welcher dem
Centralpunkt der göttlichen Erlösungnade entspricht, und dass er
andererseits selbst schon Gnade ist, insofern er dem natürlichen
Menschen als solchen unerreichbar ist Dasjenige zweite Moment des
Gemüthsglaubens, welches als Gipfelpunkt des jeweiligen menschlichen
Gefühlsprocesses der centralen göttlichen Funktion der Erlösung haar-
scharf korrespondirt, oder vielmehr mit derselben funktionell identisch
ist, ist die Versöhnung. So wenig der Mensch als natürliches Indivi-
duum, d. h. abstrahirt von der ihm immanenten göttlichen Gnade,
aktives Subjekt seiner Erlösung sein kann, eben so wenig kann Gott
Subjekt der Versöhnung sein; wo diese Annahme gemacht wird, be-
wegt sich die Vorstellung von Gott noch auf einem niederen anthro-
popathischen Niveau. Gott braucht schlechterdings nicht mit dem
Menschen versöhnt zu werden, da er nie mit ihm entzweit ist und
nie mit ihm entzweit sein kann; nur der Mensch, der seinerseits in
seinem Bewusstsein Gott entfremdete und mit Gott zerfallene, hat es
nöthig, sich mit Gott zu versöhnen, und dies geschieht eben durch
die Aneignung oder Entfaltung der von Gott dargebotenen Erlösungs-
gnade. So ist es Gott, der den Menschen von Uebel und Schuld
erlöst, aber es ist der Mensch, der sich mit Gott versöhnt, wider den
er als den Urheber der üebel murrte, und mit dem er wegen seiner
Schuld sich zerfallen fühlte. So wenig Gott den Menschen erlösen
kann, wenn der Mensch nicht mit dabei ist, d. h. wenn die göttliche
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3. Erlösungsgnade und Gemüthsglanbe. 101
Erlösung des Menschen nicht zugleich menschliche Versöhnung mit
Gott ist, ebensowenig kann der Mensch sich mit Gott versöhnen, wenn
Gott nicht dabei ist, d. h. wenn der menschliche Versöhnungsglaube nicht
zugleich göttliche Erlösungsgnade ist. Dass Erlösung und Versöhnung
funktionell identisch, erhellt auch daraus, dass die nämlichen Zustände
im menschlichen Gemüth mit gleichem Recht als Wirkungen der Er-
lösung wie als Wirkungen der Versöhnung hingestellt werden können.
Hier beim Gemüthsglauben und der auf das Gefühl gerichteten
Gnade haben wir es zunächst nur mit denjenigen Wirkungen der
Erlösung- Versöhnung zu thun, welche sich als unmittelbare Gefuhls-
resonanzen darstellen und als solche unabtrennbar mit zur Versöhnung
gehören. Das, wovon der Mensch erlöst wird, ist das Gefühl der
Unseligkeit in seinen verschiedenen Gestalten, wie es aus der Ab-
hängigkeit von der Welt entspringt; der Akt der Erlösung selbst ist
also die Beseitigung und Aufhebung der Unseligkeit, oder der Moment
des üeberganges von einem unseligen zu einem nicht mehr unseligen
Gefühlszustande. In dieser Befreiung von der Unseligkeit fühlt der
Mensch sich beseligt; denn die Aufhebung der Unlust ist auch eine
Lust, und wird um so deutlicher als solche bewusst, je entschiedener
das Verlangen nach Freiwerden von der Unlust als Verlangen bewusst
geworden war. Die Versöhnung wirkt also beseligend, indem der nicht
mehr unselige Gefühlszustand als Kontrast mit dem unseligen empfunden
wird und seine Erlangung als Befriedigung des Willens zur Aufhebung
des unseligen Zustandes zum Bewusstsein kommt; der nicht mehr
unselige Gefühlszustand erscheint relativ als Seligkeit, so lange der
Kontrast mit der durch die Erlösung überwundenen Unseligkeit im
Bewusstsein lebendig bleibt. Absolut genommen, d. h. abgesehen von
dieser Relativität zur vorhergehenden Unseligkeit, bietet aber die Ver-
söhnung keine Seligkeit; an und für sich ist die Wiederherstellung des
gestörten religiösen Verhältnisses kein positiver Gewinn, sondern nur der
Ausgleich eines Verlustes. Sobald also die Reflexion auf den Kontrast
mit der vorhergehenden Unseligkeit aus dem Bewusstsein entschwindet,
hört auch die lediglich im Kontrast empfundene Seligkeit auf, und
es bleibt ein weder positiver noch negativer Gefühlszustand übrig.
Dieser absolut genommene indifferente Gefuhlszustand ist aber
für das Bewusstsein doch etwas anderes als die Indifferenz des Aus-
gangspunktes; denn wenn in diesem die Unseligkeit der Kämpfe und
Störungen noch vor ihm lagen, so liegen sie jetzt als überwundene
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102 A. II. Das religiöse Verhältniss als doppelseitige, göttl. u. menschl. Funktion.
hinter ihm. Der aus der Versöhnung folgende bleibende Gefuhls-
zustand ist nicht die Windstille vor dem Sturm, sondern nach dem-
selben, es ist der ruhige Hafen, in den das Schiff des religiösen Be-
wusstseins nach den Stürmen des Lebens eingelaufen ist und in dem
es sich geborgen weiss. Die treffende Bezeichnung für diesen Gemüths-
zustand ist Friede, der gleich fem von positiver Seligkeit wie von
Unseligkeit ist und in entschiedenem Gegensatz steht gegen alle
relative Beseligung neuer Versöhnungsakte, die nur um den Preis
neuer Störungen und Unseligkeitsgefuhle zu erkaufen sind. Der Friede,
der aus der Versöhnung des Menschen mit Gott folgt, ist Friede in
Gott oder Gottesfrieden, und als solcher das unmittelbare Gefuhls-
korrelat des Zustandes, welchen die rationelle Betrachtung als Freiheit
in Gott bezeichnet. Der Friede ist der Nachklang der Versöhnung,
wie die Hingebung der Anlauf zu derselben; Hingebung, Versöhnung
und Friede bilden den aufsteigenden Theil, den umschlagenden Gipfel
und den absteigenden Theil einer einheitlichen Gefühlswelle, deren
Totalität als Gemüthsglaube dem Gnadenakt der Erlösung entspricht.
4. Heiligungsgnade und praktischer Glaube.
Die dritte Gestalt der Gnade ist diejenige, welche sich auf den
Willen richtet. Das Ziel derselben kann kein anderes sein als das,
den menschlichen Willen zu einem solchen zu machen, dass er mit
dem religiösen Verhältniss und seinen Konsequenzen nicht mehr im
Widerspruch steht, sondern sich im Einklang befindet. Nun fordert
das religiöse Verhältniss die Erhebung über die relative Abhängigkeit
von der Welt zur absoluten Abhängigkeit vom absoluten Weltgrund,
.welche zugleich Freiheit in Gott ist Demgemäss wird auch die
Heiligung zwei unterscheidbare Momente zeigen, je nachdem auf die
negative Ueberwindung der Abhängigkeit von der Welt oder auf die
positive Hingabe an die absolute Abhängigkeit von Gott reflektirt
wird. Im ersteren Fall besteht die Heiligung darin, dass die Weltlich-
keit der Gesinnung, die Abhängigkeit von weltlichen Motiven und die
Befangenheit im instinktiven egoistischen Eudämonismus abgestreift
wird als etwas, das dem religiösen Verhältniss nicht gemäss ist; im
letzteren Falle besteht die Heiligung darin, dass die absoluten Zwecke
als Individualzwecke acceptirt, die objektiven Ziele auch als subjektive
Ziele gesetzt, der Eigenwille in den Dienst des göttlichen Willens ge-
stellt und die ihm anhaftende Energie als eine Triebkraft mehr in den
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4. Heiligungsgnade und praktischer Glaube. 103
providentieHen Weltprocess eingestellt wird. In ersterer Hinsicht ist
die Heiligung noch negativ, eine Läuterung und Reinigung von dem
Unheiligen, das dem natürlichen Menschen als solchen anhaftet; in
letzterer Hinsicht ist sie positiv, eine Weihe zum selbsfcverläugnenden
Wirken und Schaffen um Gottes willen. Durch die negative Heili-
g-ung mrd der menschliche Wille von denjenigen natürlichen Eigen-
schaften befreit, welche ihn hindern, ein Werkzeug der Vorsehung zu
werden; durch die positive Heiligung wird ihm das positive Verlangen
eingehaucht, ein solches Werkzeug der göttlichen Idee zu werden und
die ihm zu Gebote stehende natürliche Energie nur noch in diesem
Sinne zu verwenden.
Menschlicherseits stellt die negative Heiligung sich dar als sitt-
liche Freiheit, die positive als sittliche Energie. Die sittliche Freiheit
ist eben die Ueberwindung aller derjenigen Faktoren des natürlichen
Geisteslebens, welche an der ungestörten positiven Entfaltung der
sittlichen Energie hindern könnten; die sittliche Energie selbst aber
i«t das dem Individuum zu Gebote stehende Maass eigner Willens-
kraft im Dienste positiv sittlicher Ziele. Die sittliche Freiheit als
Zustand ist selbstverständlich für den Menschen ein Ideal, dem er
sich nur approximativ durch die unablässige Arbeit der sittlichen
Selbstbefreiung nähert; die wirkliche sittliche Freiheit ist immer nur
das jeweilige Eesultat jener nie aufhörenden Selbstbefreiungsarbeit,
welche selbst einen sehr beträchtlichen Theil der sittlichen Energie ver-
zehrt. Die zur positiven Entfaltung verfügbar bleibende sittliche Energie
ist also thatsächlich nur die Differenz zwischen der sittlichen Total-
energie des Individuums und der auf die Erkämpfung der sittlichen Frei-
heit verausgabten Energie. Die sittliche Feiheit und sittliche Energie
zusammen bilden die individuelle Sittlichkeit als einheitliches Ganze.
Wo die Selbstbefreiungsarbeit erfolgreich genug ist, um eine
nennenswerthe Energie zur positiven Entfaltung übrig zu lassen, und
zuverlässig genug eingeübt, um vor ernsteren Rückfilllen zu sichern,
da nennt man die individuelle Sitllichkeit Tugend; insofern aber die
Tugend ein Ergebniss der Heiligung ist, wird sie Heiligkeit genannt.
Tugend ist nur die zur Fertigkeit und dadurch zum garantirten Besitz
gewordene Sittlichkeit ; Heiligkeit ist nichts anderes als Tugend, welche
im religiösen Verhältniss wurzelt, bei welcher also die sittliche Selbst-
zucht und das positive sittliche Wirken zugleich Aktualisirung des
religiösen Verhältnisses sind. Wo nämlich die sittliche Selbstzucht
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104 A.n. Das religiöse VerhaltDiss als doppelseitige, götü. u. menschL Funktion.
und das positive sittliche Wirken des Menschen zugleich Aktualisirung
des religiösen Verhältnisses sind, da stellen sie doch erst die eine,
menschliche Seite dieses Verhältnisses dar, welcher als andere, göttliche
Seite die Heiligung entspricht; das Ergebniss der Heiligung kann aber
nicht wohl anders als Heiligkeit genannt werden und ist dies der
Zustand des Willens, welcher dem Gottesfrieden als Gemüthszustand
korrespondirt. Es ist also ganz irrig, bei Heiligkeit an einen höheren
Grad von Sittlichkeit zu denken, als bei Tugend; der Unterschied ist
nicht ein quantitativer, sondern ein qualitativer und hängt lediglich
davon ab, ob die Sittlichkeit im religiösen Verhältniss wurzelt und
aus diesem ihre Kraft schöpft oder nicht. Dabei bleibt natürlich die
weitere Frage offen, ob auf die Dauer längerer Generationen eine
ächte Sittlichkeit ohne den stützenden Boden des religiösen Verhält-
nisses bestehen kann, beziehungsweise ob nicht auch für den Einzelnen
die Versenkung in das religiöse Verhältniss die günstigsten Chancen
für die Verwirklichung seiner sittlichen Anlagen bietet; die Beant-
wortung dieser Frage liegt bereits in dem oben über den religiösen
Moralismus Gesagten.
Die sittliche Selbstbefreiungsarbeit oder Selbstzucht und das
positive sittliche Wirken sind, wie wir oben sahen, die negative und
die positive Aeusserung der sittlichen Gesammtenergie ; sie sind
Processe im menschlichen Geistesleben, welche nach den psychologischen
Gesetzen der Motivation verlaufen müssen, also schlechthin determinirt
sind und für den Eintritt einer indeterministischen Willensfreiheit,
gleichviel ob in empirischer oder transcendenter Bedeutung, keinen
Kaum lassen. Hieran kann auch die als Heiligung auftretende Gnade
nicht das Geringste ändern. Wird dieselbe immanent verstanden als
die bloss göttliche Seite einer doppelseitigen religiösen Funktion^ so
ist es von vornherein ausser Zweifel, dass dieselbe sich nur in den
Formen und nach den Gesetzen des menschlichen Geisteslebens ent-
falten kann; dann ist also ein indeterministischer Gnadenakt aus-
geschlossen, insofern nicht ohnehin * schon im einseitig menschlichen
Geistesleben eine indeterministische Freiheit statuirt wird. Wird
dagegen die Gnade transcendent verstanden als die Funktion eines
transcendenten Gottes, welche in magisch supranaturalistischer Weise
in den Geistesprocess des Menschen hineintritt, so fehlt allerdings die
Determinirtheit derselben auf der menschlichen Seite, aber damit auch
jede organische Einfügung in den menschlichen Geistesprocess, Wenn
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4. Heiligosgsgnade nnd praktischer Glaube. 105
also der Mensch nicht schon als solcher eine indeterministische Frei-
heit besitzt, so kann die Gnade sie ihm auf keinen Fall zubringen ;
denn entweder ist dieselbe ihm immanent, dann ist sie an die gesetz-
liche Determination seines Geisteslebens gebunden, oder sie kommt
formell einer dämonischen Besessenheit gleich, dann ist sie wiederum
nichts, was seinem Geisteslebens angehörte, und bringt ihm als Person
nicht eine indeterministische Freiheit, sondern eine neue, fremde,
heteronome Determination zu seiner eigenen autonomen hinzu. Der
Gedanke ist also auf alle Fälle verfehlt, das Wirken der Heiligungs-
gnade ausserhalb der gesetzlichen Determination des menschlichen
Geisteslebens durch den an und für sich widersinnigen Begriff einer
indeterministischen Freiheit verständlich machen zu wollen, und es
bleibt nichts übrig, als das Verständniss für dieselbe innerhalb der
deterministischen Motivation zu suchen.
Insofern alle sittliche Selbstbestimmung des Willens durch Motive
erfolgen muss und die nach der nicht-sittlichen Seite hin ziehenden
Motive zu überwinden hat, hängt ihr Gelingen von der Selbst-
vorhaltung der entsprechenden sittlichen Motive ab, d. h. davon, dass
zu rechter Zeit die rechten Vorstellungen in genügender Lebhaftigkeit
wachgerufen werden, welche geeignet sind, die weltlich-eudämonistischen
Motive zu überwinden. Es kommt also alles darauf an, dass der
Wille stets auf der Lauer liegt, um jede Gelegenheit zu sittlicher Be-
thätigung zu ergreifen, und als Motiv zur Erzeugung der geeigneten
Vorstellungen auf sich wirken zu lassen ; alle Schuld reducirt sich
unter diesem psychologischen Gesichtspunkt auf eine fahrlässige Ver-
sämnniss des sittlichen Willens, der nicht wachsam genug auf Posten
war, um rechtzeitig die nöthigen Vorkehrungen gegen Ueberrumpelung
durch weMch-eudämonistische Motive zu treffen.*) Es fragt sich nun,
was den Willen dazu motiviren kann, beständig mit geschärfter Auf-
merksamkeit en vedette zu liegen, was doch offenbar dem natürlichen
Hang zur Bequemlichkeit widerstrebt. Die einzige mögliche Antwort
ist die, dass' der Wunsch nach sittlicher Bethätigung, die Hoffnung,
durch Achtsamkeit dieses Ziel zu erreichen, und die Furcht, durch
Unachtsamkeit es zu verfehlen, zu dieser Sorgfalt antreiben, welche
mit der Zeit durch Uebung mehr und mehr zur Fertigkeit wird; es
ist also der allgemeine Wunsch nach persönlicher Verwirklichung der
*) Die nähere Ausführung dieser Andeutungen erfolgt erst später in der
„religiösen Anthropologie".
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106 ^- n. Das religiöse Yerhältniss als doppelseitige, gÖtÜ. u. menschl. Funktion.
sittlichen Idee, welcher zwar nicht direkt zur Sittlichkeit führt, wohl
aber indirekt durch sorgfilltige Benutzung der sich darbietenden Gelegen-
heiten und durch Wachrufen der zu sittlichen Motiven in jedem be-
sonderen Falle geeigneten Vorstellungen. In diesem allgemeinen
Wunsch nach persönlicher Verwirklichung der sittlichen Idee werden
wir also die letzte und oberste Triebfeder des sittlichen Motivations-
processes zu erkennen haben, und wir werden denselben am passend-
sten mit der Bezeichnung «sittliche Gesinnung» belegen. Insofern nun
diese sittliche Gesinnung ihre Wurzeln in dem religiösen Verhältniss hat,
werden wir sie im Unterschied von einer aus anderen Quellen stammenden
sittlichen Gesinnung «religiös-sittliche Gesinnung» nennen müssen.
Nach dem oben Gesagten ist die religiös-sittliche Gesinnung das-
jenige Moment, in welchem die religiöse Funktion als Gefahl in die
religiöse Funktion als Wille umschlägt; sie ist eine stetige, inhaltlich
bestimmte Willensrichtung, welche zwar für gewöhnlich latent ist und
in diesem Zustande der Latenz zunächst nur Gefühl zu sein scheint,
welche aber doch in jedem Augenblicke bereit ist, die latente Spann-
kraft in lebendige Kraft umzusetzen, und dadurch ihre virtuelle Energie,
d. h. ihre wesentliche Willensnatur erweist. Die religiös-ethische Ge-
sinnung ist also recht eigentlich der Glaube auf dem Punkte, wo er
vom Geföhl zur That umschlägt, der Glaube im Moment des Praktisch-
werdens oder mit einem Wort der praktische Glaube. Während die
sittliche Selbstzucht und das positive sittliche Wirken Processe im
religiösen Geistesleben sind, stellt sich der praktische Glaube als die
innerste psychologische Triebfeder dieser Processe dar: der praktische
Glaube ist aber, als die religiös-sittliche Gesinnung, welche sich selbst
als Aktualisirung des religiösen Verhältnisses weiss und fühlt, nichts
anderes als die menschliche Seite der religiösen Funktion, deren gött-
liche Seite Heiligungsgnade heisst. Jeder Glaubensbegriff, der nur
den intellektuellen oder nur den Gemüthsglauben, oder nur die Ein-
heit dieser beiden unter Vernachlässigung oder Zurücksetzung des
praktischen Glaubens kennt, ist ein unvollkommener und einseitiger,
und erweist seine relative Unwahrheit in den aus ihm nothwendig
folgenden und ohne den Begriff des praktischen Glaubens unschlicht-
baren Streitigkeiten über Glauben und Werke. Erst die Einheit von
intellektuellem, gemüthlichem und praktischem Glauben umspannt den
vollen Begriff des Glaubens, wie erst die Einheit von Offenbarung,
Erlösung und Heiligung den ganzen Begriff der Gnade erschöpft.
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4. HeiligUDgsgnade und praktischer Glaube. 107
Wir haben oben bei der einseitig menschlichen Betrachtung der
religiösen Funktion gefunden, dass der religiöse Wille der letzte Zweck
der religiösen Vorstellung und des religiösen Gefühls ist, dass die
religiöse Vorstellung wesentlich nur Bedeutung hat als Motiv des
religiösen Willens, und das religiöse Gefühl nur Bedeutung hat als
Bewusstseinsresonanz des unbewussten Umsetzungsprocesses von Vor-
stellung in Wille ; in noch höherem Grade müssen wir jetzt behaupten,
dass bei der Betrachtung der religiösen Punktion nach ihrer gött-
lichen Seite die Heiligung sich als der eigentliche und letzte Zweck
der Offenbarung und Erlösung darstellt. So wenig der Begriff der
Heiligung einen angebbaren Sinn behält, wenn er nicht zu seiner
Kehrseite und Voraussetzung den der Erlösung besitzt, ebenso wenig
ist die Erlösung von der Schuld als wirkliche Erlösung zu denken,
wenn sie nicht zugleich die Heiligung zum positiven Erfolg hat.
Heiligung ist nur möglich an noch nicht vollkonmien heiligen Sub-
jekten, die demnach der Erlösung von ihren sittlichen Mängeln noch
bedürftig sind; aber Erlösung wäre ein objektiv zweckloses Spiel mit
subjektiven Gefühlen, wenn sie nicht Mittel zur Heiligung wäre.
Diese Wahrheit kann dadurch leicht verdunkelt werden, dass dem
im Zustande des mit Gott zerfallenen religiösen Bewusstseins befind-
lichen Menschen nichts wichtiger scheint als seine Erlösung, weil es
die Erlösung ist, durch welche er persönlich von dem subjektiven
Gefühl der Unseligkeit befreit und relativ beseligt wird; aber dies ist
doch eine subjektive Verschiebung des Gesichtspunktes, welche darum
als höchst gefährlich abgewehrt werden muss, weil sie so leicht den
Rückfall in pseudo-religiösen Eudämonismus herbeiführt, zumal wenn
die relative Beseligung der Erlösung als Erlangung einer positiven
dauernden (ewigen) Seligkeit vorgestellt wird. In solchem Falle ist
die Erlösung keine wahre Erlösung, sondern nur eine Scheinerlösung,
denn der Eudämonismus wechselt nur sein Kleid, behauptet aber
seine principielle Herrschaft; indem die gebotene Erlösung zwar dem
Scheine nach acceptirt wird, thatsächlich aber die Aktualisirung des
religiösen Verhältnisses selbst in den Dienst des eudämonistischen
Princips gestellt wird, geht der von der Erlösung zu erwartende
Gewinn wieder verloren. Die Erlösung ist nur da eine wahre, wo sie
den Menschen von allem selbstsüchtigen Glückseligkeitsstreben, also
auch von demjenigen nach einer durch die Erlösung selbst zu ge-
winnenden Glückseügkeit frei macht, und dadurch ein allem Eudämonis-
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108 A. n. Das religiöse Yerhältniss als doppelseitige, göttl. n. menschl. Funktion.
mus entgegengesetztes Princip, die selbstverleugnende Hingebung
an den absoluten Weltgrund und seine absoluten Ziele zum herr-
schenden in ihm macht; das heisst aber mit anderen Worten: die
Erlösung ist nur da wahre Erlösung, wo sie nicht selbstständig fdr
sich auftritt und etwas zu bedeuten beansprucht, sondern wo sie in
unlöslicher Einheit mit der Heiligung sich verwirklicht und selbst
nur den Geburtsakt der Heiligung, die Wiedergeburt des Menschen
zu einem neuen, Gott geweihten Leben darstellt.
Objektiv betrachtet, erscheint somit die Erlösung selbst als
Moment der Heiligung, nämlich als die negative Heiligung, welche
den Menschen von dem Princip des alten, natürlichen Lebens und
dessen Folgen reinigt und befreit, und es würde bei einer einseitig
göttlichen Betrachtung der religiösen Funktion kein Grund vorliegen,
die Erlösung von der negativen Seite der Heiligung noch besonders
zu unterscheiden; die Nöthigung zu dieser Unterscheidung entspringt
erst daraus, dass die religiöse Funktion eben keine einseitig göttliche,
sondern eine doppelseitige gottmenschliche Funktion ist, also auch
ein verschiedenes Antlitz gewinnt, je nachdem sie sich als Erlösung
auf das menschliche Gefühl oder als Heiligung auf den menschlichen
Willen bezieht. Hieraus wird aber auch erkennbar, dass ungeachtet
des verschiedenen Antlitzes, welches die göttliche Gnade je nach ihrer
Beziehung auf Gefühl oder Willen gewinnt, doch diese Gnade selbst
ein und dieselbe Funktion ist, mag sie sich nun als Gefühlserlösung
oder als Willensheiligung darstellen. Es ist gleich falsch, die Unter-
schiede der Erlösungsgnade und Heiligungsgnade als gottmenschliche
Funktionen im menschlichen Geistesleben zu verkennen und zu ver-
wischen, wie die wesentliche Identität beider nach ihrer göttlichen
Seite zu bestreiten. Praktisch stellt sich diese Einheit von Identität
(nach der göttlichen Seite) und Unterschied (nach der menschlichen
Seite) so dar, dass Erlösung und Heiligung stets im Verein auftreten;
wie die Gefühls-Erlösung nur wahrhafte Erlösung ist, wenn mit ihr die
Willens-Heiligung Hand in Hand geht, so ist die Willens-Heiligung
nur dann eine wahrhafte, wenn sie die Erlösung zum Ausgangspunkte
hat, und zwar zu einem Ausgangspunkte, der so oft wiederkehren
muss, als noch unüberwundene Beste des natürlichen Lebensprincips
sich geltend zu machen versuchen. Der Charakter der Erlösung oder
der Heiligung kann und wird in verschiedenen Momenten des reli-
giösen Processes abwechselnd vorherrschen und mit Becht wird nach
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4. HeiligiingBgnade und praktischer Glaube. lOd
dem jeweilig vorwiegenden Element die Bezeichnung der jeweiligen
Phase zu wählen sein; aber niemals wird eines dieser Elemente in
völliger Isolirung von andern vorkommen können, wenn die Wahrheit
des religiösen Verhältnisses unversehrt bleiben soll.
Was hier für Erlösung und Heiligung entwickelt ist, das gilt
nicht minder für die dritte Gestalt der Gnade, die Offenbarung. Die
Offenbarung ist niemals Selbstzweck im religiösen Verhältniss, son-
dern immer nur Mittel für Erlösung und Heiligung; das religiöse
Verhältniss hat eben wesentlich eine praktische, nicht eine theoretische
Aufgabe, und die Appellation der Gnade an den Intellekt findet
immer gerade nur insoweit statt, als gewisse intellektuelle Voraus-
setzungen die unerlässliche Vorbedingung für die Lösung der prak-
tischen religiösen Aufgabe bilden. Man kann immerhin zugeben, dass
auch die rein theoretische Entwickelung des wissenschaftlichen Be-
wusstseins der Menschheit über göttliche Dinge eine Selbstbekundung
Gottes im Geistesleben der Menschheit genannt werden dürfe, und
dass diese Entwickelung mit derjenigen der religiösen Offenbarung
geschichtlich in der fruchtbarsten Wechselwirkung stehe; aber diese
theoretische Selbstbekundung Gottes im Geistesleben der Menschheit
darf trotz ihrer Wechselwirkung mit dem Entwickelungsgang des reli-
giösen Bewusstseins der Menschheit doch nicht mit der religiösen
Offenbarung verwechselt, also auch nicht unter den letzteren Begriff
subsumirt werden. Wollte man darauf bestehen, dass der Begriff
Offenbarung weit genug sei, um auch jene theoretische Selbstbekun-
dung Gottes im Menschheitsgeist mit zu umfassen, so müsste man
neben der religiösen Offenbarung eine nichtreligiöse, theoretische,
wissenschaftliche Offenbarung statuiren und die letztere streng von
der ersteren unterscheiden; es scheint aber sprachlich rathsamer, den
auf religiösem Gebiet erwachsenen Ausdruck Offenbarung auch streng
für das religiöse Gebiet zu reserviren und nur die religiöse Offen-
barung mit der Bezeichnung Offenbarung zu belegen.
Die religiöse Offenbarung ist nun ihrem Begriff nach undenkbar
ausserhalb der praktischen Aktualisirung des religiösen Verhältnisses,
welche sich immer zugleich auch in höherem oder geringerem Grade
als Erlösung für das Gefühl und als Heiligung für den Willen dar-
stellen wird. Die Offenbarung tritt also faktisch immer im Verein
mit Erlösung und Heiligung auf, sie ist aber zugleich auch in ihrem
Inhalt durch die nähere Beschaffenheit der Aktualisirung des religiösen
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110 A, n. Das religiöse TerMltoiss als doppelseitige, gStÜ tl menscM. Funktion.
Verhältnisses, d. h. der Erlösung und Heiligung, bedingt. Wie der
erste Anfang der Offenbarung aus dem Erlösungsbedürfiiiss entspringt
und als Ahnung der religiösen Sehnsucht in die Erscheinung tritt, so
entwickelt sich jeder Fortschritt der Oflfenbarung in und mit dem
Fortschritt des praktischen religiösen Verhältnisses; immer ist die
psychologische Vermittelung der Offenbarung in der Frage des Herzens
gegeben: wie muss das rehgiöse Objekt beschaffen sein, um Subjekt
der Erlösung und Heiligung, wie ich sie ersehne, werden zu können?
Jede Vertiefung der Offenbarung geht somit nicht nur Hand in Hand
mit Vertiefung der Erlösung und Heiligung, sondern ist sogar psycho-
logisch durch dieselben bedingt, wenn diese Bedingtheit auch keines-
wegs in das Bewusstsein des betreffenden Menschen zu fallen braucht.
Hieraus erhellt, dass auch die Offenbarungsgnade mit der Erlösungs-
gnade und Heiligungsgnade nach ihrer göttlichen Seite ebenso identisch
ist, wie diese untereinander es sind, und dass die Unterschiede in die
gottmenschlichen Funktionen, deren identische göttliche Seite die
Gnade bildet, erst durch die verschiedenen menschlichen Geistes-
funktionen hineinkommen, in welchen die gottmenschliche religiöse
Funktion sich psychologisch entfaltet.
Als Ergebniss haben wir also festzuhalten, dass die Gnade Eine
ist, welche sich im religiösen Geistesleben des Menschen je nach der
menschlichen Geistesfunktion, auf die sie sich bezieht, als Offenbarangs-
gnade, Erlösungsgnade und Heiligungsgnade darstellt, dass der Glaube
die einheitliche Aeusserung der religiösen Anlage des Menschen ist,
welche sich je nach dem momentanen Uebergewicht der Vorstellung,
des Gefühls oder des Willens bald als intellektueller, bald als gemüth-
licher, bald als praktischer Glaube darstellt, und dass die in allen
ihren Gestalten wesentlich identische göttliche Gnade und der einheit-
üche menschliche Glaube die beiden begrifflich unterschiedenen, aber
untrennbaren Seiten der religiösen Funktion darstellen. Indem diese
doppelseitige, gottmenschliche Funktion die Aktualisirung des rehgiösen
Verhältnisses ist, haben wir in ihr das einheitliche Centrum des religiösen
Lebens ergriffen, welches durch seine Einheit zugleich die Einheit und
Stetigkeit des religiösen Verhältnisses verbürgt, nicht minder aber auch
in ihr den centralen Quell gefunden, aus dem der ganze Eeichthum des
religiösen Lebens in seiner mannichfaltigen Fülle beständig ausströmt,
und in den er zurückkehrt.
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B. Religionsmetaphysik.
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>5
I. Die Metaphysik des religiösen Objekts
oder die Theologie.
Die Religionsmetaphysik unterscheidet sich dadurch von der
theoretischen Metaphysik, dass sie lediglich die Konsequenzen aus
den Postulaten des religiösen Bewusstseins zieht und die unerlässlichen
metaphysischen Voraussetzungen des in der ßeligionspsychologie dar-
gelegten religiösen Verhältnisses entwickelt, während die theoretische
Metaphysik auf dem Wege der wissenschaftlichen Induktion vorgeht.
Die ßeligionsmetaphysik ist also der metaphysische Theil der religiösen
Weltanschauung und muss nach dem oben Gesagten mit dem metaphy-
sischen Theil der theoretischen Weltanschauung zusammenfallen, wenn^
gleich sie auf andere Art als diese gewonnen ist; die Uebereinstimmung
muss um so genauer sein, je wichtiger gerade der metaphysische
Theil der Weltanschauung für das religiöse Bewusstsein ist, je weniger
religiös indiflferente Punkte derselbe enthält. Diese Uebereinstimmung
wird sich vielfach in einem Paralleüsmus der begründenden Ent-
wickelung zwischen Religionsmetaphysik und theoretischer Metaphy-
sik bekunden, und kann dadurch für den Darstellenden leicht die
Versuchung entstehen, aus dem einen in das andere Gebiet über-
zugreifen, ebenso leicht aber auch für den Leser der grundlose Schein
stattgehabter Uebergriffe.
Aus wissenschaftlichem Gesichtspunkt stellt sich die Entwicke-
lung der Religionsmetaphysik aus den Thatsa<5hen des religiösen
Bewusstseins selbst als eine Induktion dar, wenn auch nur als
eine Induktion aus einseitigem Erfahrungsmaterial, das in seiner
Isoürung zu wenig wissenschaftliche Garantie gegen die Deutung als
Komplex psychologisch nothwendiger Illusionen bietet, und deshalb
V. Hartman n, Die Beliglou des Oeistes. S
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114 B. r. Die Metaphysik des religiosea Objekts oder die Theologie.
dringend einer Bestätigung durch die Uebereinstimmung mit der von
breiterer Basis aus inducirten theoretischen Metaphysik bedarf; zu-
gleich aber liefert die Religionsmetaphysik, sobald die induktive
Genesis derselben erkannt ist, selbst eine Ergänzung zu den In-
duktionsreihen der theoretischen Metaphysik, nämlich eine Ver-
breiterung ihrer empirischen Basis. Es ist in der Wissenschaft nichts
Ungewöhnliches, dass verschiedene, von beschränkten empirischen Grund-
lagen ausgehende Induktionsreihen dieselben Resultate liefern und
dadurch sich gegenseitig zur Stütze dienen. Die Wissenschaft der
Metaphysik, welche letzten Endes ganz und gar auf psychologischen
Thatsachen fusst, darf diejenige Klasse von psychologischen Thatsachen,
welche wir unter der Bezeichnung des religiösen Bewusstseins zu-
sammenfassen, unter keinen Umständen vernachlässigen, wenn sie sich
nicht selbst einer Einseitigkeit schuldig machen will; da aber diese
Thatsachen eine in sich geschlossene Gruppe von eigenartigem
Charakter bilden, und für sich allein ausreichen, um aus sich das
Gebiet der Metaphysik induktiv zu entwickeln, so wird es gerathen
scheinen, diesen selbstständigen Entwickelungsgang bestehen zu lassen,
anstatt die Thatsachen mit den anderen durch einander zu mengen.
So ist für das wissenschaftliche Bewusstsein die Religionsmetaphysik
selbst ein Theil der Metaphysik, nämlich eine besondere induktive
Begründungsart derselben aus den Thatsachen des religiösen Be-
wusstseins, welche der aus den übrigen Thatsachenkreisen gewonnenen
Metaphysik zur Bestätigung dient; für das religiöse Bewusstsein hin-
gegen ist sie die unerlässliche Voraussetzung seiner selbst, also ein
praktisches Postulat, welches in der Uebereinstimmung mit der theo-
retischen Metaphysik bloss seine Bewährung findet.
1. Gott als das die Abhängigkeit von der Welt
überwindende Moment.
Das religiöse Bewusstsein besitzt im religiösen Verhältniss Gott
selbst, und weiss, dass es ihn besitzt; es hat also in sich selbst die
unmittelbare Gewissheit Gottes und bedarf keiner Beweise für dessen
Dasein. Wohl aber hat es darüber Klarheit zu suchen, wie Gottes
Wesen beschaffen sein müsse, um diejenigen Leistungen vollbringen
zu können, in welchen die Aktualisirung des religiösen Verhältnisses
besteht, und in der so geforderten Entfaltung der verschiedenen Seiten
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i. 6ott als das die Abhängigkeit von der Welt überwindende Moment. 115
seines Wesens ergeben sich zugleich die religiösen Parallelen für die
Beweise vom Dasein Gottes, wie sie in der theoretischen Metaphysik
üblich sind. Diese Beweise wären völlig bedeutungslos für das
religiöse Bewusstsein, wenn sie nur zeigten, dass ein Gott ist, nicht
was er ist; nur dadurch, dass jeder dieser Beweise eine bestimmte
Seite des göttlichen Wesens enthüllt, tritt er in Parallele zu den
praktischen Postulaten des religiösen Bewusstseins, nicht aber dadurch,
dass er jede nachgewiesene Seite des religiösen Wesens zugleich als
seiend nachweist, was für das religiöse Bewusstsein als solches gleich-
gültig, weü selbstverständlich, ist.
Die erste und fundamentale Leistung, welche das Objekt des
religiösen Verhältnisses zu vollbringen hat, ist die, dass es im Menschen
das Bewusstsein seiner relativen Abhängigkeit von der Welt durch
dasjenige seiner absoluten Abhängigkeit von Gott überwindet; um
dies zu können, muss es die Voraussetzung erfüllen, dass wirklich die
gesammte relative Abhängigkeit, in welcher die Theile der Welt von
einander stehen, gegründet und aufgehoben ist in einer absoluten
Abhängigkeit, in welcher die Theile der Welt allesammt von Gott
stehen. An diesem Gedanken sind wiederum drei verschiedene Seiten
zu unterscheiden, welche der Eeihe nach in's Bewusstsein erhoben
werden müssen.
Zunächst ist zu betrachten der Unterschied des Absoluten und
Eelativen, des Unbedingten und des Bedingten, und in Bezug auf
diesen Unterschied lautet das erste Postulat des religiösen Bewusst-
seins: es ist ein Absolutes.*) Dieses Postulat klingt deduktiv, es ist
aber induktiv; es ruht nämlich näher betrachtet auf der empirischen
Basis, dass etwas ist, und würde mit dieser empirischen Basis hin-
fällig werden. Streng gefasst, würde der Schluss lauten : „wenn nicht
nichts ist, sondern etwas ist, so ist ein Absolutes; nun ist nicht
nichts, sondern etwas (nämlich mindestens das Denken), also ist ein
Absolutes." Der Obersatz dieses Schlusses ist so zu begründen.
Wenn etwas ist, so ist dies Etwas entweder selbst absolut oder nicht;
im letzteren Falle ist es bedingt von einem anderen. Wenn man
den Zusammenhang der Bedingtheit verfolgt, so kommt man ent-
weder auf ein bedingendes Unbedingtes oder nicht ; im ersteren Fall
*) Vgl. ,,NeiLkantianisnius, Schopenhauerianismus und Hegelianismus", 2. AuJBi.,
S. 335—340.
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116 6. I. Die Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
ist dies eine Unbedingte das Absolute, im letzteren Fall ist der ganze
Komplex relativer Bedingtheit das Absolute. Darum ist kein Denken
im Stande, ein Absolutes zu leugnen, und auch diejenigen, welche am
eifrigsten gegen den Begriff des Absoluten zu Felde gezogen sind,
haben ein Absolutes statuirt, z. B. Schopenhauer den Willen, der
Materialismus die Materie, der Sensualismus die Empfindung, der
absolute Illusionismus die Illusion, u. s. w.
In allen Fällen handelt es sich nicht darum, ob es ein Absolutes
gebe, sondern ob dieses Absolute in dem Komplex der wechselseitigen
relativen Bedingtheit oder jenseits derselben in einem diese relative
Bedingtheit bedingenden Unbedingten zu suchen sei. Erstere Ansicht
macht das Universum selbst zum Absoluten, letztere Ansicht macht
es zu einer Position des hinter ihm stehenden Absoluten. Der onto-
logische Begriff des Absoluten selbst kann hierüber keine Auskunft
geben, und darum auch nicht der sogenannte ontologische Beweis, der
nicht weiter als bis zum Begriff des Absoluten führt. Für das religiöse
Bewusstsein aber ist diese Frage auch schon mit ihrer Stellung
entschieden; denn das Objekt des religiösen Verhältnisses muss ja
eben ein solches Absolutes sein, welches den ganzen Zusammen-
hang der relativen Abhängigkeit der Theile der Welt von einander
durch die absolute Abhängigkeit desselben von dem Absoluten
selbst überwindet. Mit anderen Worten: jede Weltanschauung, die
das Universum für das Absolute erklärt, hebt die Möglichkeit des
religiösen Verhältnisses auf, oder lässt dieselbe wenigstens nur in so-
weit bestehen, als sie im Widerspruch mit ihrem eigenen Princip doch
wieder eine absolute Macht hinter und über dem Weltzusammenhang
statuirt (wie z. B. D. F. Strauss die Vernunft).
Hiermit sind wir bereits über den Gesichtskreis des ontologischen
Beweises hinausgegangen und zu der Gedankensphäre des kosmologi-
schen Beweises fortgeschritten, welcher das Absolute und die
Welt in Gegensatz stellt. Der kosmologische Beweis der ^ theoreti-
schen Metaphysik sagt: das Absolute muss der absolute Grund für
die relative Bedingtheit der Theile der Welt durch einander sein,
weil die letztere keine zufilllige, sondern eine gesetzmässig und ein-
heitlich geordnete, also nicht aus sich selbst, sondern nur aus einem
ordnenden Grunde höherer Art erklärbar ist. Der kosmologische Be-
weis der Eeligionsmetaphysik hat es nicht mit dem Erklären, sondern
mit dem Erlösen zu thun, und postulirt ein jenseits und Über der
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1. Gott als das die Abhängigkeit von der Welt überwindende Moment. 117
gesetzmässigen Eausalilftt der natürlichen Weltordnung stehendes Ab-
solutes, weil ein anderes uns nicht von der Abhängigkeit von der '
Welt erlösen könnte. Wäre das Absolute eine Ursache gleicher
Ordnung wie die weltlichen Ursachen, so wäre es diesen koordinirt,
hätte mit ihnen zu kämpfen, wäre durch sie beschränkt und bedingt,
also eben nicht absolut; darum gehören alle religiösen Weltanschau-
ungen einer untergeordneten Stufe des religiösen Bewusstseins an, in
welchen die Götter als Ursachen gleicher Ordnung in den Kampf der
natürlichen Ursachen eingreifen, wie in den polytheistischen Natur-
religionen. Wäre aber auch das Absolute zu der allumfassenden einen
Natur gesteigert, welche in der gesetzmässigen Naturordnung un-
mittelbar ihr eigenes Wesen ausdrückt, so wäre daniit die Erlösung
von dieser weltlichen Bedingtheit durch das Absolute erst recht un-
möglich gemacht, weil die gesetzmässige Naturodnung das letzte un-
übersteigliche Wesen des Absoluten ausdrückte; darum gehören auch
diejenigen religiösen Weltanschauungen einer untergeordneten Stufe
des religiösen Bewusstseins an, welche, sei es in mythologischer
Gestalt wie das Aegypterthum, sei es in philosophischer Gestalt
wie der Spinozismus, sei es in naturwissenschaftlicher Gestalt wie die
moderne mechanistische Weltansicht, den naturaUstischen Monismus
durchbilden.
Wer die blinde Gesetzmässigkeit einer mechanischen Kausalität
für der Weisheit letztes Wort hält, der kann konsequenter Weise in
seinem praktischen Verhalten über epikurisch verfeinerten Eudämonis-
mus oder stoisch resignirte Ataraxie nicht hinaus, und kann -nur
inkonsequenter Weise noch nach einem religiösen Verhältniss verlangen,
dessen erste Vorbedingung darin zu suchen ist, dass die Natur-
ordnung nicht das Letzte, Unüberwindliche, Absolute sei. Ein mytho-
logischer Naturalismus wie der ägyptische konnte noch in gewisser
Weise religiös sein, weil der Begriff der gesetzmässigen Naturordnung
in ihm noch keine Stätte fand, und die Theile der absoluten Natur
sich wie beseelte und gemüthvoUe Wesen benahmen; aber die An-
erkennung der unverbrüchlichen Naturgetzlichkeit in der phänomenalen
Welt macht jede Art von Religion unmöglich, so lange die Natur
selbst als das Absolute angesehen wird. Die Ueberschätzung der
neu entdeckten Gesetzmässigkeit in der Welt, der Aberglaube an die
ünüberwindlichkeit des Natürlichen, mit einem Wort die Verabso-
lutirung der Natur und des phänomenalen Universums, das ist in
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118 B. I. Die Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
unserer Zeit der eigentliche Grund der gefährdeten Religiosität, und
doch bedarf es nur so geringen Besinnens, um sich einzugestehen, dass
alles Natürliche an jedem Punkte auf üebernatürlichem fusst und in
Uebematürliches mündet. Predigt doch jedes Atom der Natur seine
Qbernatürliche Abkunft und Wesenheit, und mündet doch jeder Moment
des mechanischen Processes in innerliche Empfindung, die den Willen
zweckvoll bestimmt!
Hiermit überschreiten wir die Grenzen des kosmologischen Be-
weises und treten in den teleologischen ein. Thatsächlich waltet nicht
bloss mechanisch -materielle Determination im Weltprocess, sondern
auch dynamisch- ideale; jedes Bewusstseinsindividuum bestimmt sein
Verhalten nach Zwecken, die zunächst unbewusst in seinem Motivations-
process fungiren, und noch ehe sie in die geistige Sphäre eintreten,
agiren diese unbewussten Individualzwecke als maassgebende Faktoren
im natürlichen Leben des organischen Individuums. Jedes Individuum
verfolgt seine Zwecke, und diese Zwecke scheinen mit denen anderer
Individuen öfter zu kollidiren als zu harmoniren; der Mensch selbst
steht in diesem allgemeinen Widerstreit der individuellen Interessen
als ein vereinzeltes, relativ ohnmächtiges Glied und eben diese Ohn-
macht gegen die übermächtige Welt ist es, von der er bei Gott Er-
lösung sucht. Nun ist aber Gott nur unter zwei Bedingungen im
Stande, diese Erlösung zu vollziehen: entweder wenn er in den
Widerstreit der eigenwillig gesetzten Individualzwecke als ein nur
durch seine Macht überlegenes, sonst aber koordinirtes Individuum
eingreift, oder aber, wenn die Sonderzwecke der Individuen nur schein-
bar selbstgesetzte Selbstzwecke, in Wahrheit aber gottgesetzte Glieder
einer einheitlichen teleologischen Weltordnung sind. Im ersteren Fall
wäre Gott nicht absolut und die Unverbrüchlichkeit der gesetzmässigen
Naturordnung wäre aufgehoben; diese Seite der Alternative ist also
ausgeschlossen und es bleibt nur die zweite Möglichkeit übrig.
Während jedes Individuum sich als Selbstzweck betrachtet, ist
es in Wahrheit nur Mittel zum absoluten Zweck; soweit der Schein,
Selbstzweck zu sein, mit seiner Aufgabe, Mittel zum absoluten Zweck
zu sein, vereinbar ist, bleibt er zunächst bestehen, aber doch auch
nur als Schein bestehen, und enthüllt sich sofort als Schein, wo der
Eintritt einer Kollision zwischen dem individuellen Selbstzwecke und
der individuellen Aufgabe als Mittel zum absoluten Zweck den ersteren
als das Unsittliche, Nichtseinsollende brandmarkt, Grade in der Bnt-
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1. Gott als das die Abhängigkeit von der Welt überwindende Moment. Hg
schleieruDg dieses Verhältnisses liegt, wie wir oben gesehen haben,
die ideale Erlösung des Individuums vom Uebel; jede Auffassung
hingegen, welche den Schein des Selbstzweckes zur Wahrheit zu er-
heben und das Individuum ebensosehr als Selbstzweck wie als Mittel
hinzustellen sucht, hebt die Möglichkeit der Erlösung vom Uebel auf,
ganz abgesehen von den logischen Widersprüchen, in welche sie sich
verwickelt. Nur dann ist das religiöse Verhältniss möglich, wenn alle
unbewussten und bewussten Sonderzwecke der Individuen, ob mit oder
ohne ihr Wissen, ob mit ihrem Willen oder gegen denselben, auf-
gehoben sind in der allgemeinen teleologischen Weltordnung, wenn
alle Kebellion und alles Ankämpfen gegen den absoluten Zweck doch
nur denselben Erfolg hat wie seine willige Unterstützung, nämlich die
Beförderung seiner Verwirklichung.
Wir sehen hier beim teleologischen Beweise dasselbe Verhältniss
wie beim kosmologischen. Die theoretische Metaphysik beschäftigt
sich damit, das Vorhandensein einer teleologischen Weltordnung in-
duktiv nachzuweisen, indem sie auf die teleologischen Resultate
mechanischer Processe, auf die unbewusste Zweckbethätigung der
organischen Individuen, auf den unbewussten teleologischen Dienst
der in ihren Sonderzwecken befangenen Bewusstseinsindividuen, kurz
auf die unabsichtliche Einordnung jedes Einzelnen als Mittel in den
teleologischen Zusammenhang des Ganzen hinweist und daraus auf
die Einheitlichkeit einer dem Weltprocess immanenten teleologischen
Vernunft schliesst; das Absolute wird als immanentes teleologisches
Princip aufgefasst, weil anders die unbewusste Zweckthätigkeit im
Einzelnen und die unabsichtliche Kooperation der vielen Sonderzwecke
zu einem allgemeinen Zweck nicht erklärlich wäre. Die ßeligions-
metaphysik hingegen fragt wiederum nicht nach der Erklärbarkeit der
Sonderzwecke, soudern nach der Möglichkeit, aus der Abhängigkeit
von denselben erlöst zu werden, und findet diese Möglichkeit nur in
einem Gott, welcher Urheber und Träger einer einheitlichen, alle
Sonderzwecke in sich aufhebenden teleologischen Weltordnung ist.
Der ontologische Beweis begründete nur die Absolutheit des
religiösen Objekts; der kosmologische entrückte es in eine übernatür-
liche und überweltliche Sphäre und machte es zum höheren Grund
der Welt und ihrer gesetzniässigen Natnrordnung ; der teleologische
endlich stellte es als Urheber und Träger einer einheitlichen teleo-
logischen Weltordnung, d. h. als immanente teleologische Vernunft
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120 S- I ^io Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
hin. Alle drei Beweise sind aber nur die drei Seiten des einen Ge-
dankens, dass Gott ein solcher sein muss, dass er mich von der
Abhängigkeit von der Welt erlösen kann; alle drei ergänzen darum
auch einander und liefern verschiedene Bestimmungen für das Wesen
Gottes. Bevor wir weiter gehen, scheint es rathsam, üeberschau zu
halten, welche Bestimmungen für das Wesen Gottes schon auf dieser
Stufe der Erörterung gewonnen sind.
Aus der Absolutheit folgt die Substanzialität und Identität ndt
sich. Die Substanzialität besagt, dass das Absolute nicht in einem
andern, sondern in sich selbst seine Subsistenz hat, im Gegensatz zu
allem Bedingten, welches nicht in sich, sondern in einem andern,
nämlich letzten Endes in dem unbedingten, seine Subsistenz hat, und
seine Existenz einbüssen würde, sobald das Unbedingte aufhören
würde, ihm zu subsistiren. Das Absolute ist eben als Absolutes oder
Unbedingtes nicht ohne Widerspruch als von einem andern bedingt
oder abhängig zu denken, allerdings auch ebenso wenig von sieh
selbst bedingt oder abhängig zu nennen; der gewöhnliche Ausdruck
Aseität hat den Fehler, dass er die Unbedingtheit von anderm positiv
durch die Bedingtheit von sich selbst wiederzugeben versucht. Hier-
durch wird eben auch schon ein Widerspruch gegen den Begriff der
Unbedingtheit gesetzt, und das Bild Münchhausens, der sich am
eignen Zopf aus dem Sumpfe zieht, veranschaulicht in treffender
Weise diesen terminologischen Widerspruch. Man entgeht demselben,
wenn man den Ausdruck Substanzialität an die Stelle von Aseität
setzt, und hat dann nur vor der Verwechselung dieses metaphysischen
Begriffs der Substanzialität mit dem erkenntnisstheoretischen oder
logischen Begriff zu warnen, der durch dasselbe Wort bezeichnet
wird.*)
Das, was allen Bedeutungen des Wortes Substanz gemeinsam ist,
ist die Identität mit sich ; während aber auf logischem und erkenntniss-
theoretischem Gebiet diese Identität mit sich nur eine relative, von
*) Die logische Kategorie der Substanz bezeichnet das Korrelat zu dem gramma-
tikalischen Subjekt, als welches mit sich identisch bleibt trotz der wechselnden
Prädikate; der erkenntnisstheoretische Begriff der Substanz bezeichnet das trans-
scendentale Objekt, welches mit sich identisch bleibt trotz der Verschiedenheit
und des Wechsels der von ihm hervorgenifenen subjektiven Erscheinungen; der
metaphysische Begriff der Substanz bezeichnet das, was in sich selbst seine
Subsistenz hat,
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1. Gott als das die Abhängigkeit von der Welt überwindende Moment. 121
anderswoher bedingte und darum in ihrer Dauer von der Fortdauer
dieser Bedingungen abhängige ist, stellt sich auf metaphysischem
Gebiet die Identität mit sich als eine unbedingte, in ihrem Bestehen
von nichts anderm abhängige, d. h. absolute dar. Die absolute Identi-
tät mit sich schliesst ebenso sehr den TJebergang vom Sein zum
Nichtsein der Substanz aus, wie den Uebergang vom Sosein zum
Anderssein, d. h. sie bedeutet Unvergänglichkeit und ünveränderlich-
keit. Alles bedingte Sein vergeht oder verändert sich nur deshalb,
weil die Bedingungen wechseln, von denen es abhängig ist; für das
unbedingte Sein fällt dieser Grund fort, und deshalb ist es das
unwandelbare, absolut beständige Sein.
Wohlgemerkt bezieht sich aber diese Identität mit sich nur auf
die Substanz als solche, auf das Wesen des Absoluten, nicht auf die
Form, in welcher das Subsistirende existirt, oder auf die Weisen, in
denen das Wesen sich manifestirt. Wie die logische Substanz mit
sich identisch ist trotz der wechselnden Accidenzen, die erkenntnis&-
theoretische Substanz trotz der wechselnden subjektiven Erscheinungen,
80 auch die metaphysische Substanz trotz der verschiedenen modi
eocistendi oder objektiven Erscheinungen. Dieser Gegensatz zwischen
der IdentitäC der Substanz und der Verschiedenheit der Existenzformen
ist unaufhebbar und unverwischbar; wäre er aufzuheben, so wäre mit
ihm der Begriff der Substanz aufgehoben, welcher nur in diesem
Gegensatz seinen Sinn und seine Bedeutung hat. Wer diesen
Gegensatz zwischen identischer Substanz und verschiedenen Existenz-
formen, zwischen unwandelbarem Wesen und wandelnden objektiven
Erscheinungen, zwischen dem schlechthin unveränderlichen Sein des
Absoluten und seinem unaufhörlich wechselnden Wirken aufheben
will, der hebt damit entweder den Begriff des Absoluten als Substanz
auf und lässt die wechselnden Existenzformen ohne absoluten Sub-
sistenzgrund bestehen, oder er hält am Begriff des Absoluten fest
und setzt die Vielheit seiner Existenzweisen zu einem blossen (freilich
unerklärlichen) Schein herab, d. h. er verfallt entweder in atheistischen
Pluralismus oder akosmistischen (abstrakten) * Monismus , die beide
gleich sehr die Möglichkeit des religiösen Verhältnisses aufheben.
Wer aber endlich den Gegensatz von identischer Substanz und
wechselnden Manifestationen aufliebt, also die Ununterschiedenheit
von Wesen und Aktus im Absoluten behauptet, aber trotzdem weder
den einen Weltgrund noch die Realität der Welt aufgeben, also die
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122 B- I* ^io Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
Verschiedenheit von Wesen und Aktus im Absoluten festhalten will,
der widerspricht sich selbst in der eklatantesten Weise.*)
Die Identität von Wesen und Wirken im Absoluten kündigt sich
selbst als ein Ausfluss des abstrakten Monismus an, indem sie sich
auf die Behauptung der Einfachheit des Absoluten stützt; die Einfach-
lieit ist aber die beschränkteste, abstrakteste Auffassung der Einheit,
auf die nur ein ängstliches und beschränktes Denken verfallen kann,
welches dem Absoluten nicht zutraut, dass es die innere Mannig-
faltigkeit vieler Bestimmungen in sich zur konkreten Einheit zu-
sammen zuschliessen vermöge, und welches die Einheit Gottes nur durch
dessen absolute Entleerung und Verarmung retten zu können glaubt.
Ein wahrhaft religiöses Denken, welches in Gott den absoluten Beich-
thum ahnt, zweifelt auch nicht daran, dass Gott grade in dieser
Fülle innerer Mannichfaltigkeit seine Einheit als die wahrhaft kon-
krete behaupte und bewähre. AUe Furcht, durch Unterscheidung
mehrerer Attribute in Gott, oder durch Unterscheidung von Wesen
und Aktus in Gott die Einheit Gottes zu zerstören, ist lediglich ein
pietätvoll konservirter Ueberrest aus einer Zeit kindlich stammelnden
religiösen Denkens, dessen abstrakte Unwahrheit denen am wenigsten
zweifelhaft sein sollte, welche wissen, dass alles Sein wie alles Denken
um so höher steht, je reichere und schärfere Gegensätze es in sich
zur konkreten Einheit bindet.
Die absolute Identität mit sich ist nicht als jene Starrheit des
Todes zu verstehen, welche ebenso wenig ein Leben aus sich hervor-
bringen wie selbst eines darstellen kann; sie ist zu verstehen nach
der Analogie eines ausgebildeten und in sich gefesteten Charakters,
der den Menschen trotz seiner Unveränderlichkeit doch nicht hindert,
jetzt fttr den Staat, jetzt für die Familie, jetzt für seinen Beruf zu
wirken. Der Einwand, dass im Absoluten alle Bestimmungen auf-
hören, also auch der Unterschied von Wesen und Aktus, kann nur
erhoben werden von einem Denken, welches zuerst den Fehler be-
*) Vgl. Neukantianismus etc., 2. Aufl., VI. 3: ,,Wesen und Aktus'", S. 346— 350.
Die Annahme der Identität von Wesen und Wirken in Gott hat sich aus dem
abstrakten Monismus der Neupiaton iker in die christliche Theologie eingeschlichen
und dieselbe in eine anscheinend unheilbai*e Verwirrung gebracht Selbst Bieder-
mannes Dogmatik krankt noch an dieser falschen Identificirung als an ihrem meta-
physischen Grundfehler, und lipsius' Dogmatik fruktificiii: das aus ihm ent-
springende Gewebe von Widersprüchen bestens im Interesse eines neukantischen
8kepticismxis (VgL ,^e Krisis des CJhristenthums'', S. 93—91).
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1. Gott als das die Abhängigkeit von der Welt überwindende Moment. 123
gangen hat, die einzelnen Bestimmungen ihrer Bestimmtheit nnd
ihres Sinnes durch falsche Verabsolutirung zu berauben, um dann
resignirt oder höhnisch auf ihre selbst herbeigeführte Sinnlosigkeit
hinzuweisen. Das Absolute, von dem hier die Bede ist, ist nichts
weniger als der unbestimmte ürbrei aller durch Unbestinmitheit sinn-
beraubten Begriffe, sondern das Unbedingte, welches die Urbestim-
mungen in sich enthält, aus denen alle abgeleitete Bestimmtheit
hervorgeht; deshalb müssen diejenigen Bestimmungen, welche sich
als Urbestimmimgen des Absoluten ergeben, demselben auch in voller
begrifflicher Bestimmtheit beigelegt werden, ohne den Nebengedanken,
sie erst durch Verabsolutirung, d. h. durch sinnzerstörende Heraus-
hebung aus den sinnkonstituirenden begrifflichen Beziehungen und
Gegensätzen zu Bestimmungen des Absoluten würdig zu machen. So
darf vor allem der Begriff der Substanz oder des Wesens nicht von
dem der Funktion, des Aktus, der Manifestation, der objektiven Er-
scheinung, der Existenzweise losgerissen, oder der Gegensatz beider
verwischt werden, weil dieser Begriff erst in diesem Gegensatz seine
begriffliche Bestimmtheit findet und ohne denselben keine mehr be-
sitzen vFtirde. Wer der Meinung ist, dass sich mit den Begriffen
unsres Geistes über das Absolute denken lässt, der soll sich auch
nicht scheuen, sie anzuwenden, ohne sie vorher durch Verabsolutirung
zu vernichten ; wer aber findet, dass ihm beim Absoluten das Denken
ausgeht, der soll es auch bleiben lassen, ein ausgegangenes Denken
noch Anderen aufzutischen.*)
Wenn wir in der Substanzialität und in der Identität mit sich
nur verschiedene aus dem Begriff der Absolutheit entfaltete Be-
stimmungen erkannt haben, so lässt sich vermuthen, dass das religiöse
Bewusstsein, welches den Begriff der Absolutheit für das religiöse
Objekt forderte, auch die Substanzialität und Identität mit sich un-
mittelbar postuliren wird, dass mit andern Worten diese Bestimmungen
bestimmten Seiten des religiösen Bedürfnisses entsprechen. Die Sub-
stanzialität oder das von nichts bedingte auf sich Beruhen und in
sich Subsistiren entspricht im Gegensatz zu der Abhängigkeit und
Bedingtheit alles endlichen Daseins dem Verlangen des religiösen
Bewusstseins nach absoluter Erhabenheit des religiösen Objekts; sie
stellt wenigstens die negative Seite dieser Erhabenheit dar, deren
*) Vgl. „üeber die dialektische Methode", S. 76-80.
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124 B. I. Die Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
positive Seite allerdings erst in der absoluten Macht des Allbedingenden
zu finden ist. Die Identität mit sich oder die ünwandelbarkeit ent-
spricht dem religiösen Bedürfniss des Menschen, in Gott den ruhenden
Fol in der Erscheinungen Flucht zu finden, den festen Ankergrund
für das fnedensuchende Herz, den zuverlässigen Hort, auf dessen
Beständigkeit das von der unbeständigen Welt enttäuschte Gemüth
mit sicherer Zuversicht bauen und vertrauen kann.
Die aus dem ontologischen Beweise abgeleiteten Bestimmungen
werden erweitert durch die aus dem kosmologischen Beweise sich
ergebenden. Das Absolute ist nach dem kosmologischen Beweise der
absolute Grund der naturgesetzlichen Weltordnung, d. h. eine Ursache
höherer Ordnung als die in der Welt wirksamen Ursachen und diesen
letzteren in keiner Weise koordinirt. Hieraus geht hervor, dass das
Wesen Gottes erhaben ist über die Formen, in welchen die natur-
gesetzliche Weltordnung da ist und sich bewegt; diese Formen sind
aber Bäumlichkeit und Zeitlichkeit und die aus der raumzeitlich
wirkenden Kausalität resultirende Materialität Demnach muss Gottes
Wesen erhaben sein über Bäumlichkeit, Zeitlichkeit und Materialität,
aber wohl gemerkt nur sein Wesen, nicht sein Wirken; denn wenn
sein Wirken nicht jene Formen in sich trüge und aus sich heraus-
setzte, so wären ja jene Daseinsformen der Welt und ihres Processes
ein blosser (und noch dazu unerklärlicher) Schein.
Die Erhabenheit über Bäumlichkeit, Zeitlichkeit und Materialität
schliesst eine negative und eine positive Seite in sich. Die negativen
Bestimmungen des göttlichen Wesens lauten in dieser Hinsicht : Un-
räumlichkeit, Unzeitlichkeit und Immaterialität ; sie entsprechen der
Allräumlichkeit, AUzeitlichkeit und materiellen • Allwirksamkeit als Be-
stimmungen der göttUchen Thätigkeit, welche als djmamische Allgegen-
wart in Eins gefasst werden. Die positiven Bestimmungen des gött-
lichen Wesens, welche die Erhabenheit über Bäumhchkeit, Zeitlichkeit
und Materialität ausdrücken, heissen Insichsein, Ewigkeit und Geistig-
keit. Das Insichsein besagt, dass Gott weder im Baume (oder in
einem Theil des Baumes) noch auch ausserhalb des Baumes (wobei
ausserhalb selbst räumlich genommen ist), sondern nirgends andres
als in sich, d. h. in dem Subjekt seiner Thätigkeit ist; das Subjekt
der raumsetzenden Thätigkeit ist als Prius aller Bäumlichkeit auf sich
selbst als den einzig möglichen idealen Ort seines Seins angewiesen.
Die Ewigkeit ist der imendUchexi Zeit genau ebenso entgegengesetzt
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1. Oott als das die Abhängigkeit yon der Welt überwindende Moment. 125
wie jeder endlichen Zeit, denn sie ist der positiv kontradiktorische
Gegensatz zu der Form der Zeitlichkeit überhaupt; sie ist die nicht
fliessende Gegenwart im Gegensatz zu der zeitlich fliessenden, und
deshalb im Gegensatz zu den zeitlich auseinandergerückten (successiven)
Momenten des Daseinsinhalts die absolute SimuLtaneität. Die Geistig-
keit ist dasjenige ewige Insichsein, welches nicht durch seine Natur
genöthigt ist, in starrer, lebloser Ruhe in sich zu bleiben, sondern
fähig ist, in seiner Thätigkeit aus sich herauszugehen, d. h. also un-
beschadet des ewig in sich seienden Wesens durch seinen Aktus die
raumzeitlichen Formen zu produciren und in ihnen ein aktuelles
Leben zu führen.
Das religiöse Bewusstsein fordert gleich dringend die dynamische
Allgegenwart Gottes wie sein ewiges geistiges Insichsein; die erstere
ist unentbehrlich, um in jeglichem kleinsten Vorgang die absolute
Abhängigkeit von Gott festzuhalten, das letztere, um die absolute Er-
habenheit des religiösen Objekts über das unruhig wimmelnde Neben-
einander und Nacheinander des materiellen Daseins zu wahren. Die
dynamische Allgegenwart Gottes giebt dem religiösen Bewusstsein die
Beruhigung, immer und überall in Gottes Hand zu stehen, stets und
allerwärts seinem Wirken (also auch seiner Gnade) gleich nahe zu
sein, zugleich aber auch die Mahnung, sich vor dem Irrthum zu
hüten, als ob man durch Ortsveränderung oder Verjährung ihm ent-
fliehen könne. Das ewige geistige Insichsein Gottes vervollständigt
die Bestimmung der absoluten, unwandelbaren Substanzialität und
bestärkt das Vertrauen und die Zuversicht auf die Verlässlichkeit
des beständigen Gottes, gegen dessen Wesen aller zeitliche Wechsel
relativ nichtig ist; zugleich warnt es davor, das Wesen Gottes in
irgend einem materiell daseienden Etwas finden zu wollen und leitet
den Gott-suchenden Menschengeist auf die geistige Offenbarung Gottes
als auf die einzige seinem Wesen angemessene hin.
Nach dem kosmologischen Beweise ist Gott der Urgrund der
naturgesetzlichen Weltordnung ; damit ist zwar gesagt, dass alles, was
in der Welt da ist und vorgeht, und wie es da ist und vorgeht, auf
Gott zurückzuführen ist, aber es ist nicht gesagt, ob auch das auf
Gott zurückzuführen ist, dass etwas da ist. Wäre der formlose Stoff
gleich ewig mit Gott und dieser nur der ordnende Demiurg, der aus
dem Chaos die Welt bildet, so wäre ja auch eine Erlösung von der
Abhängigkeit von der Welt denkbar, insofern alle Wirksamkeit des
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126 B. t t)ie Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
Stoffes auf den Menschen erst eine durch die naturgesetzliche Welt-
ordnunor dem Stoff verliehene wäre. Aber dann wÄre Gott nicht
absolut, denn er wäre durch die Eigenschaften des Stoffes beschränkt
und in seinem Wirken bedingt. Erst Gott und Stoff zusammen,
d. h. erst der Komplex ihrer wechselseitigen Bedingtheit wäre das
Absolute. Nun gilt aber in dieser wechselseitigen Bedingtheit Gott
als der aktive und der Stoff als der passive Theil, d. h. die Bedingt-
heit Gottes durch den Stoff soll sich auf Null reduciren ; denkt man
diesen Gedanken aus, so findet man, dass der Stoff das als Etwas
vorgestellte Nichts ist, d. h. dass die Bildung der Welt aus dem
eigenschaftslosen Stoff sich folgerichtig auf die Schöpfung aus Nichts
reducirt. Das religiöse Bewusstsein, welches es sich nicht nehmen
lässt, in Gott allein den Quell aller Aktivität, also auch in ihm allein
das Absolute zu sehen, muss einen nicht von Gott gesetzten Welt-
stoff entschieden verwerfen und darauf bestehen, dass Gott der ein-
zige und alleinige Grund der Welt, sowohl nach ihrem <'Dass», wie
nach ihrem «Was», ist. Wie dies zu denken sei, behalten wir für
spätere Erörterung in der religiösen Kosmologie vor ; hier kam es nur
darauf an, zu konstatiren, dass die Kombination des ontologischen und
kosmologischen Beweises Gott als den absoluten Weltgrund in jeder
Hinsicht hinstellt, weil Gott nicht das Absolute wäre, wenn neben
ihm ein Stoff existirte. Die griechische Philosophie blieb nur deshalb
in dem Dualismus von Demiurg und Hyle stecken, weil sie nur den
kosmologischen und nicht auch den ontologischen Beweis kannte,
weil ihr der Begriff des Absoluten überhaupt noch nicht aufgegangen
war und deshalb auch das Verständniss für die Absolutheit Gottes
fehlte.
Erst die Verbindung des Begriffs der Absolutheit mit demjenigen
des Weltgrundes zu dem Begriff des absoluten Weltgrundes erschliesst
den religiösen Begriff der Allmacht, als der Alles umfassenden, nichts
ausser sich lassenden Macht. Erst die üeberzeugung, dass nichts,
rein gar nichts ist, was nicht durch Gottes Macht gesetzt und ge-
tragen würde, macht die positive Erhabenheit des religiösen Objekts
zu einer unbeschränkten und das Vertrauen in die Macht zur Erlösung
zu einem unbegrenzten; zugleich lässt sie den eigenwilligen Wider-
stand des Individuums gegen die unendlich überlegene Allmacht und
ihre Zwecke als völlig thöricht, und vertrauensvolle Ergebung in den
allmächtigen Willen als das einzig Vernünftige erscheinen. Diese
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1. Gott als das die Abhängigkeit von der l^elt überwindende Moment. 127
religiösen Motive zur Postulirung der Allmacht in Gott wirken selbst
wieder zurück auf die religiöse Befestigung des ontologischen und
kosmologischen Beweises.
Die naturgesetzliche Weltordnung ist ohne Zweifel eine Ordnung,
d. h. eine Zusammenfassung des Mannichfaltigen unter einheitliche
Regeln und Gesetze, und diese Ordnung ist ein einheitliches System,
in welchem Alles zusammenstimmt nnd die niederen Specialgesetze
sich als wohlgeordnete Glieder in die höheren allgemeineren Gesetze
einfügen. In einer solchen systematischen Ordnung pflogt man Ver-
nunft zu erkennen ; diese Vernunft aber kann nicht als blosses Resultat
aus zufälligen Konflikten unvernünftig-gesetzloser Bestandtheile hervor-
gehen, sondern muss durch den die Ordnung setzenden Grund in die
Dinge hineingelegt sein. Wenn Gott als absoluter Weltgrund sowohl
die Existenz des Daseienden als seine BeschafTenheit gesetzt hat, so
muss er auch diejenigen Bestimmungen in das Daseiende gelegt
haben, vermöge deren es sich in einer vernünftigen Gesetzmässigkeit
bewegt; diese Bestimmungen müssen dann aber selbst schon ver-
nünftig sein, insofern sie bei ihrer Entfaltung und Bethätigung die ver-
nünftige Weltordnung aus sich heraussetzen und verwirklichen. Danach
muss Gott selbst Vernunft haben oder sein, um den Dingen solche ver-
nünftige Bestimmungen einpflanzen zu können; aber diese Vernunft
Gottes wird durch den kosmologischen Beweis gerade nur in dem
Grade konstatirt, als sie erforderlich ist, um die naturgesetzliche
Weltordnung als solche hervorzubringen. Nun ist jedoch die natur-
gesetzliche Weltordnung selbst nur Mittel für die teleologische Welt-
ordnung, und das Maass der Vernunft, welches in ihr steckt, ermisst .
sich in Wahrheit erst daraus, in welchem Grade sie zweckmässiges
Mittel für die letztere ist. So weisen die aus dem kosmologischen
Beweise folgenden Bestimmungen über sich hinaus auf die aus dem
teleologischen Beweise sich ergebenden.
Der teleologische Beweis konstatirt, dass Gott der Grund der
dem Weltprocess immanenten teleologischen Weltordnung sei; damit
wird ihm die Bestimmung der Weisheit zugeschrieben, und zwar stellt
sich die Weisheit Gottes als die das All umspannende und ohne Rest
durchdringende, d. h. als Allweisheit dar. Die Vernunft, welche
sich in der teleologischen Weltordnung offenbart, ist eine höhere, als
die, welche sich in der naturgesetzlichen Weltordnung bekundet, wenn
man sie ohne Beziehung auf die teleologische Weltordnung betrachtet ;
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128 B. I. Die Metaphysik des leligiosen Objekts oder die Theologie.
denn an die Stelle des einheitlichen systematischen Ordnens tritt hier
erstens das Setzen eines Zweckes und zweitens die Wahl der zweck-
mässigsten Mittel zur Verwirklichung des vorgesetzten Zweckes. Beide
Momente, welche von dem diskursiven Denken getrennt werden, sind
natürlich in der absoluten Vernunft als zusammenfallend zu denken,
ebenso wie von einer diskursiven Wahl unter verschiedenen Möglich-
keiten nicht die Rede sein kann. Die göttliche Vernunft setzt den
Zweck niemals als abstrakten, für sich allein herausgehobenen Gedanken,
sondern immer nur implicite in dem Mittel, und sie bethätigt ihre
Allweisheit eben darin, dass sie gar kein anderes als das möglichst
zweckmässige Mittel verwirklicht, ohne an minder zweckmässige auch
nur zu denken. Insofern nun der Zweck konstant, die Situation des
Weltprocesses aber beständig wechselnd ist, muss auch das in jeder
Phase der Weltentwickelung für den Zweck erforderlich bestmögliche
Mittel ein anderes sein; mit andern Worten: der Gesanmitinhalt des
Weltprocesses in jedem Augenblick ist nicht nur durch den konstanten
Endzweck, sondern auch durch den im unmittelbar vorhergehenden
Augenblick gegebenen Weltinhalt teleologisch bestimmt. Hieraus
ergiebt sich, dass die Allweisheit die Allwissenheit einschliesst, zunächst
als ein den gegenwärtigen Zustand der Welt umspannendes, dann aber
auch als ein alle zukünftigen Wirkungen der zu setzenden Ursachen
in Anschlag bringendes Wissen.
Die Allwissenheit für die Gegenwart erscheint nur dann als
wunderbar, wenn man sich Gott und die Welt als zwei getrennt ein-
ander gegenüberstehende und selbstständig agirende Substanzen vor-
stellt, aber nicht, wenn man den gegenwärtigen Weltzustand als den
realisirten Inhalt des jeweiligen göttlichen Gedankeninhalts auffasst;
denn wenn immer nur das da ist, was Gott denkt, so ist es selbst-
verständlich, dass nichts da ist, was er nicht denkt, also alles Da-
seiende von ihm gedacht oder gewusst wird. Ebenso erscheint das
Vorherwissen für die Zukunft nur dann wunderbar, wenn man es als
eine explicirtes, von dem aktuellen Weltinhalt losgelöstes denkt, aber
nicht wenn man es als ein bloss implicite in demselben enthaltenes
auffast; denn der Endzweck bestimmt ja nur vermittelst der ganzen
Kette von Mittelzwecken das augenblicklich zweckmässigste Mittel,
aber vermittelst dieser auch mit zwingender logischer Kraft. Das
Vorherwissen der zukünftigen Weltlagen in Gott ist also so zu sagen
ein lediglich praktisches, in der teleologischen Berücksichtigung der
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1. Gott als das die Abhängigkeit von der Welt überwindende Moment. 129
Zukunft durch die Gegenwart zur Geltung kommendes, als solches
aber ist es das Natürliche für eine Vernunft, deren Thätigkeit kein
receptives Nachdenken, sondern produktives Vordenken ist. Das
Vorherwissen ist zu verstehen als ein Mitschauen der Zukunft in und
durch die Gegenwart, in welcher die Bedingungen für die logisch
gesetzmässige Entwickelung der Zukunft und damit diese selbst ent-
halten sind; wäre das Vorherwissen mehr als ein solches implicites,
das Bedingte vermittelst der Bedingungen umspannendes, so wäre auch
die ihm korrespondirende Vorherbestimmung nicht mehr gesetzmässige
Prädetermination, welche die gesetzmässige Selbstdetermination der
realen Individuen in sich einschliesst, sondern fatalistische Prädesti-
nation, welche die gesetzmässige Selbstdetermination der Individuen
(und damit die Möglichkeit des Bösen und der Schuld, die Erlösungs-
bedürftigkeit und Erlösungsfähigkeit) ausschUesst. Der teleologische
Beweis spricht also keineswegs für einen jenseitigen, der Welt gegen-
überstehenden Gott, sondern für einen durch seine Thätigkeit der
Welt immanenten Gott; der erstere liesse die von der Allweisheit
eingeschlossene Allwissenheit als unverständliches Wunder erscheinen
in demselben Sinne wie sein magisches Hineinwirken in den Weltlauf;
der letztere lässt die Allwissenheit wie die teleologische Leitung des
Weltlaufs als selbstverständlich erscheinen, weil Gott als immanentes
Princip den Weltinhalt in jedem Augenblick durch seine Weisheit
bestimmt, ebenso wie er das Weltdasein in jedem Augenblick durch
seine Allmacht setzt.
Die gesetzmässige Naturordnung und die teleologische Weltordnung
gelten dem religiösen Bewusstsein ^ als Ausflüsse der nämlichen gött-
lichen Vernunft; darum können sie sich nicht widersprechen, sondern
müssen harmoniren. Die theoretische Metaphysik drückt dies so aus,
dass Kausalität und Finalität nur die zeitlichen Erscheinungsformen
des unzeitlichen Logischen sind, welches sich bald in der ersteren,
bald in der letzteren Gestalt darstellt, je nachdem das Denken den
realen Process in der Richtung vom Späteren auf das Frühere oder
vom Früheren auf das Spätere logisch reproducirt; die logische Be-
dingtheit des Späteren durch das Frühere heisst Kausalität, die logische
Bedingtheit des Früheren durch das Spätere heisst Finalität. Unter
dem Gesichtspunkt der Kausalität ist die teleologische Weltordnung
das Produkt der naturgesetzlichen Weltordnung, unter dem Gesichts-
punkt der Finalität ist die letztere das Mittel für erstere. Das eine
V. Hartmann, Die Beligion des Geistes. 9
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130 B- I- I^iö Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
scheint das andere auszuschliessen, aber doch nur so lange, als die
Einheit beider in dem absolut Logischen als ihrem genetischen Grunde
nicht erkannt wird.*) Die teleologische Auffassung steht darum höher
als die kausal-mechanistische, weil sie den Zusammenhang mit dem
Logischen näher legt; darum ist auch die Teleologie eher bereit, die
Kausalität als unerlässliche mechanische Vermittelung ihrer selbst
gelten zu lassen, wie die mechanistische Weltansicht geneigt ist, die
teleologische Weltordnung als unausweichliches Ergebniss ihrer selbst
anzuerkennen. Sobald man die Vertreter der mechanistischen Welt-
ansicht zu dem Zugeständniss bringt, dass die gesetzliche Natur-
ordnung der Ausdruck einer der Welt immanenten Vernunft sei, so
können sie ebensowenig sich der Einräumung entziehen, dass aus ihr
eine teleologische Weltordnung resultiren müsse, wie die Vertreter
der teleologischen Weltordnung die naturgesetzliche Weltordnung als
logisch gefordertes Mittel der ersteren verleugnen könnjBn, sobald sie
nur erst dahin gebracht sind, in der teleologischen Weltordnung
nicht eine Summe göttlicher Willkürakte, sondern einen Ausfluss der
ewigen Vernunft Gottes zu sehen. So erhalten die aus dem kos-
mologischen Beweise folgenden Bestimmungen Gottes ihre wahre und
tiefere Bedeutung erst im Lichte des teleologischen Beweises, wie die
des ontologischen Beweises sie erst im Lichte des kosmologischen
erhielten.
Das religiöse Bewusstsein fordert die Allweisheit Gottes unmittel-
bar, als die Bedingung, unter welcher allein es sich mit dem vollem
Vertrauen den gottgewollten Zielen hingeben kann, dass sie die
denkbar besten, und der Weltprocess das denkbar beste Mittel zu
ihrer Verwirklichung sei. In die übergewaltige Allmacht Gottes musste
der Mensch sich ergeben, indem er einsah, dass seine Versuche, den
eigenen Willen gegen den göttlichen geltend zu machen, aussichtslos
seien; aber um die negativ resignirte Ergebung in eine positiv
willige Hingebung zu verwandeln, um mit anderen Worten in den
göttlichen Zwecken den positiv werthvoUen Inhalt zur Ausfüllung der
eigenen, formell sittlichen Gesinnung zu erkennen, dazu bedarf es der
Allweisheit als Voraussetzung, welche für den höchstmöglichen Werth
dieser Zwecke und die ' höchstmögliche Zweckmässigkeit ihres Ver-
wirklicbungsprocesses bürgt.
*) Vgl. meine Schrift: „Wahrheit undln-thum im Darwinismus'', S. 154 — 161.
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1. Gott als das die Abhängigkeit von der Welt überwindende Moment. 131
Aber dieses religiöse Postulat einer göttlichen Allweisheit bezieht
sich nur auf die immanente teleologische Weltordnung und das in
ihr waltende Vernunftprincip ; das religiöse Bewusstsein hat es ebenso
wenig wie die theoretische Metaphysik mit der Ableitung eines persön-
lichen, rein transcendenten Gottes aus dem teleologischen Beweise zu
thun. Diese Verwahrung ist darum nicht überflüssig, weil die neuere
Theologie wohl die Unzulänglichkeit der angeführten Beweise zum
Erweis eines persönlichen transcendenten Gottes in ihrer theoretischen
Gestalt einräumt, trotzdem aber behauptet, dass diese Beweise für
das religiöse Bewusstsein eine tiefere Bedeutung gewinnen. Die
IJnstichhaltigkeit dieser Behauptung dürfte zur Genüge aus der obigen
Darstellung erhellen, in welcher die religiöse Form dieser Beweise
von der theoretischen deutlich unterschieden ist.
Die höchsten Bestimmungen, zu denen die bisher behandelten
drei Beweise gelangen, sind die des allmächtigen und allweisen Geistes;
aber nichts in denselben deutet auf eine Persönlichkeit dieses Geistes
hin. Die absolute, mit sich identische Substanz des ontologischen
Beweises hatte sich im kosmologischen Beweise zunächst als immate-
rielles, ewiges Insichsein bestimmt; indem aber das ewige in sich
seiende Wesen zugleich als das Subjekt einer dynamischen Allgegen-
wart, d. h. einer allräumlichen, allzeitlichen, mechanischen Wirksamkeit
sich auswies, musste die negative Bestimmung der Immaterialität durch
die positive der Geistigkeit ersetzt werden. Diese vorläufig noch rein
formale Bestimmung des Geistes (als der konkreten Einheit von Wesen
und Aktus oder als des eines Wirkens fähigen und doch in sich
seienden und verbleibenden Wesens) fand dann schon in der Allmacht
und der ordnenden Vernunft eine nähere inhaltliche Erfüllung, die
sich gleichfalls noch aus dem kosmologischen Beweise ergab; ihr
wahrer und tieferer Sinn wurde aber erst durch den teleologischen
Beweis erschlossen, der die ordnende Vernunft zur teleologischen
Vernunft oder zur Allweisheit steigerte.
In der Allmacht und Allweisheit hat die absolute geistige Sub-
stanz ihre beiden geistigen Fundamentalbestimmungen gefunden, in
welchen der Schlüssel für die Thatsache liegt, dass gerade der Geist
fähig ist, Wesen und Wirken in sich zu vereinigen ; Macht und Weis-
heit sind die Attribute, welche es verständlich machen, wie das geistige
Wesen aus seinem reinen Insichsein zur Aktualität hinausgehen kann,
insofern letztere den idealen Inhalt des Daseins vernünftig bestimmt,
9*
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132 B- I- I^iö Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
erstere ihn dynamisch zum Dasein verwirklicht. In den Bestimmungen
der Allmacht und Allweisheit sind wir mit den von der objektiven
Welt anhebenden Beweisen bereits mitten in das geistige Wesen der
Gottheit hineingedrungen, haben aber damit auch die Grenze ihrer
Tragweite erreicht ; dieses geistige Wesen selbst näher zu beleuchten,
dazu bedarf es neuer Induktionsreihen, die von anderen, subjektiv
geistigen Grundlagen ausgehen.
2. Gott als das die absolute Abhängigkeit begründende
Moment.
Wenn die drei vorhergehenden Beweise daraus entsprangen, dass
Gott als das die Abhängigkeit von der Welt aufhebende Moment vom
religiösen Bewusstsein postulirt wurde, so haben wir es nunmehr mit
denjenigen Beweisen zu thun, in welchen Gott vom religiösen Be-
wusstsein als dasjenige Moment postulirt wird, welches an Stelle der
aufgehobenen relativen Abhängigkeit von der Welt eine absolute Ab-
hängigkeit des Menschen konstituirt. Diese Abhängigkeit stellt sich
nun in zweifacher Gestalt dar: als objektiv vermittelte und als sub-
jektiv unmittelbare; beide Gestalten aber sind zusammenzufassen in
einer absoluten Abhängigkeit, welche die objektive wie die subjektive
nur als Erscheinungsformen ihrer selbst aus sich heraussetzt. Dem-
gemäss gliedern sich auch die Beweise auf dem gegebenen Boden;
in dem erkenntnisstheoretisch-idealistischen Beweis wird die objektive
Abhängigkeit des Menschen von Gott erkannt, wie sie durch die
Gesammtheit der idealen Einflüsse des Weltlebens vermittelt wird;
in dem psychologischen Beweis wird die subjektive Abhängigkeit des
Menschen von Gott erkannt, wie sie im religiösen Verhältniss sich
darstellt; und in dem identitätsphilosophischen Beweis wurden jene
objektive und subjektive Abhängigkeit als Zweige einer einheitlichen
Wurzel der absoluten Abhängigkeit von Gott begriffen.
Es ist ein trivialer Satz, dass meine Welt zunächst meine sub-
jektive Erscheinungswelt, d. h. mein Bewusstseinsinhalt oder meine
Vorstellung ist; es ist ein ebenso trivialer Satz, dass ich durch die
Beschaffenheit meines Erkenntnissvermögens instinktiv genöthigt bin,
dieser meiner subjektiven Erscheinungswelt transcendentale Bedeutung
beizulegen, d. h. eine unabhängig von meiner Bewusstseinsfunktion
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2. Gott als das die absolute Abhängigkeit begründende Moment. 133
existirende transcendeutreale Welt zu supponiren, deren Inhalt dem
Inhalt meiner subjektiven Erscheinungswelt entspricht. Es ist ferner
aus der Erkenntnisstheorie bekannt, dass diese Korrespondenz keine
vollständige ist, dass mit anderen Worten das Bewusstseiusbild der
realen Welt ein subjektiv gefärbtes und so zu sagen perspektivisch
verschobenes ist; insbesondere entsprechen die einfachen sinnlichen
Qualitäten der Empfindung höchst komplicirten Anordnungs- nnd
Bewegungszuständen des real Daseienden, und das aus den sinnlichen
Empfindungen kombinirte Anschauungsbild der Materie einem räum-
lich geordneten System schwingender Kraftpunkte. Der solide undurch-
dringliche Stoff ist also ein blosses Produkt der sinnlichen Anschauung,
welcher sein reales Korrelat immer nur an räumlich vertheilten
Kräften und gesetzmässigen Kraftwirkungen hat; die kausalen Ein-
wirkungen, welche der Mensch von der Aussenwelt erfährt, bestehen
inuner nur in gesetzmässigen Kraftwirkungen, auch da, wo seine
sinnliche Anschauung sie einem stofflichen Dasein zuschreibt. Die
kausale Einwirkung selbst ist das sich geltend Machen einer logischen
Gesetzmässigkeit, welcher durch den sie realisirenden Kraftwillen
Nachdruck verüehen wird. Dass ich eine kausale Einwirkung als real
empfinde, liegt also an dem Willenscharakter der agirenden Kräfte;
dass durch diese Einwirkung eine ideale Vorstellung in mir geweckt
wird, liegt an dem idealen Inhalt der logischen determinirten Aktions-
gesetze jener Kräfte.
Wäre die objektivreale Welt solidstoflflich, wie meine Anschauung
sie zunächst sinnlich reproducirt, so wäre es unbegreiflich, wie sie in
mir ideale Vorstellungen determiniren könnte ; nur weil dieselbe selbst
idealen Gehalts ist und diesen idealen Inhalt durch Willenskraft in
logisch gesetzmässiger Weise realisirt, ist sie im Stande, auch im
menschlichen Bewusstsein eine ideale Vorstellungswelt zu reproduciren.
Die objektivreale Welt ist also zwar nicht ohne Weiteres zu identi-
ficiren mit der subjektiv-idealen Vorstellungswelt und wegen dieser
Identität als ideal zu setzen (wie der subjektive Idealismus glaubt),
aber noch weniger ist sie etwas dem idealen Bewusstseinsinhalt völlig
Heterogenes, stofflich Solides (wie der naive Realismus glaubt) ; son-
dern sie ist eine objektiv-ideale Position des Absoluten, welche in
jedem Augenblick nach logischen Gesetzen sich verändert und ihre
Veränderung dynamisch realisirt. Wie die Kausalität nur erklärlich
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134 ß- I- ^io Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
ist als dynamisch realisirte logische Determination,*) so ist die Wahr-
nehmung nur erklärlich als eine subjektiv gefärbte Reproduktion des
in der kausalen Einwirkung übermittelten idealen Gehalts der Aussen-
welt.**)
Auf diese Weise löst sich die objektivreale Welt für das be-
greifende Denken in objektiv-idealen (unbewussten) Vorstellungsgehalt
auf, der fortwährend durch Willensakte realisirt wird; jedes Individuum,
gleichviel welcher Ordnung, ist als ideell gesondertes Glied in der
jeweilig aktuellen absoluten Idee zu betrachten, wie jeder Individual-
wille als ein Partialwille, der die betreffende Partialidee zu realisiren
bestimmt ist. Die objektivreale Welt als Universum aber ist die
jeweilig aktuelle absolute Idee in ihrer einheitlichen Totalität, die
durch den absoluten Willen realisirt wird, und das ewige, in sich
seiende, immaterielle Subjekt dieser jeweilig aktuellen, willen srealisirten
Totalidee ist Gott. Diesen Beweis für das Dasein Gottes muss man
den erkenntnisstheoretischen nennen, weil er formell von der erkenntniss-
theoretischen Betrachtungsweise ausgeht, und diejenigen Hypothesen
supponirt, unter welchen allein der subjektive Erkenntnissakt aufhört,
unbegreiflich und unerklärlich zu sein; da er aber in sachlicher Hin-
sicht auf der Erweiterung des subjektiven Idealismus zum objektiven
beruht, kann man ihn zugleich den idealistischen nennen. Da dieser
erkenntnisstheoretisch-idealistische Beweis bisher wenig üblich ist,***)
musste er vollständiger angeführt werden, um den Parallelismus des
Gedankenganges für den entsprechenden religiösen Beweis deutlich
zu machen.
Das religiöse Bewusstsein hat es natürlich nicht mit den Be-
dingungen der Begreiflichkeit und Erklärbarkeit, sondern mit den
Bedingungen der Erlösbarkeit zu thun. Wäre die Welt ein solides
stoffliches Dasein, wäre sie überhaupt ein von Gottes Substanzialität
abgelöstes substantielles Dasein mit einer von der göttlichen Aktualität
losgelösten eigenen und selbstständigen Aktualität, so würde neben
der absoluten Abhängigkeit von Gott doch immer noch die relative
*) Vgl. meine Schrift: „J. H. v. Kirchmann's erkenntnisstheoretisoher Eeaüs-
mus^ S. 38-r>8.
**) ^gl- meine „Kritische Gnmdlegung des transcendentalen Kealismus'*,
S. 104-108.
***) Vgl. Dr. Moritz Venetianer, „Der Allgeist^^ (Berlin 1872), S. 180—194.
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2. Gott als das die absolute Abhängigkeit begründende Moment. I35
Abhängigkeit von der Welt bestehen bleiben, also die absolute Ab-
hängigkeit von Gott eine durch die relative Abhängigkeit von der
Welt beschränkte, d. h. selbst relative und nicht absolute sein. Nur
wenn die Welt ein objektiv-ideales Sein ist, das durch den absoluten
Willen zum objektiven Dasein realisirt wird, nur dann sind alle Ein-
wirkungen der Welt auf den Menschen völlig aufgehoben in die Ein-
wirkung Gottes auf den Menschen, und nur dann kann die durch die
Welt vermittelte Einwirkmig Gottes auf den Menschen eine ideale
und idealen Zielen dienstbare sein. Eine vorstellungsmässige Auf-
fassung, welche sich damit begnügt, die mittelbare Einwirkung Gottes
auf den Menschen als eine den gesetzmässigen Lauf der Natur durch-
brechende zu denken, hat natürlich mit der vorliegenden Schwierig-
keit gar nichts zu thun, verzichtet damit aber selbst, ohne es zu
merken, ebensowohl auf die Absolutheit des göttlichen Einflusses, wie
auf die Allweisheit (weil die von Gott statuirten Gesetze durch partielle
Aufhebung desavouirt werden). Erst eine systematische Denkweise,
welche die Absolutheit der Abhängigkeit von Gott ebenso streng
festgehalten wissen will, wie die Unverbesserlichkeit der allweisen
gesetzmässigen Weltordnung, erst eine solche sieht sich vor das
Problem gestellt, wie anders die durch die Welt vermittelte Abhängig-
keit des Menschen von Gott eine zugleich absolute und ideale sein
könne, als dadurch, dass die Welt selbst sammt allen ihren weltlichen
Einwirkungen ein gottgesetzter Komplex idealer Kräfte sei.
Gerade darum ist ja der Theismus mit den magisch-supra-
naturalistischen Wundereingriffen Gottes so populär, weil der naive
Realismus so verbreitet ist und unter der Voraussetzung einer stoff-
lich soliden, substanziell selbstständigen Welt die übernatürlich wunder-
bare Führung Gottes der einzige Weg scheint, um die Abhängigkeit
des Weltlaufs von Gott verständlich zu machen ; der Deismus dagegen,
welcher Gott aus dem Weltprocess hinauswirft und bloss als Schöpfer
vor dessen Beginn thätig sein lässt, kann gerade darum das religiöse
Bewusstsein nicht befriedigen, weil der maschinenmässig abschnurrende
Weltlauf der immanenten Idealität entbehrt, in welcher Gottes Weis-
heit sich unmittelbar bethätigt. Darum neigen alle Völker zum
Theismus ausser denen, bei welchen der naive Realismus gebrochen
ist (wie bei den Indern) und darum ist der erkenntnisstheoretische
Umschwung seit Berkeley und Kant auch in religiöser Hinsicht so
wichtig, weil er das moderne religiöse Bewusstsein lehrt, die Wunder-
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136 B- I- I^io Metaphysik dos religiösen Objekts oder die Theologie.
eingriffe Gottes zu entbehren, ohne auf die absolute Abhängigkeit von
Gott zu verzichten.
Das unbefangene religiöse ßewusstsein erkennt die Thatsache als
selbstverständlich an, dass der Mensch in aller relativen Abhängigkeit
von der Welt zugleich seine absolute Abhängigkeit von Gott zu er-
kennen hat, dass jedes Erlebniss und jede Begegnung, die für sich
allein betrachtet als ein zufälliger weltlicher Einfluss erscheint, im
Zusammenhange des ganzen Weltlaufs aufgefasst zugleich eine Fügung
Gottes ist, und als solche hingenommen werden muss. Diese That-
sache steht dem religiösen Bewusstsein ohne alle Reflexion fest, weil
ohne sie die relative Abhängigkeit von der Welt nicht durch eine
absolute Abhängigkeit von Gott zu überwinden wäre, sondern beide
neben einander herlaufen würden. Die Frage ist nur, wie diese vom
religiösen Bewusstsein postuürte Thatsache ohne Widerspruch mit der
Absolutheit und Allweisheit Gottes möglich ist, und da ist die einzige
Lösung diejenige, dass alles weltliche Geschehen seinem Inhalt nach
determinirt sei von den Gedanken Gottes, seiner Form nach als reales
Dasein von dem Willen Gottes,' dass die stoffliche Solidität und sub-
stantielle Selbstständigkeit des weltlichen Daseins nur scheinbar, und
dass seine Existenz nur objektive Erscheinung des göttlichen Wesens
in seinem bestimmten Wirken sei.
Betrachtet man eine von einem Partialwillen realisirte Partial-
idee in ihrer abstrakten Isolirung (als Individuum höherer oder niederer
Ordnung), so erscheint sie als relativ selbstständig und ihre Wirkungen
auf die übrige Welt statuiren eine relative Abhängigkeit derselben
von ihr, gegen welche die von ihr betroffenen Individuen mit mehr
oder weniger Erfolg reagiren können; betrachtet man aber den
jeweiligen Zustand des Universums (als des Individuums höchster
Ordnung), so erscheinen alle die relativen Abhängigkeiten der Indivi-
duen niederer Ordnung sammt ihren Reaktionen als aufgehobene
Momente in dem logisch determinirten Inhalt der Totalidee und dem
diese realisirenden absoluten Willen. Insofern also jede Einwirkung,
die ich erfahre, aus dem Charakter und der gesetzmässigen Beschaffen-
heit von Individuen höherer oder niederer Ordnung logisch determinirt
ist, fällt sie unter den Begriff meiner relativen Abhängigkeit von der
Welt ; insofern aber jede solche Einwirkung logisch determinirtes Glied
in der absoluten Idee und dem absoluten Willen ist, fällt sie unter
den Begriff" meiner absoluten Abhängigkeit von Gott. Indem ich
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2. Gott als das die absolute Abhängigkeit begi-ündende Moment. 137
durch die Offenbarung meine relative Abhängigkeit von der Welt im
Lichte des religiösen Verhältnisses sehen lerne, lerne ich sie als
absolute Abhängigkeit von Gott erkennen und werde dadurch erlöst
von dem Druck, den diese relative Abhängigkeit auf mich ausübt, so
lange ich sie bloss als relative, meinem Individual willen zuwider-
laufende betrachte.
Aber diese Abhängigkeit von Gott wäre doch immer noch keine
absolute, wenn sie bloss eine durch die Welt vermittelte wäre, wenn
ich als bewusst-geistige Persönlichkeit der gesammten Welt gegenüber
stände als ein direkt von Gott unabhängiges freies Wesen, das zwar
keine Aussicht hat, im Kampf gegen die übermächtige Gewalt der
Welt und Gottes den Kampf siegreich durchzuführen, aber doch in der
Lage ist, denselben ohne Selbstwiderspruch aufnehmen und bis zum
eigenen Untergange durchfuhren zu können. Um die Abhängigkeit des
Menschen von Gott zu einer absoluten zu machen, muss also zu der
äusseren objektiven Abhängigkeit noch eine innere subjektive hinzutreten.
Dass die innere subjektive Abhängigkeit des Menschen von Gott nicht als
ein magisch-supranaturalistisches Hineinwirken zu verstehen ist, haben
wir schon oben erörtert; noch weniger genügt aber die deistische
Auskunft, dass Gott am Anfang der Zeiten die Welt so geschaffen
habe, dass sie im mechanischen Ablauf ihres Processes auch mich
hervorbringt. Das religiöse Bewusstsein kann sich nimmermehr mit
einem vor Jahrmillionen einmal thätigen Gotte zufrieden geben, der
sich seitdem genau so verhält, als wenn er nicht wäre; es verlangt
gebieterisch einen lebendigen, d. h. noch jetzt in jedem Augenblicke
thätigen Gott, weil es nur zu einem solchen in ein reUgiöses Verhält-
niss treten kann, als welches die Aktualität seiner beiden Seiten zur
unerlässlichen Voraussetzung hat. Gegenüber der deistischen Ab-
tödtung des religiösen Verhältnisses wird das unbefangene reUgiöse
Bewusstsein immer wieder zu der magisch -supranaturalistischen
Thätigkeit des theistischen Gottes gegen seine Geschöpfe zurückgreifen,
so lange ihm nicht ein begrifflich haltbarerer Ersatz geboten wird,
der sein religiöses Bedürfniss nach einem lebendigen, unausgesetzt
thätigen Gott ebensogut und noch besser befriedigt. —
Ebenso wie der idealistische Beweis Gott als den beständig
aktuellen Grund der Welt verlangte, ebenso verlangt der psycho-
logische Beweis Gott als den beständig aktuellen Grund der eigenen
bewusst-geistigen Persönlichkeit; nur wenn er dies ist, kann er dem
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138 B- I- I^ie Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
Menschengeist immanent sein, ohne dass diese Immanenz den for-
mellen Charakter dämonischer Besessenheit annimmt, und nur dann
kann er die absolute Abhängigkeit des Menschen von ihm im reli-
giösen Verhältniss dem Menschen offenbaren, ohne dass diese im-
manente Offenbarung aus dem naturgesetzmässigen Verlauf des
menschlichen Geisteslebens herausfällt. Nur eine solche Auffassung,
welche in Gott den beständig aktuellen Grund der bewusst-geistigen
menschlichen Persönlichkeit sieht, thut dem wissenschaftliehen und
dem religiösen Bewusstsein zugleich Genüge; dem wissenschaftlichen,
indem sie die geistige Natur des Menschen und die vom religiösen
Bewusstsein behauptete Thatsache des Wirkens Gottes in ihr erklär-
lich macht, — dem religiösen, indem sie nicht nur die seltenen, aus-
nahmsweisen Gnadenwirkungen, sondern jeden Akt des menschlichen
Geisteslebens ohne Ausnahme unter die unmittelbare absolute Abhängig-
keit von Gott stellt. Das wissenschaftliche Bewusstsein findet die That-
sache einer bewusst-geistigen Persönlichkeit unerklärlich ohne die
Hypothese eines sie hervorbringenden geistigen Urgrundes; das reli-
giöse Bewusstsein postulirt die unmittelbare absolute Abhängigkeit
von Gott als unerlässliche Voraussetzung für die Erlösung einer
geistigen Persönlichkeit von der relativen Abhängigkeit von der Welt.
Das wissenschaftliche Bewusstsein erkennt in der unmittelbaren ab-
soluten Abhängigkeit der bewusst-geistigen menschlichen Persönlich-
keit von Gott nur einen Specialfall der allen Theilen der Welt
gemeinsamen absoluten Abhängigkeit von Gott, allerdings einen
Specialfall, der wegen seiner direkten Erfahrbarkeit im Gegensatz zu
der Mittelbarkeit aller Erfahrungen über die Aussenwelt jedem denken-
den Menschen besonders nahe liegt; das religiöse Bewusstsein aber
kann seiner Natur nach noch viel weniger zugeben, dass ein Gedanke
mir ohne Gottes Willen einfällt, als dass ein Sperling ohne Gottes
Willen vom Dache fällt.
Wenn in dem erkenntnisstheoretisch-idealistischen Beweise Gott
als der unmittelbare Grund alles weltlichen Daseins und Geschehens
angenommen wurde, so schloss das nicht aus, sondern ein, dass dieses
Dasein und Geschehen streng an die naturgesetzliche Weltordnung
gebunden sei und sich im Einzelnen nach den Beziehungen zu den
anderen Einzelheiten zu richten habe ; ebenso, wenn im psychologischen
Beweise Gott als der unmittelbare Grund alles bewusst-geistigen Inhalts
und Geschehens angenommen wird, so schliesst das nicht aus, sondern
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2 Gott als das die absolute Abhängigkeit begiündende Moment. 139
ein, dass dieser Inhalt und seine Veränderungen an die natürlichen
Gesetze des Geisteslebens gebunden und durch die Beziehungen zu
den natürlichen Vorgängen in den zugehörigen Organismen bedingt
sind. Was der psychologische Beweis ausschliesst, ist nur die An-
nahme, dass die physiologischen Vorgänge in den Organismen die
zureichende Ursache des individuellen Geisteslebens seien; dass sie
mitwirkende Bedingung desselben seien, wird von ihm vorausgesetzt,
weil ohne diese Voraussetzung überhaupt von einem individuellen
Geistesleben nicht die Kede sein könnte. Insofern sie aber nur mit-
wirkende Bedingung, nicht zureichende Ursache der bewusst-geistigen
Vorgänge sind, bleibt die Frage nach dem eigentlichen erzeugenden
Grunde der letzteren ofiFen, und dieser muss eben in Gott gesucht
werden, wenn das Resultat dieser zusammenw^irkenden Ursachen, die
bewusst-geistige Persönlichkeit, in jeder ihrer Lebenserscheinungen in
unmittelbarer absoluter Abhängigkeit von Gott stehen soll.
Hier eröffiiet sich nun sofort die Perspektive, dass der erzeugende
einheitliche Grund des bewussten Geisteslebens selbst geistigen Wesens
sein muss, weil er sonst nicht im Stande wäre, auf der Basis der
natürlichen organischen Bedingungen ein wahrhaft geistiges Leben
hervorzubringen ; der psychologische Beweis zeichnet sich also dadurch
aus, dass er, entsprungen aus der unmittelbaren Beziehung zwischen
Gott und Menschengeist, auch unmittelbar in das geistige Wesen
Gottes einführt, während die vorher besprochenen vier Beweise nur
theilweise indirekte Schlüsse auf eine mehr oder minder geistige
Beschaffenheit des absoluten Weltgrundes gestatten. Als trans-
scendenter Grund des bewusst-geistigen Lebens muss er die Möglich-
keit und Fähigkeit zur Entfaltung desselben in sich enthalten; als
beständig thätiger Grund, der im menschlichen Geistesleben, seinen
Formen und Gesetzen, sich selbst bethätigt,' muss er fähig sein, mit
seiner Thätigkeit in die Formen und Gesetze des menschlichen
Geisteslebens einzugehen. Wenn man in ersterer Hinsicht etwas
selbst noch nicht Geistiges als transcendenten Grund des bewussten
Geistes vermuthen wollte, so wird diese an sich schon bedenkliche
Vermuthung widerlegt durch die letztere Erwägung. Wenn der
transcendente Grund des bewusst-geistigen Lebens auch noch nicht
dessen Formen an sich tragen kann, so muss er doch wesentlich
geistig im eminenten Sinne sein, um eminente Ursache des Geistes
sein zu können; vor allem kann aber nur ein wesenhaft Geistiges
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140 B- J- I^ie Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
sich selbst und sein Wesen in bewusst-geistigeu Formen manifestiren,
wie Gott es vorzugsweise im religiösen Verhältniss thut. Gott muss
bei aller formalen Verschiedenheit doch dem menschlichen Geiste
wesentlich gleichartig sein, wenn ein und dieselbe geistige Funktion
(Gnade und Glaube) sowohl göttliche als menschliche Funktion soll
genannt werden können. Ein gewisses Maass von üebereinstimmung,
welches die geistige Wesenheit betrifft, ist unerlässliche Bedingung
für die Möglichkeit der Religion ; die fehlerhafte üebertragung mensch-
licher Geistesbeschaffenheit auf Gott beginnt erst da, wo mit der
unentbehrlichen Wesenheit des Geistes auch die entbehriichen und
mit der Absolutheit unverträglichen Formen des menschlichen be-
wussten Geistes auf Gott übertragen werden. Deshalb ist zwischen
beidem sorgfältig zu unterscheiden und eine vorsichtige Grenzbestim-
mung zu treffen; nicht ob, sondern wo diese Grenze zu ziehen sei,
darum dreht sich heute noch der Streit. —
Der psychologische Beweis geht für jeden zunächst von der Er-
fahrung seines eigenen Bewusstseins aus; er gewinnt dann aber eine
erweiterte empirische Basis durch die Erwägung, dass für jeden
andern Menschen dasselbe Schlussverfahren gilt, dass also eigentüch
die Gesammtheit des menschheitlichen Geisteslebens als Ausgangs-
punkt der Induktion zu nehmen ist. Dem menschheitlichen Geistes-
leben schliesst sich dann weiter das thierische an; denn wenn auch
dieses sich nicht bis zur Gewinnung eines rehgiösen Verhältnisses zu
entwickeln vermocht hat, so bleibt es doch immer ein bewusst-geistiges
Leben nach gleichen oder ähnlichen Formen und Gesetzen wie das
menschliche, so dass der Grund des einen auch für das andere Grund
sein muss. Das thierische Geistesleben verläuft sich auf den niederen
Stufen des Thierreichs in ein dumpfes Wechselspiel von Empfindung
und Wiliensreaktion und unterscheidet sich in dieser einfachsten Ge-
stalt psychischer Innerlichkeit kaum noch von dem Leben der Pflanzen.
EndUch mag die psychische Innerlichkeit noch über die Grenze der
organischen Individualität hinausgreifen in das Reich der unorganischen
Natur und selbst den Atomen ebensowohl (bewusste) Empfindung wie
Wille und (unbewusste) ideale Vorstellung zukommen. So erweitert sich
die Sphäre des Bewusstseins über die ganze Natur, und reicht so weit
wie das Dasein; überall, wo das Dasein die Aussenseite der Welt
bildet, korrespondirt ihm ein höheres oder niederes Bewusstsein als
Innenseite. Da tritt nothwendig die Frage an uns heran, wie sich
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2. Gott als das die absolute AbMagigkeit begründende Moment. 141
beide zu einander verhalten, und wie der Grund der ersteren sich zu
dem Grunde der letzteren verhält.
Das Reich des Bewusstseins ist jedem Menschen wenigstens
auf einem Punkte unmittelbar erschlossen, das Reich des Daseins
ist allem Denken transcendent und darum nur mittelbar durch
Schlussfolgerungen aus dem Inhalt des Bewusstseins zu erkennen.
Diesem Verhältniss entsprechend lieferte uns der psychologische Be-
weis Gott als den Grund unsrer unmittelbaren Abhängigkeit, der
erkenntnisstheoretisch -idealistische Beweis hingegen Gott als den
Grund unsrer indirekten, d. h. durch die Welt vermittelten absoluten
Abhängigkeit. Jetzt handelt es sich darum, über beide Beweise
hinauszukommen, deren jeder nur ein einseitiges, seinem einseitigen
Ausgangspunkt entsprechendes Ergebniss liefert; jetzt handelt es sich
darum, zu erkennen, dass Dasein und Bewusstsein nur parallele
Manifestationsweisen eines und desselben transcendenten Grundes
sind, oder mit anderen Worten, dass die Aussenseite und die Innenseite
der Welt bei aller phänomenalen Verschiedenheit ebensosehr im
Grunde identisch wie der Erscheinung nach untrennbar sind. Diese
Erkenntniss bildet den principiellen Inhalt der Identitätsphilosophie
und deshalb wird dieser Beweis, welcher den psychologischen und
den erkenntnisstheoretisch-idealistischen zu einer höheren Einheit in
sich zusammenfasst, als der identitätsphilosophische Beweis zu be-
zeichnen sein.
Die theoretische Metaphysik folgert die wesentliche Identität von
Dasein und Bewusstsein nicht bloss aus der untrennbaren Zusammen-
gehörigkeit ihres Auftretens (welche man mit der konvexen und kon-
kaven Seite einer Kreislinie verglichen hat) und der Einheitlichkeit
des beide Seiten umfassenden Universums, sondern vor Allem aus der
Identität ihres idealen Inhalts und der Art seiner Realisation. Der
Inhalt des Daseins ist ebenso ideal wie der des Bewusstseins und die
Art seiner Realisirung ist hier wie dort der Willensakt; die logischen
Formen und Gesetze, in welchen der ideale Inhalt des Daseins sich
bewegt, sind dieselben wie diejenigen des Bewusstseinsinhalts, und nur
auf dieser üebereinstimmung beruht die Möglichkeit einer Erkenntniss
im Allgemeinen und einer deduktiven Vorausbestimmung des realen
Weltlaufs im Besonderen. Ja noch mehr: die Daseinsformen, in
denen die Materie ihre Existenz und Bewegung entfaltet, sind die
lu'lmlichen wie diejenigen, in welchen das Bewusstsein sein subjektives
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142 B- I- Die Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
Abbild der daseienden Welt entfaltet, nämlich Zeitliehkeit und drei-
dimensionale Bäumlichkeit ; auch die äussere Kausalität und die
innere Motivation sind völlig gleichartige Formen der Bestimmung
des Willensaktes durch den idealen Yorstellungsinhalt, so dass man
die Motivation als die von innen gesehene Kausalität, diese aber als
die von aussen gesehene Motivation bezeichnen kann.
Die Identitätsphilosophie ist für jedes unbefangene Denken die
einleuchtendste Sache von der Welt, und sie ist nur dadurch in Ver-
ruf gebracht worden, dass man über der wesentlichen Identität von
Dasein und Bewusstsein ihre formelle phänomenale Verschiedenheit
ausser Acht liess, also die Identität ins Absurde überspannte. Der
ideale Vorstellungsinhalt des Daseins ist darum, weil er idealer Vor-
stellungsinhalt ist, noch nicht bewusster Vorstellungsinhalt, sondern
er kündigt sich nur nach aussen durch seine Wirkungen als idealer
Vorstellungsinhalt an, d. h. dadurch, dass er bei seiner dynamischen
Realisation durch Willensakte andere ideale Vorstellungsinhalte nach
logischen Gesetzen verändert. Der ideale Bewusstseinsinhalt ist darum,
weil er Bewusstsein ist, noch kein Dasein, sondern kann es nur da-
durch werden, dass er in anderem Dasein eine Veränderung hervorruft,
d. h. dadurch, dass er von einem Willensakt dynamisch realisirt wird.
Die Identitätsphilosophie Schellin gs und Hegels beging den doppelten
Fehler, erstens das unbewusste Denken und Vorstellen mit dem be-
wussten Denken und Vorstellen zu verwechseln, und zweitens das
bloss ideale (bewusste oder unbewusste) Denken und Vorstellen mit
dem willensrealisirten Denken und Vorstellen zu verwechseln; diesen
beiden Verwechselungen entsprang die Konfusion zwischen subjektivem
und objektivem, menschlichem und absolutem Denken und Vorstellen
und der absurde Einfall, dass das bloss ideale Denken eines Menschen
die Natur producire, indem es sie denkt. Nachdem die panlogistische
Verkennung des Willens als alleinigen Princips der Realität ebenso
wie die Verwechselung von bewusstem und unbewusstem Denken und
Vorstellen ihr Ende erreicht hat, ist jeder solchen Ueberspannung
der Identitätsphilosophie vorgebeugt und der identitätsphilosophische
Beweis in sein ihm gebührendes Recht eingesetzt.*)
Für das religiöse Bewusstsein gestaltet sich der identitäts-
*) Vgl. „Philosophie des ünbewussten", 9. Aufl., Bd. II, S. 460—463; „Neu-
kantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus", 2. Aufl., S. 65—73.
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2. Gott als das die absolute AbMngigkeit begründende Moment. 143
philosophische Beweis sehr einfach: die durch die Welt vermittelte
und im eigenen Bewusstsein unmittelbar erfahrene absolute Abhängig-
keit können nicht zwei Abhängigkeiten sein, sondern nur zwei zu-
nächst divergirende , dann aber wieder konvergirende Zweige einer
Wurzel, zwei zusammengehörige Seiten einer und derselben absoluten
Abhängigkeit sein, weil es andernfalls überhaupt keine absolute Ab-
hängigkeit (sondern statt ihrer zwei relative Abhängigkeiten), also
auch keine Möglichkeit der Erlösung von der relativen Abhängigkeit
durch eine absolute gäbe. Das religiöse Bewusstsein fordert ebenso
wie das theoretische gebieterisch einen einheitUchen transcendenten
Weltgrund, der sich sowohl in der Sphäre des Daseins wie in der
des Bewusstseins beständig bethätigt; das erstere fordert ihn, weil es
ohne denselben nicht von der Welt erlöst werden kann, das letztere
fordert ihn, weil es ohne denselben die Welt nicht erklären kann.
Weil das Bewusstsein des Menschen selbst ein einseitiges, nämlich
zur Innenseite der Welt gehöriges, oder subjektives Phänomen ist,
darum kann es zunächst nur auf direktem oder indirektem, beide-
male aber einseitigem Wege Gott suchen; was aber so durch die
Reflexion diskursiv getrennt ist, das wird durch die synthetische
Spekulation wieder intuitiv zusammen^efasst, und so wird in dem
identitätsphilosophischen Beweise der von Anfang an gesuchte einheit-
liche absolute Weltgrund wirklich erreicht. Damit hat dann das
religiöse Bewusstsein die beruhigende Versicherung gewonnen, dass
es hier wie dort wirklich die absolute Abhängigkeit von dem einheit-
lichen Weltgrunde ist, welche sich ihm in der Aussenwelt wie im
eigenen Bewusstsein offenbart, dass der Gott, der in seinem Herzen
spricht, derselbe ist, welcher die Welt gesetzt hat und immer noch
setzt, und dass demnach die Forderungen, welche er im religiös-
sittlichen Bewusstsein erhebt, übereinstimmen müssen mit der teleo-
logischen Weltordnung überhaupt. —
Wir haben nunmehr in Betracht zu ziehen, welche Bestimmungen
aus den drei Beweisen dieses Abschnittes für das Wesen Gottes
folgen.
Nach dem idealistischen Beweis ist der aktuelle Weltzustand die
durch den absoluten Willen realisirte aktuelle Idee, und der Welt-
process die durch den absoluten Willen realisirte Wandelung der
aktuellen Idee. Die Idee ist die eine, allumfassende, aber in sich
gegliederte und eine Fülle innerer Mannichfaltigkeit umspannende.
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144 ß- ^- I>ie Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
lind die idealen Glieder dieser einheitlichen Totalität stellen in ihrer
Willensrealisation die realen Glieder des organischen Weltganzen, die
Individuen höherer und niederer Ordnung dar. Für die AuflFassung
eines dieser Individuen tritt die Vielheit der Partialideen in den
Vordergrund, wenn auch ihre Zusammengehörigkeit zu einer Einheit
nicht verloren geht; fttr Gott ist der Gesammtinhalt der aktuellen Idee
vor Allem der einheitliche Inhalt eines einheitlichen und ungetheüten
Vorstellungsaktes und erst in zweiter Reihe ist in dieser Einheit zu-
gleich auch die in ihr aufgehobene Mannichfaltigkeit mitgesetzt. Die
Idee Gottes ist also ein jederzeit einheitlicher, aber die Vielheit
simultan umspannender Akt. Die Wandelung des Inhalts der Idee
vollzieht sich nach logischer Nothwendigkeit, welche aus weltlichem
Gesichtspunkt bald als Kausalität bald als Teleologie erscheint.
Das Vergangene und Zukünftige ist nur implicite in der aktuellen
Idee enthalten, insofern deren jeweiliger Inhalt als logisches Resultat
aller früheren Inhalte diese als seine unerlässlichen logischen Be-
dingungen, als Keim aller späteren Inhalte aber diese als seine
logischen Folgen implicite in sich trägt. Explicite ist in der absoluten
Idee immer nur das Gegenwärtige enthalten, einfach darum, weil ihr
gesammter Inhalt beständig vom Willen realisirt wird, also zugleich
das gegenwärtig Wirkliche ist; wenn Gott etwas anderes als das
Gegenwärtige vorstellen wollte, so würde es eben dadurch zu einem
wirklichen Gegenwärtigen. Darum enthält die absolute Idee keine
reflexiven und diskursiven Bestandtheile, welche im bewussten Denken
den idealen Inhalt eines Willensaktes mit dem eines andern vermitteln;
in der absoluten Idee giebt es nichts als Willensinhalt, d. h. alles
göttliche Vorstellen ist zugleich ein wirklich-Setzen oder Erschaffen
des Gedachten.
Die absolute Idee ist sonach nicht bloss simultan, sondern auch
intuitiv, wenngleich über die sinnliche Form der bewussten Anschau-
ung erhaben; indem die Wirklichkeit ihr entspricht, entspricht sie
auch der Wirklichkeit, d. h. sie ist schlechthin wahr und die Möglich-
keit einer Abweichung von der Wirklichkeit ausgeschlossen. Insofern
die Wandelung des Inhalts der Idee rein logisch determinirt ist,
muss die göttliche Vorstellung schlechthin vernünftig genannt werden.
Die schlechthin wahre, intuitive, simultane Vorstellung Gottes ist
dasselbe, was wir im vorigen Abschnitt als seine Allwissenheit er-
mittelt haben, und die schlechthin vernünftige Determination des
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2. Gott als das die absolute Abhängigkeit begründende Moment. 145
Wechsels im Vorstellungsinhalt entspricht der dort gewonnenen Be-
stimmung der Allweisheit; der Wille aber, welcher stetig den ge-
sammten Inhalt der Idee realisirt, fallt mit der Allmacht zusammen,
da Macht und Vermögen eins ist, ebenso wie Vermögen und Wille
(als Potenz des WoUens). Der Werth des idealistischen Beweises für
die Bestinmiung des göttlichen Wesens liegt gerade darin, dass er
die Begriffe der Allwissenheit und Allweisheit als die intuitive logische
Idee näher präcisirt und ebenso den unbestimmten Begriff der All-
macht durch denjenigen des absoluten Willens als des alleinigen
Grundes aller Bealität erläutert.
Hierbei liegt aber keinerlei Grund vor, die göttliche Allwissen-
heit imd Allweisheit als eine bewusste anzusehen. Gottes Idee von
der Welt ftllt in Eins mit dem realen Setzen der Welt ; sein Welt-
wissen ist sein Weltschaflfen. Hätte Gott ausser der ursprünglichen
schöpferischen Weltidee noch ein zweites Wissen von der Welt, so
würde auch dieses zweite Wissen der Welt von seiner Allmacht
schöpferisch realisirt werden, d. h. es wären dann zwei Welten statt
einer da. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass ausser dem
produktivem idealen Urbild der Welt noch ein receptives ideales
Nachbild der Welt in Gott vorhanden sei, dass ausser der zur Pro-
jektion bestimmten Idee der Welt noch eine zweite Idee als Reflex
der durch den Willen vollzogenen Projektion in Gott zu Stande
komme. Der etwaige reflektirte Widerschein der jeweilig aktuellen
Idee würde ja immer einen Zeitmoment später kommen als das in
die Welt hinausprojicirte Urbild, sich also schon mit dem veränderten
Inhalt der Idee des folgenden Zeitmoments kreuzen und verwirren.
Wollte man aber die zeitliche Verschiebung bei der angenommenen
Keflexion leugnen, obwohl dies in Anbetracht der zeitlichen Wande-
lung der absoluten Idee unzulässig ist, und behaupten, dass dem
Inhalt nach wie der Zeit nach das reflektirte Abbild jedes Welt-
zustandes mit dessen produktivem Urbild zusammenfalle, so würde
doch immer dabei die unzulässige Voraussetzung gemacht werden,
dass vom Gesichtspunkt Gottes aus die von seinem Willen gesetzte
innere Mannichfaltigkeit seiner Idee etwas ihm gegenüberstehendes
Selbstständiges, etwas nicht in ihm, sondern ausser ihm Seiendes
repräsentire, woran die von ihm centrifugal ausgehende Thätigkeit
sich brechen und in centripetale Richtung umbiegen müsse. Wie
dem auch sei, jedenfalls würde zur Erklärung des Weltprocesses diese
V. Hartmann, Die Beligion des Geistes. 10
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146 B* I- ^io Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
Annahme eines receptiven reflektirten Nachbildes und Abbildes der
Welt in Gott nicht das Geringste beitragen, da sie nur Folge, nicht
Grund des jeweiligen Weltzustandes wäre und inhaltlich dem ohnehin
bestehenden Urbild nichts hinzufügte; eine solche Annahme leistet
also nichts fQr die Erklärung und ist deshalb eine unberechtigte
Hypothese, ganz abgesehen davon, dass sie in lauter Widersprüche
und Schwierigkeiten verwickelt. In der That würde weder der
idealistische noch der teleologische Beweis, noch auch die Verbindung
beider jemals einen Grund abgegeben "haben,"" auf die Bewusstheit der
göttlichen Weisheit oder Idee zu schliessen; es ist nur eine Vorweg-
nähme des psychologischen Beweises, und zwar seiner fehlerhaften
Anthropopathismen, welche zu dieser in keiner Richtung haltbaren
oder brauchbaren Annahme verleitet hat.
Der psychologische Beweis bestimmt Gott als wesentlich geistig,
nach Analogie des menschlichen bewussten Geistes, aber mit Weg-
lassung dessen, was an dem letzteren bloss menschlich, d. h. natür-
lich beschränkt und für den Begriff des Geistes unwesentlich ist.
Wir werden also vor allen Dingen dasjenige vom menschlichen Geiste
abzusondern haben, was anerkanntermaassen auf organisch-physio-
logischen Grundlagen ruht, das ist aber Gedächtniss, Charakter und
Gemüth. Das Gedächtniss ist die Summe von molekularen Hirn-
prädispositionen, welche durch aktuelle bewusste Vorstellungen ein-
gegraben sind und das Wiederauftauchen gleicher oder ahnlicher
bewusster Vorstellungen erleichtern; der Charakter ist die Summe
von molekularen Himprädispositionen, welche durch bestinunte Moti-
vationsakte eingegraben sind und die Wiederholung der entsprechenden
Motivationsprocesse begünstigen; das Gemüth ist die Summe von
molekularen Hirnprädispositionen, welche durch bestinmite Gefahle
eingegraben sind und das Erwachen ähnlicher Gefühle bei ähnlichen
Veranlassungen begünstigen. Diese drei Begriffe verlieren jeden Sinn,
wenn man von der Verknüpfung des Geistes mit einem Organismus
abstrahirt; in einem reinen, d. h. leibfreien Geiste kann es sich nur
noch um ein Funktioniren handeln, welches spontan hervortritt, nicht
um solches, welches durch die Gehimresiduen der Erinnerungen,
charakterologischen Triebe und Gemüthsanlagen bedingt ist.
Aber auch nicht alle Funktionen, welche wir am menschlichen
Geiste beobachten, werden wir dem absoluten Geiste zuschreiben
dürfen, sondern nur die Grundfunktionen des geistigen Lebens, welche
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2. Gott als das die absolute Abhängigkeit begründende Moment. 147
für den Begriff des Geistes unentbehrlich sind; denn diese Grund-
funktionen des Geistes können und müssen beim Menschen auf der
Basis des Gedächtnisses, Charakters und Gemüths Kombinationen ein-
gehen und sekundäre Funktionen zu Tage fordern, welche ohne solche
beschränkte und beschränkende Naturbasis nicht zu Stande gekommen
wären. So sind z. B. die meisten Gefühle höchst gemischte Funktionen,
die sich aus bewussten und unbewussten Begehrungen, Willensbefrie-
digungen und Nichtbefriedigungen und aus bewussten und unbewussten
Vorstellungen zusanmiensetzen, imd stellen in ihrer Totalität ge-
wöhnlich die Bewusstseinsresonanz eines oder mehrerer unbewusster
Motivationsprocesse mit begleitenden Nebenvorstellungen dar; die
meisten dieser Bestandtheile entspringen aber aus der natürlichen
Bedingtheit des Geistes, und darum ist auch das ganze Eombinations-
resultat von dieser abhängig. Wir werden also zunächst die elemen-
taren Grundfunktionen des bewussten Geistes aufzusuchen haben; nur
diese dürfen wir ohne Scheu vor fehlerhaften Anthropopathismen ohne
Weiteres auf den göttlichen Geist übertragen.*)
Diese Elementarfunktionen sind aber nur drei: Vorstellung, Be-
gehrung und Unlustempfindung, wobei noch die dritte als Accidenz
der zweiten erscheint, nämlich als Bewusstwerden der Nichtbefriedigung
des Begehrens.**) Die Lustempfindung, oder das Bewusstwerden der
Befriedigung des Begehrens ist schon ein Eombinationsresultat; denn
während die Nichtbefriedigung des Begehrens eo ipso Bewusstsein
erzeugt, wo es nicht schon vorhanden ist, und so als Unlust bewusst
wird, erzeugt die Befriedigung des Begehrens für sich allein durchaus
kein Bewusstsein, sondern es bedarf erst der bewussten Beflexion auf
den Kontrast zvrischen der Nichtbefriedigung und der Befriedigung,
um die letztere als Lust zu percipiren. Somit ist Unlust überall
möglich, wo Wille ist, Lust hingegen nur da, wo ausser dem Willen
auch bewusste Vorstellung (mindestens Sinneswahmehmung und Unter-
scheidungsvermögen) vorhanden ist. Sonach werden wir dem gött-
lichen Geist als unentbehrliche Attribute Wille und Vorstellung
zuschreiben müssen, mit der Anmerkung, dass das Attribut des Willens
auch die Möglichkeit der Unlustempfindung im Falle der Nicht-
befriedigung einschliesst. Ob Gott auch Lustempfindung haben könne,
*) Vgl. „Philosophie des Unbewussten", 9. Aufl., Bd. 11, S. 412—414.
*♦) Vgl. „Phüosophie des Unbewussten", 9. Aufl., Bd. I, 8. 210-224 (Kap. B HI)
und A. Taubert: „Der PessimismuB und seine Gegner", S. 16-— 18.
10*
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148 B- I- I^iö Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
wird davon abhängen, ob ihm bewusste Vorstellung und bewusste
Reflexion zukommt oder nicht.
Gleichviel wie diese Frage beantwortet werden möge, wir werden
jedenfalls daran festzuhalten haben, dass die Attribute Wille und Vor-
stellung ausreichen, um den Begriff des Geistes zu konstituiren, wo-
fern sie beide einem identischen Subjekt als Attribute zukonmien. Von
der menschlichen Vorstellung haben wir das Successive, Diskursive,
Abstrakte und Keflektirende hinwegzunehmen und nur das Intuitive
stehen zu lassen, wovon aber auch wieder die organisch bedingte
Form der Sinnlichkeit abzustreifen ist. Vom menschlichen Wollen
haben wir das Auseinanderfallen von TIeberlegung und Entschluss,
Vorsatz und Ausfuhrung, Wille und That wegzudenken und ebenso
die Vermittelung der Realisirung des Gewollten durch das Zwischen-
glied des Organismus, so dass als Wollen in Gott nur die unmittel-
bare Realisirung des Gedachten übrig bleibt. Damit kommen wir
aber genau auf dasselbe wie vorher durch den idealistischen Beweis.
Ueber das bisher Ermittelte ist man gegenwärtig so ziemlich in
allen Religionen einig; nicht dasselbe lässt sich von der Frage sagen,
ob Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Persönlichkeit zu den wesent-
lichen Bestimmungen des Geistes gehören, oder ob dieselben nur die
unentbehrlichen Formen eines besdiränkten Individualgeistes bilden,
welche durch dessen Abhängigkeit von einem natürlichen Organismus
bedingt sind. Die abstrakt-monistischen Religionen haben niemals
Bedenken getragen, diese Frage im letzteren Sinne zu entscheiden,
die theistischen Religionen hingegen neigen zu der ersteren Seite der
Alternative, wenngleich die Behauptung der Persönlichkeit Gottes
neuerdings schon stark in's Schwanken gerathen ist. Das religiöse
Motiv liegt darin, dass das theistische religiöse Bewusstsein die einheit-
liche gottmenschliche Funktion Gnade und Glaube in zwei Funktionen,
eine göttliche und eine menschliche auseinanderreisst und nun in Er-
mangelung einer wirklichen Einheit zwischen Gott und Mensch das
zerstörte religiöse Verhältniss surrogativ wieder aufzubauen sucht nach
Analogie der Beziehungen zwischen menschlichen Persönlichkeiten;
für ein solches Surrogatverhältniss zwischen einem diesseits stehenden
Menschen und dem jenseits stehenden Gott ist es allerdings nöthig,
den göttlichen Geist mit den menschlichen Gemüthseigenschaften
auszustatten, welche allein ein gemüthliches Verhältniss zwischen zwei
Personen gestatten, überhaupt den Begriff desselben nach Analogie
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2. Gott als das die absolute Abhängigkeit begründende Moment. 149
der menschlichen Persönlichkeit durchzubilden, wobei dann natürlich
auch die Bestimmungen des Selhstbewusstseins und Bewusstseins
nicht fehlen dürfen. Dieses religiöse Motiv erhielt bisher eine an-
scheinende theoretische Bestätigung durch eine kurzsichtige und ober-
flächliche Psychologie, welche im menschlichen Geistesleben nur be-
wusste Punktionen zu erkennen vermochte. Aber wie die tiefere
Erfassung der Thatsachen des religiösen Bewusstseins jenes religiöse
Motiv beseitigt und in sein Gegentheil verkehrt hat, so hat auch eine
Umwälzung in der Psychologie stattgefunden, welche den Postulaten
jenes religiösen Motivs die theoretische Bestätigung entzieht und
solche ihrem Gegentheil zuwendet.
Alles Bewusstsein ist bedingt durch Sinneswahmehmung und
sein Inhalt ist darum mit der Form der Sinnlichkeit behaftet; dies
gilt nicht nur für die unmittelbar von der Aussenwelt empfangenen
Eindrücke, sondern auch für die Wiederholungen derselben mit Hilfe
der molekularen Hirnprädispositionen, und für alle Trennstücke und
Kombinationsresultate derselben. Man giebt auch hereitwillig zu,
dass die Form der Sinnlichkeit dem göttlichen Bewusstsein nicht
anhaften könne, aber man supponirt die Möglichkeit eines Bewusst-
seins ohne die Form der Sinnlichkeit Diese Möglichkeit ist un-
bestreitbar, insofern es sich gerade um die specifisch menschliche
Sinnlichkeit handelt, aber gänzlich sachwidrig, wenn man vergisst, dass
die menschliche Sinnlichkeit doch nur die besondere Form der Kecep-
tivität repräsentirt, wie sie sich unter den natürlichen Bedingungen
des menschlichen Organismus entwickeln muss. Nicht die Sinnhch-
keit, wie wir Menschen sie aus unserer Erfahrung kennen, ist Be-
dingung des Bewusstseins, wohl aber die ßeceptivität, die psychische
Reaktion auf eine von aussen kommende Aktion, welche als etwas
selbst ungewolltes in den eigenen Willenszustand des Geistes ein-
greift. Eine solche Beceptivität in Gott annehmen, heisst statuiren,
dass es für Gott ein Draussen gehe, dass es Aktionen gebe, welche
als nicht von ihm gewollte seinen Willenszustand afficiren, was alles
ganz unzulässig ist, sowohl vor dem wissenschaftlichen wie vor dem
religiösen Forum. Gott ist die absolute Produktivität, und für Becep-
tivität in ihm kein Platz, weil nichts da ist, was er nicht selbst als
Glied seiner eigenen inneren Mannichfaltigkeit gesetzt hätte, weil er,
populär ausgedrückt, nichts zu erfahren hat, was er nicht schon
wusste und zwar besser wusste.
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150 B. L Die Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
Wenn die menschliche Qeistesthätigkeit wirklich im Bewusstsein
aufginge, so müsste man allerdings Bedenken tragen, Gott das
Prädikat des Geistes beizulegen ; es wäre dann besser ein neues Wort
zu ersinnen und dieses so zu definiren, dass es die aus den vorher-
gehenden Beweisen folgenden Bestimmungen in sich befasste. Dann
würde allerdings dem religiösen Bewusstsein die fast unlösbare
Schwierigkeit erwachsen, das Hineinwirken eines übergeistigen Gottes
in den menschlichen Geist begreiflich zu finden. Aber auch die
menschliche Geistesthätigkeit erschöpft sich nicht in Bewusstsein,
vielmehr steht hinter allem Bewusstsein die unbewusste Thätigkeit,
das Apriori sowohl der Wahrnehmung als der Gedächtnissvorstellung,
die vorbewusste Geistesfunktion, welche den Inhalt des Bewusstseins-
aktes, sowie die Form desselben hervorbringt. Apriori oder vorbewusst
producirt est ebenso die «Materie der Empfindung» oder die einfachen
sinnlichen Qualitäten, wie die «Form der Anschauung» oder die sinn-
lichen Anschauungsformen und Denkformen, gleichviel ob dieselben
an solchen Gehirnschwingungen Anlass zur Bethätigung finden, welche
durch Sinneseindrücke hervorgerufen sind (Wahrnehmungen), oder an
solchen, welche auf Grund vorhandener Hirndispositionen durch vorher-
gehende Aktionen ausgelöst sind (Erinnerungen durch Vorstellungs-
association). Unbewusst ist ausser der Geistesthätigkeit, welche den
Bewusstseinsinhalt in seiner ursprünglichen Gestalt producirt und als
Erinnerung reproducirt, auch diejenige, welche ihn umgestaltet und
verarbeitet, also beispielsweise die trennende, abstrahirende und die
verbindende, kombinirende Thätigkeit, namentlich aber auch alle
Formen der logisch ableitenden oder jschliessenden Thätigkeit. Ueberall
bewegt sich die Denkthätigkeit in unbewusst verlaufenden Schritten,
deren Fusstapfen allein in's Bewusstsein fallen, oft aber auch in un-
bewussten Sprüngen, deren Verlauf das Bewusstsein nicht mehr wie
beim gleichmässigen Schreiten kontroliren kann. Alle Zweckthätig-
keit im bewussten Denken verläuft wesentlich unbewusst und wirkt
jenseits des Bewusstseins darauf hin, zweckentsprechende Mittelgüeder
als Vorstellungen in's Bewusstsein zu rufen. Alle produktive Geistes-
thätigkeit, namentlich die künstlerische, wirkt nach unbewussten Vor-
bildern und sucht den Bewusstseinsinhalt nach Maassgabe des ver-
fügbaren Gedächtnissmaterials diesen idealen Mustern ähnlich zu
gestalten.
Die Keceptivität des Geistes ist Bewusstsein gerade nur soweit.
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2. Gk)tt als das die absolute Abhängigkeit begründende Moment 151
als sie Passivität ist, unbewusst aber insoweit, als sie Aktivität, näm-
lich spontane Reaktion auf die gegebenen Anlässe ist; die passive,
ohne ihr Zuthun gesetzte Form des Bewusstseins umfasst den passiven,
ohne sein Zuthun gesetzten Inhalt, mit dem die produktive unbewusste
Aktivität als mit ihrem Material schaltet. Der in sinnUche Form
gegossene Bewusstseinsinhalt ist der unbewussten produktiven Geistes-
thätigkeit des beschränkten Individuums nur darum als Material un-
entbehrUch, weil sie kein anderes Material hat, um sich auszuwirken ;
der unbewussten produktiven Geistesthätigkeit Gottes hingegen ist
solches Material entbehrlich, weil sie ein weit grossartigeres, freieres
und reicheres besitzt an der unmittelbaren Beaüsirung seiner absoluten
Idee. Dem absoluten Weltgenie ist das Dasein der Welt imd das
Bewusstsein in der Welt selbst der StoflF, in welchem es seine geniale
Produktivität entfaltet. Was also den menschüchen Geist erst zum
Geiste macht, die den Bewusstseinsinhalt gestaltende und verarbeitende
Thätigkeit, das gerade eignet dem göttlichen Geist im höchsten Grade,
ohne dass er bei seiner schöpferischen Produktivität eines Bewusstseins-
inhaltes bedarf. Deshalb ist es im höchsten Grade berechtigt, das
göttliche Wesen gleich dem menschlichen als Geist zu bezeichnen,
obgleich ihm das Bewusstsein fehlt; denn das beste Theil des mensch-
lichen Geistes besitzt es doch, und hat für das Bewusstsein einen
höheren Ersatz, die schöpferische Produktivität und produktive All-
wissenheit.
Wenn dem göttlichen Geist das Bewusstsein abzusprechen ist,
so ist ihm damit auch schon das Bewusstsein seiner selbst abge-
sprochen, welphes ja nur das mit einem bestimmten Inhalt erfttllte
Bewusstsein bezeichnet. Alles Selbstbewusstsein kann sich nur am
Weltbewusstsein entzünden; es muss zunächst ein Nicht-Ich bewusst
geworden sein, damit an dem Gegensatz mit diesem das Ich bewusst
werden könne. Wenn Gott kein Bewusstsein von der Welt hat, so
kann er auch nicht zu einem Bewusstsein seiner selbst gelangen;
da es für Gott als das allumfassende, alles seiende Wesen kein
Nicht-Ich giebt, so kann es auch kein Ich für ihn geben. Insofern
Gott aktuell ist, schaut er allerdings unbewusster Weise sich selbst,
nämüch die Entfaltung seines eigenen Wesens zur Welt an; aber er
reflektirt nicht darauf, dass das Angeschaute sein explicirtes Selbst
ist, weil er überhaupt nicht reflektirt. In dem jeweilig aktuellen
Inhalt der absoluten Idee ist explicite nur die gegenwärtige Weltl^ige,
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152 B- I- I^iö Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
implicite auch alle vergangenen und zukünftigen Weltlagen enthalten,
80 dass Gottes unbewusste Allwissenheit explicite das Gegenwärtige,
implicite auch das Vergangene und Zukünftige umspannt. In analogem
Sinne darf man sagen, dass Gott in dem Inhalt der absoluten Idee
auch sich selbst als Träger und Producenten dieses Inhalts anschaut,
dass seine unbewusste Allwissenheit implicite auch sich als genetisches
Centrum seiner expliciten Wesensmanifestation mit umfasst, gleichwie
mit einer Kreislinie implicite auch der Mittelpunkt gegeben ist,
wennschon er nicht durch einen schwarzen Elex markirt ist. Will
man dies ein Wissen seiner selbst nennen, so mag man es thun,
jedoch niemals dabei unbemerkt lassen, dass dieses Wissen seiner
selbst formell kein bewusstes, inhaltlich kein explicites ist; dem Be-
griff des Selbstbewusstseins im Sinne menschlicher Reflexion steht
diese Bestimmung so fem wie möglich.*)
Ob der göttliche Geist als solcher Unlustempfindung besitzt,
hängt davon ab, ob der Wille, als absoluter betrachtet, Nichtbefrie-
digung erfährt, was der Allmacht zu widersprechen scheint. In der
That betreffen alle Nichtbefriedigungen des Willens in der Welt nur
partielle Willensrichtungen, so dass von diesen das absolute Subjekt
nur in seiner Einschränkung zu individuellen Subjekten berührt vrird;
der absolute WiUe als absoluter, d. h. sofern er den Gesammtinhalt
der Idee sanmit allen Konflikten der von ihr umspannten Bestand-
theile realisirt, bekommt stets seinen Willen, d. h. er bleibt im Ganzen
niemals unbefriedigt, wenn er auch alles Einzelleid als selbstauf-
erlegtes, als selbstge wollten Inhalt seiner selbst trägt.. Aber dies
gilt doch nur für den absoluten Willen, sofern er Etwas, nämlich die
Verwirklichung der Idee, will; gäbe es in Gott einen Willen, der
zwar wollte, aber noch nicht etwas wollte, also nur wollen wollte, ohne
das Etwas finden zu können, das er wollen könnte, so würde dieser
Wille allerdings trotz aller Allmacht unbefriedigt sein und Unlust-
empfindung erzeugen. Dieser Wille wäre denkbar, wenn zwar die
Tendenz zum Wollen unendlich, der jeweilig aktuelle Inhalt der Idee
aber endlich wäre, also ein unendlicher Ueberschuss der Tendenz zum
wirklichen Wollen über die Möglichkeit wirklichen WoUens in Gott
bestände. Nun kann aber der jeweilig aktuelle Inhalt der absoluten
*) Vgl. „Philosophie des Unbewussten^S 5.-9. Aufl., Kap. C. VIH, Bd. U.
S. 175-193, 478—486.
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2. Gott als das die absolute Abhängigkeit begrÜDdendo Moment. I53
Idee (trotz der unendlichen Möglichkeit der Entfaltung der Idee)
nicht unendlich sein, weil damit der logische Widerspruch einer
simultan vollendeten Unendlichkeit gesetzt wäre; hingegen muss die
Tendenz zum wirklichen Wollen im Absoluten allerdings als unend-
lich angenonmien werden und darf es, weil sie sich zum wirklichen,
idee-erfallten Wollen als noch unwirkliche, wenn auch erregte Potenz
verhält.*) Demgemäss muss allerdings ein solcher unendlicher Ueber-
schuss eines unbefriedigten Strebens nach Wollen in Gott ange-
nonmien werden, welcher eine unendliche Unlustempfindung, oder
ausserweltliche Unseligkeit Gottes, erzeugt.
Eine Lustempfindung in Gott, abgesehen von den Lustempfin-
dungen, welche das absolute Subjekt in seiner Einschränkung zu
Individuen in der Welt erfahrt, wäre nur unter der Voraussetzung
möglich, dass Gott ein reflektirendes Bewusstsein besässe, durch
welches er den Kontrast der Willensbefriedigung mit der Nicht-
befriedigung percipirte. Da nun aber Gott weder ein Bewusstsein
besitzt, noch überhaupt in der erforderlichen Weise reflektiren kann,
so ist ein Bewusstwerden der Befriedigung des idee-erfallten absoluten
Willens in ihm nicht möglich, also Lustempfindung, sowohl relative
wie absolute (Seligkeit), ausgeschlossen. Sofern also das göttliche
Wollen als einheitliche Totalität in der Welt immer seinen Willen
bekommt, bleibt diese Befriedigung des WoUens im Ganzen Gott
unbewusst; sofern aber das absolute Wollen sich in eine Mannich-
faltigkeit von kollidirenden Partialwillensäkten gliedert, deren über-
wiegende Nichtbefriedigung Unlust erzeugt, umspannt es die Summe
aller dieser bewussten Nichtbefriedigungen, deren gemeinsamer Träger
das absolute Subjekt ist. Aber Gott trägt zwar die Summe der
innerweltlichen Unlust, jedoch ohne auf sie zu reflektiren, also ohne
ein Bewusstsein von derselben zu haben ausser den Bewusstseinen,
welche er als eingeschränkte Subjekte in den Individuen hat. Als
Gott im Unterschied von der Welt fühlt demnach Gott nur eine Art
der Unlust, nämlich unendliche ausserweltliche Unseligkeit, gar keine
Art der Lust und keinerlei bewusste Vorstellungen und Begehrungen.
Wo alles dies nicht zu finden ist, da fehlt es gänzlich an dem
Material, aus welchem die reiche Welt der Gefühle in bewusst-
*) Vgl. „Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus", 2. Aufl.,
S. 340—344.
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154 B. I. Die Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
geistigen Persönlichkeiten sich aufbaut. Es giebt kein Gefühl, welches
ohne die Grundlage bestimmter Lust- und Unlust -Empfindungen
existirte; gewöhnlich mischen sich mehrere Lust- und Unlust-Empfin-
dungen verschiedener Art mit bewussten Willensstrebungen , und
niemals sind zur qualitativen Charakteristik der Gefühle bewusste
Vorstellungen oder sinnliche Empfindungen entbehrlich. In Gott
fehlen alle diese einzelnen Bestandtheile und darum denkt selbst der
Theismus das Gefühlsleben seines Gottes von allen sinnlichen Bei-
mischungen und von allen Affekten gereinigt, und legt den Nachdruck
auf dauernde Willensrichtungen, welche im menschlichen Geistesleben
von einer starken Gefählsresonanz begleitet zu sein pflegen, wie Wohl-
wollen, Barmherzigkeit, Liebe u. s. w. Dabei wird nur übersehen,
dass gerade die Gefühlsresonanz jener Willensrichtungen im mensch-
lichen Gemüth wesentlich auf organisch-natürlicher Basis im oben
bezeichneten Sinne beruht, und in einem „reinen Geist" wegfallen
würde; aber selbst die Willensgrundlage jener Gefühle beruht auf
Voraussetzungen, welche in Gott wegfallen, nämlich auf den persön-
lichen Wechselverkehr koordinirter organisch -psychischer Lidividuen.
So gewinnt z. B. die Liebe ihren specifischen Gefuhlscharakter
erst als Vater-, Mutter-, Bruder-, Schwester-, Sohnes-, Tochter-, Ver-
wandten-, Freundes-, Gatten-, bräutlicher Geschlechts- u. s. w. Liebe ;
eine völlig abstrakte Liebe ist wohl noch ein Begriff, aber kein Gefühl
mehr. Jedes Gefühl ist nur da möglich, wo auch sein Gegentheil
möglich ist, Liebe nur wo Hass, Langmuth wo Ungeduld, Wohlwollen
wo Uebel wollen, Güte wo Bosheit, Barmherzigkeit wo Grausamkeit,
Milde wo Zorn möglich ist u. s. w.; streicht man die eine Seite der
Gegensätze in Gott, so hat man damit implicite anerkannt, dass in
ihm die psychologischen Voraussetzungen für diese ganzen Gefühls-
gegensätze fehlen. Giebt man aber zu, dass die Gefühlsresonanz im
Bewusstsein als anthropopathisch zu beseitigen, der Kern der mensch-
lichen Gefühle als bewusste ethische Willensrichtungen aber festzu-
halten seien, so ist demgegenüber zu bemerken, dass damit that-
sächlich auf die Seite des Gefühls im göttlichen Geist verzichtet
ist, und dass gleichwohl die Uebertragung dieses Willenkems der
Gefühle auf Gott an äusseren und inneren Schwierigkeiten scheitert
Denn erstens fehlen für Gott die Beziehungen koordinirter bewusst-
geistiger Persönlichkeiten bestimmter Art, wie sie zwischen Menschen
als Grundlage der Gefühle dienen; zweitens würden in Gott diese
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2. Gott als das die absolute Abhängigkeit begründende Moment. 155
Wülensrichtungen nicht wie im Menschen als bewusste, sondern als
unbewusste auftreten und damit den letzten Best dessen abstreifen,
was sie im Menschen gerade als Wesenskem der Gefühle erscheinen
lässt; drittens endlich würdön in Qott diese ethischen Willens-
richtnngen* aufhören, ein selbstständiges, von der That abgelöstes
Element seines Geisteslebens zu bilden, wie sie es im Menschen that-
sächlich thun; denn in Gott besteht keine Sonderung von Wunsch
und Wille, Wille und That, welche im Menschen es erst möglich
macht, die von der That abgelösten sittlichen Willensrichtungen für
sich zu betrachten und zu behandeln.
Nach alledem ist es ein gänzlich verfehltes Bemühen, für den
göttlichen Geist irgend eine Analogie des menschlichen Fühlens
(ausser der ausserweltlichen Unseligkeit) festhalten zu wollen. Der
göttliche Geist besteht nur aus Wille und Vorstellung.
Nach diesen Erörterungen kann es keinem Zweifel mehr unter-
liegen, ob dem göttlichen Geiste die Bestimmung der Persönlichkeit
zuzutheilen sei oder nicht. Wo Gedächtniss, Gemüth und Charakter,
Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Gefühl ausgeschlossen sind, kann
von Persönlichkeit nicht mehr die Kede sein, und es bedarf für uns
nicht mehr des specieUen Nachweises, dass Persönlichkeit und Ab-
solutheit einander ausschliessende Begriffe sind, von denen nur einer,
nicht beide zugleich dem Geiste zukommen können.*) Da die Ab-
solutheit unentbehrliche Bedingung für einen erlösungsföhigen Gott
ist, so muss bei diesem Dilemma natürlich die Persönlichkeit weichen,
und durch dasselbe indirekt als fehlerhafte Uebertragung von dem
beschränkten Individualgeist auf den absoluten Geist erwiesen werden.
Der ontologische Beweis dient also hier zur Bechtfertigung der
kritischen Vorsicht gegen fehlerhafte Anthropopathismen bei der
Verwerthung des psychologischen Beweises, und dadurch indirekt zur
Bestätigung d^r wahren Ergebnisse des letzteren.
Zur direkten Bestätigung der Ergebnisse des psychologischen Be-
weises dient auch der identitäts-philosophische Beweis, nach welchem
Gott der einheitliche Grund sowohl der äusseren als auch der inneren
Seite der Welt, des materiellen Daseins wie des Bewusstseins sein soll.
So wenig das Bewusstsein aus dem materiellen Dasein entstehen kann,
so wenig das letztere aus dem ersteren ; darum ist der Materialismus
*) Vgl. „Biedermann's Dogmatik^', § 715—716.
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156 B. L Die Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
ebenso unwahr und unbrauchbar wie der subjektive Idealismus und
der bisherige Spiritualismus, welcher den Geist nur als bewussten
kennt. Darum kann auch Gott weder Materie noch Bewusstsein sein,
weil er im ersteren Falle das Bewusstsein, im letzteren Falle das
materielle Dasein nicht aus sich hervorbringen könnte; das Bewusst-
sein bleibt ewig in seinen eigenen Kreis gebannt und müsste sich
erst seiner selbst entäussem, also ins Unbewusstsein umschlagen,
bevor es sich zum materiellen Dasein entäussem könnte. Wäre Gott
bewusst, so müsste er, um die daseiende Welt schaffen zu können,
erst sein Bewusstsein aufheben und als ünbewusstes in die Natur
herabsteigen; diese Selbstentäusserung des Bewusstseins ist in einem
absoluten reinen Geist ebenso undenkbar, wie der vom Theismus
angenommene Fortbestand des göttlichen Selbstbewusstseins und
Weltbewusstseins rieben und trotz dem in der Natur zum Unbewusst-
sein heruntergekonmienen Urbewusstsein.*) Gott muss vielmehr von
vornherein unbewusster Geist sein, um der Gnmd der unbewussten
Natur sein zu können, ebenso wie er unbewusster Geist sein muss,
um der Grund des bewussten Geistes sein zu können.
So gewiss der identitätsphilosophische Beweis die Immaterialität
des Grundes der äusseren Erscheinungswelt verlangt^ so gewiss die
Unbewusstheit des Grundes der inneren Erscheinungswelt; denn der
einheitliche Grund der materiellen Aussenseite und bewussten Innen-
seite des Universums kann selbst weder mit der Form der Materie
noch mit der Form des Bewusstseins behaftet, sondern muss über
beide Erscheinungsformen in gleicher Weise erhaben sein. Nur ein
thörichter Hochmuth des menschlichen Selbstbewusstseins in Ver-
bindung mit einem 'völlig mechanischen und todten Schöpfongsbegriff
kann den genauen Parallelismus beider Gedankenglieder verkennen
und sich darüber verblenden, dass Materialität und Bewusstsein gleich
phänomenale Formen des Universums .darstellen und gleich wenig
geeignet sind, dessen absolutem Grunde beigelegt zu werden. Dass ein
absoluter unbewusster Geist mit den Attributen Wille und Vorstellung
oder Allmacht und Allweisheit wirklich im Stande ist,- die Aussenwelt
des materiellen Daseins aus sich hervorzubringen, das lehrt eben der
idealistische Beweis, insofern derselbe zeigt, dass die Welt nur aus
einem so beschaffenen Grunde erklärt werden kann ; dass ein absoluter
*) Vgl. 0. Plumacher: „Der Kampf um's ünbewusste'S S. 21—28. Carl
Ponoker'B Verlag in Berlin 1881.
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2. Ooit als das dio absolute Abh&ogigkeit begründende Moment. 157
onbewnsster Geist im Stande ist, das Bewusstsein aus sich hervor-
zabringen, das lehrt der psychologische Beweis, indem er als das
wahre Wesen sogar des menschlichen Geistes die unbewussten geistigen
Funktionen aufzeigt. Die genaueren Detailnachweise für beides ge-
hören nicht mehr in die Religionsphilosophie, sondern in die Meta-
physik*)
Wenn der idealistische und der psychologische Beweis zu den
gleichen Ergebnissen über das Wesen Gottes führten, so lehrt uns
der identitätsphiiosophische Beweis, dass diese üebereinstimmung
keine zufallige ist, sondern nothwendig eintreten musste. Gott kann
nur dadurch Grund der Aussenwelt und Grund der Innenwelt sein,
dass er die wesentlichen Bestimmungen beider in sich trägt, so dass
man nur die wesentlichen Bestimmungen, die elementaren Grund-
funktionen in der Aussenwelt und Innenwelt aus der Masse ihrer
vielgestaltigen sekundären Kombinationen herauszuschälen braucht,
um auf Bestimmungen des göttlichen Wesens zu kommen. Nun
sind aber die Aussenwelt und die Innenwelt untrennbar zusammen-
gehörige Seiten einer einheitlichen Welt, in welcher sich das Wesen
Gottes manifestirt, folglich müssen sie selbst ihren wesentlichen Be-
stimmungen nach identisch sein, also auch auf eine identische Be<-
stimmung des göttlichen Wesens hinführen. Dass diese Konsequenz
des identitätsphilosophischen Princips sich uns thatsächlich bewährt
hat, darf zugleich wieder rückwärts als eine indirekte Bewährung für
dieses Princip gelten, aus welchem sie gefolgert ist
Mit den Ergebnissen dieser drei Beweise in Betreff des gött-
lichen Wesens müsste das religiöse Bewusstsein auch dann, wenn
sie ihm unmittelbar nicht behagten, sich zufrieden geben, weil sie
logische Folgerungen aus den von ihm selbst sanktionirten Beweisen
sind, und zugleich von der theoretischen Metaphysik bestätigt werden.
In der That entsprechen aber diese Ergebnisse ganz unmittelbar den
Forderungen des religiösen Bewusstseins, und die ent^gengesetzten
Annahmen der theistischen Religionen entsprechen denselben nicht,
und erwecken nur dadurch den falschen Schein, ihnen besser zu ent-
*) Ueber die fintstehnng der Materie ans unbewusstem Wollen und Vorstellen
vgL ,,Philosophie des Unbewussten", Kap. C. V und „Gesammelte Studien und
Aufsätze", C. VU; über die Entstehung des Bewusstseins aus dem unbewussten
Geist vgl. „Philosophie des Unbewussten", Kap. G. m (Bd. U, S. 29-64, 468 bis
471) und 0. Plumacher: „Der Kampf um's Unbewusste", S. 40->75.
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158 B- I- Die Metaphysik des religiöseii Objekts oder die Theologie.
sprechen, weil die psychologischen Thatsachen des religiösen Bewusst-
seins vom Theismus nicht unbefangen genug aufgenommen und ge-
deutet, sondern nach vorgefassten theoretischen Meinungen gemodelt
und entstellt werden.
Das religiöse Bewusstsein sagt aus, dass im religiösen Yerhältniss
die reale Einheit zwischen Qott und Mensch thatsächlich vollzogen
sei, dass nSmlich das aktuelle religiöse Yerhältniss eine ganz und gar
göttliche und zugleich ganz und gar menschliche Funktion sei, welche
als beides in Einem seiend gewusst wird. Anstatt dieses religiöse
Fundamentalphänomen zum Ausgangspunkt zu nehmen und zu fragen,
welcher Art die metaphysischen Voraussetzungen sein müssen, unter
welchen diese psychologische Thatsache als möglich und widerspruchs-
los denkbar erscheint, geht der Theismus von dem dogmatischen Vor-
urtheil aus, dass Gott und Mensch zwei wesensverschiedene bewusst-
geistige Persönlichkeiten seien. Da nun dieses metaphysische Vorurtheil
die eine identische Funktion des religiösen Verhältnisses unweigerlich
iu zwei, eine göttliche und eine menschliche, zerreisst, so hebt er
eben dadurch die reale Einheit von Gott und Mensch auf und setzt
an deren Stelle eine blosse Wechselwirkung beider. Um nun dem
religiösen Bedürfniss fttr den ihm entrissenen Besitz der realen Ein-
heit mit Gott doch irgend einen Ersatz zu bieten, malt der Theismus
die Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch nach Analogie eines
Verhältnisses zwischen zwei Menschen aus, in welchem Pietät, Dankbar-
keit, Treue, Liebe u. s. w. waltet, also mit Vorliebe nach Analogie
des Verhältnisses von Herr und Knecht, König und Unterthan,
Bräutigam und Braut, Gatte und Gattin, Vater und Sohn u. s. w.
Hierzu ist selbstverständlich erforderlich, dass Gott die Eigenschaften
des Gemüths und Geistes besitzt, welche allein ihn befähigen, in ein
solches Verhältniss einzutreten, also Strenge und Milde, Zorn und
Güte, Eifer und Langmuth, Treue und Barmherzigkeit, Grossmuth
und Liebe, vor allem aber die selbstbewusste Persönlichkeit, welche
dem Menschen erst ermöglicht, ihn seinem Ich als Du gegenüber-
zustellen. Aber diese gesanmiten socialen, politischen und familiären
Beziehungen sind doch nur ein kläglicher Nothbehelf, ein anthro-
popathisehes Surrogat für die dogmatisch wegeskamotirte reale Ein-
heit mit Gott; an Stelle des legitimen Besitzes wird dem Menschen
die Sehnsucht gegeben, denn die Liebe, in welcher dieses persönliche
Verhältniss gipfelt, ist doch schliesslich weiter nichts als Sehnsucht
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2. Oott als das die absolute Abhängigkeit begriindende Moment. 159
nach Vereinigung. Dieser Tausch wäre unerträglich, wenn nicht der
Sehnsucht doch wieder die Hoffnung auf Erfüllung, gelassen würde;
die für dieses Leben vom Theismus zerstörte reale Einheit mit Gott
wird dem religiösen Bewusstsein als ein im jenseitigen Leben winken-
der Lohn hingestellt, und nur dadurch wird dasselbe soweit beschwicli-
tigt, um sich den am Diesseits vollzogenen Raub gefallen zu lassen
und mit dem Surrogat des persönlichen Liebesverhältnisses vorläufig
zufrieden zu geben. Durch die transcendente Perspektive einer realen
Einheit mit Gott, welche freilich unter den theistischen Voraus-
setzungen für das Jenseits und das Diesseits gleich widerspruchsvoll
bleibt, legt der Theismus das unfreiwillige Geständniss ab, dass die
Art von religiösem Verhältniss, welche er dem religiösen Bewusstsein
thatsächlich zu bieten hat, nicht die wahre Art des religiösen Ver-
hältnisses sei und sein könne, dass vielmehr das Ideal des religiösen
Verhältnisses erst in der wirklichen Einheit mit Gott als erfallt zu
betrachten sei.
Dieses transcendente Ideal des Theismus ist aber gerade das,
was die unbefangene Beobachtung des religiösen Bewusstseins als
thatsächlich im Menschen realisirt aufweist, obgleich der Theismus
nach seinen dogmatischen Voraussetzungen es für unmöglich erklärt
und erklären muss. Eine unbefangene Forschung wird daraus nur
den einen Schluss ziehen können, dass die metaphysischen Voraus-
setzungen des Theismus den empirischen Thatsachen des religiösen
Bewusstseins nicht entsprechen, und man nach andern metaphysischen
Voraussetzungen suchen muss, wenn man die Hoffnung aufrecht
erhalten will, welche zu finden, unter denen die Thatsachen des reli-
giösen Bewusstseins als möglich und widerspruchslos denkbar er-
scheinen. Welcher Art die Beschaffenheit des Menschen sein muss,
um die Thatsachen des religiösen Bewusstseins zu ermöglichen, damit
werden wir uns erst später beschäftigen; hier handelt es sich zu-
nächst darum, welcher Art die Beschaffenheit Gottes sein muss, um
sie zu ermöglichen. Da zeigt sich denn als Postulat des religiösen
Bewusstseins, dass Gott in positiver Hinsicht Qeistigkeit zukommen
muss, weil nur ein geistiges Wesen geistige Funktionen hervor-
bringen, und nur eine geistige Funktion Gottes mit der zweifellos
geistigen Funktion des Menschen identisch sein kann; ferner zeigt
sich aber, dass Gott nicht eigenes Bewusstsein, Selbstbewusstsein
und Persönlichkeit noch abgesehen von denen des Menschen besitzen
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160 B. L Die Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
darf, wenn die funktionelle Identität von Gnade und Glaube möglich
bleiben soll.
Denn wenn Gott ein eigenes persönliches Bewusstsein besitzt, so
muss die Gnade als seine Funktion in diesem Bewusstsein beschlossen
sein, ebenso wie der Glaube in dem persönlichen Bewusstsein des
Menschen; die Vorstellung der göttlichen Gnade im menschlichen
Bewusstsein wäre nicht die Gnade selbst, sondern ein menschlich-sub-
jektives Abbild derselben, ebenso wie die Vorstellung des menschlichen
Glaubens im göttlichen Bewusstsein nicht der Glaube selbst, sondern
ein göttlich-subjektives Abbild desselben wäre. So wäre also im gött-
lichen Bewusstsein die reale Funktion der Gnade und das subjektiv-
ideale Bewusstseinsabbild des menschlichen Glaubens, im menschlichen
Bewusstsein der reale Glaube und das subjektiv-ideale Bewusstseins-
abbild der göttlichen Gnade enthalten; Gnade und Glaube als reale
Funktionen wären also auf verschiedene persönliche Bewusstseine ver-
theilt und auf eine blosse Wechselwirkung unter Vermittelung der
gegenseitigen subjektiven Vorstellungsabbilder angewiesen, eine funktio-
nelle Identität beider wäre aber entschieden ausgeschlossen. Die funktio-
nelle Identität ist nur bei der Einheit des Bewusstseins zu wahren;
eine Verdoppelung und Auseinanderrisissung des Bewusstseins, in
welchem die Funktion vor sich geht, führt nothwendig auch zu einer
Verdoppelung und Auseinanderreissung der Funktion. Die Einheit des
Bewusstseins ist nur auf zweierlei Art möglich: entweder Gott hat
ein Bewusstsein für sich und das menschliche Personalbewusstsein ist
bloss ein wahrheitsloser Schein im göttlichen Bewusstsein; oder aber
der Mensch hat ein wirkliches Bewusstsein für sich als Individuum
und Gott hat keines für sich als Gott. Im ersteren Falle wäre mit
der Wirklichkeit des menschlichen Bewusstseins auch die Wirklichkeit
der menschlichen Persönlichkeit und dan^t die anthropologische Gründ-
bedingung des religiösen Verhältnisses aufgehoben; demnach bleibt
nur die andre Seite der Alternative als möglich übrig, wonach Gott
kein Bewusstsein für sich hat, sondern das menschliche Personal-
bewusstsein das erste und einzige ist, welches der unpersönliche Gott
bei seiner unbewussten Gnadenfunktion vorfindet. Das religiöse Be-
wusstsein postulirt also als unentbehrliche Voraussetzung der funktio-
nellen Identität von Gnade und Glaube die Unbewusstheit nnd
Unpersönlichkeit des göttlichen Geistes; denn nur ein unbewusster
und unpersönlicher G^ist kann sich mit einer unbewussten Funktion
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2. Gtott als das die absolute Abhängigkeit begründende Moment. Ißl
SO in das menschliche Geistesleben einsenken, dass dieselbe als
integrirender Bestandtheil der menschlichen Persönlichkeit auftritt
und bei ihrem Bewusstwerden einen integrirenden Bestandtheil des
menschlichen Bewusstseins bildet.
Eine oberflächliche Betrachtung könnte vielleicht meinen, das
Wort des Eäthsels gefunden zu haben, wenn sie die noch unbewusste
Punktion als die göttliche, die bewusstgewordene als die menschliche
Seite der gottmenschlichen Funktion bezeichnete; aber dies wäre
ebenso unwissenschaftlich wie irreligiös. Die Wissenschaft muss
darauf bestehen, dass nicht nur der fertige Bewusstseinsinhalt,
sondern auch die unbewusste Genesis desselben dem menschlichen
Geistesleben angehört und seinen ausnahmslosen Gesetzen unter-
worfen ist, dass aber auch andrerseits die göttliche Punktion nicht
dadurch, dass sie die Form des Bewusstseins annimmt, aufhören
kann, Funktion Gottes zu sein. Das religiöse Bewusstsein muss
darauf bestehen, dass es in sich als Bewusstsein, nicht bloss in seiner
vorbewussten Entstehungsgeschichte die reale Funktion der göttlichen
Gnade besitzt. Diese' Funktion muss also ebenso in ihrem noch
unbewussten Sein wie in ihrem bewussten Sein göttlich und mensch-
lich zugleich sein; denn die menschliche Funktion ist vor ihrem
Bewusstwerden ebenso unbewusst wie die göttliche, und die un-
bewusste göttliche Funktion kommt im aktuellen religiösen Verhältniss
ebensogut zum Bewusstsein wie die menschliche. Gott ist also seinem
Wesen nach ebensogut unbewusster Geist wie der Mensch, und er
kommt in gewissen seiner unbewussten Funktionen ebensogut zum
Bewusstsein wie der Mensch; aber er kommt nicht zu einem eigenen
Bewusstsein, nicht zu einem andern als der Mensch, sondern in dem
menschlichen Bewusstsein von ihm kommt er zu dem Bewusstsein
seiner selbst, um dadurch dem Menschen zum Bewusstsein von ihm
zu verhelfen. Abgesehen vom beschränkten individuellen Bewusstsein
ist also Gott allerdings rein unbewusst, sonst könnte er nicht in das
endliche Bewusstsein als Erlösungsgnade eingehen, wie das religiöse
Bewusstsein es verlangt.
Wenn man aufhört, Gott ein von dem menschlichen Bewusstsein
verschiedenes eigenes Bewusstsein und eine der menschlichen Per-
sönlichkeit gegenüberstehende eigene Persönlichkeit zuzuschreiben,
dann erst wird die Forderung des religiösen Bewusstseins ohne
Widerspruch realisirbar, dass wir in Gott leben, weben und sind,
V. Hartmann, Die Boligion des Goiatos. 11
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162 B- I- I^iö Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
und dass er in uns ist, wie wir in ihm. Dies alles ist unmöglich,
so lange Gott meinem Ich als ein persönliches Du gegenübersteht,
welches eben als Du stets eine andre von meinem Ich geschiedene
Persönlichkeit bleibt und niemals mich in eine wahre reale Einheit
mit sich aufnehmen kann. Damit hören dann auch alle surrogativen
Postulate auf, welche das religiöse Bewusstsein an den als «Du»
vorausgesetzten Gott in Betreff seiner Gemüthsbethätigung im
Wechselverkehr mit dem Menschen stellte und stellen musste. Der
unpersönliche Gott, der mit seiner unbewussten Funktion in die
Formen des menschlichen Geisteslebens eingeht, geht selbstverständ-
lich auch in die Gefühlsweisen des menschlichen Gemüths ein, welche
einen so wesentlichen Bestandtheil des menschlichen Geisteslebens
ausmachen; thäte er das nicht, so wäre die Seite des Geföhls aus
der religiösen Funktion gestrichen und damit diese Funktion als
religiöse aufgehoben. Aber um in die Formen des menschlichen
Fühlens eingehen zu können, muss die göttliche Funktion jedenfalls
die Bedingung erfüllen, nicht selbst schon specifisch bestimmtes gött-
liches Gefühl zu sein; sonst müsste diese Funktion erst ihre Be-
stimmtheit als göttliches Gefühl ablegen, ehe sie diejenige als mensch-
liches Gefühl annehmen könnte. Gerade weil das religiöse Bewusstsein
in seinem specifisch menschlichen Fühlen mit vollem Eecht die gött-
liche Erlösungsgnade erkennt und wiederfindet, gerade darum ist es
sein Postulat, dass jenseits dieses seines menschlichen Fühlens und
abgesehen von demselben die göttliche Funktion noch nicht an sich
schon Gefühl sei; denn wenn sie dies wäre, so wäre sie ein in for-
meller Hinsicht specifisch göttliches, nichtmenschliches Gefühl aus
göttlichem, also dem menschlichen entgegengesetzten Standpunkt, also
auch mit einem dem menschlichen entgegengesetzten Inhalt.
Wer diese Thatsachen verwischt und den Menschen einzureden
sucht, dass das religiöse Bewusstsein die Offenbarung Gottes als
Gemüth im Gemüth, als Bewusstsein im Bewusstsein, als Person
gegen Person unmittelbar konstatire, der fillscht das religiöse Be-
wusstsein, indem er eine auf falschen dogmatischen Voraussetzungen
beruhende Schlussfolgerung für eine unmittelbare Erfahrung ausgiebt.
Diese Fälschung ist keineswegs unschädlich und ungeföhrlich, denn
sie nöthigt das religiöse Bewusstsein dazu, sich mit dem theistischen
Surrogat einer persönlichen Wechselbeziehung zu Gott, mit Liebe und
Sehnsucht nach Vereinigung und mit Hoffnung auf eine Vereinigung
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3. Gott als das die Freiheit begründende Moment. 163
iji einem jenseitigen Leben zufrieden zu geben, und verblendet dasselbe
für die Thatsache, dass es das Ziel jener Sehnsucht und Hoffnung, die
reale Einheit mit Gott, im recht verstandenen religiösen Verhältniss
ja faktisch schon besitzt. Wer es ernst meint mit der Keligion, der
darf sich darum durch keinerlei wohlmeinende Konnivenz gegen über- '
lieferte Vorurtheile verleiten lassen, bei religiöser Belehrung und An-
regung der Menschen in die Auffassung Gottes als einer bewussten und
gemLüthvollen Persönlichkeit einzugehen, weil sie nicht bloss weniger
wahr ist, sondern auch weniger religiöse Tiefe und Erlösungskraft
besitzt, der muss immer und überall diese mangelhafte Auffassung
des göttlichen Wesens zu Gunsten derjenigen als eines reinen, über-
natürlichen, absoluten, unbewussten und unpersönlichen Geistes be-
kämpfen.*)
3. Gott als das die Freiheit begründende Moment.
Es ist nicht genug, dass Gott die relative Abhängigkeit von der
Welt überwindet und eine absolute Abhängigkeit von ihm selbst an
deren Stelle setzt ; dieser Tausch würde nicht einmal zur Erlösung
*) Es bleibt jedem persönlich unbenommen, die Auffassung Gottes als eines
persönlichen seinerseits für die wahrere zu haiton, aber es ist unstatthaft, diese
Auffassung für einen anthropopathischen vorstellungsmässigen Irrthum zu erklären
und doch dieselbe unter Berufung auf die praktische Unentbohrlichkeit konserviren
und pflegen zu wollen. Das principiell Verkehrte kann auch nur verkehrte Früchte
tragen, ist also pädagogisch unbrauchbar, sobald das Richtige zu Gebote steht.
Das vorsteUungsmässige Voruiibeil zu überwinden, mag schwierig sein, aber un-
möglich ist es nicht, und alle geistigen Fortschritte der Menschheit haben sich
nur dadurch vollzogen, dass man diesen schwierigen Kampf energisch durchführte.
Die Behauptung, dass neben der Idee eines absoluten geistigen Gottes die Vor-
stellung eines persönlichen Gottes für die praktische Bothätigung der Religion
unentbehi-lich sei, wäre ein krasser Rückfall in den Hegerschen In*thum, dass die
Religion die "Walu'heit nur in der kori-umpirten Gestalt der Vorstellung brauchen
und verwerthen könne. Die stärkste Verkelirung des Zusammenhanges der Dinge
aber findet sich da, wo die Auffassung Gottes als eines persönliclien zwai* als
theoretisch und praktisch gleich unhaltbar zugestanden wird, aber nichts desto
weniger an einem Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Gemüthseigenschaften des-
selben festgehalten wird. Denn diese letzteren entspringen ja nur aus denjenigen
fehlerhaften Interpretationen der Thatsachen des religiösen Bewusstseins, welche
durch das falsche Dogma der Persönlichkeit Gottes als unerschütterliche Voraus-
setzung bedingt sind, verlieren aber mit dem Hinfall dieses Dogmas jeden
theoretischen und praktischen Sinn.
11*
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164 B« I- iDie Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
vom Uebel ausreichen, geschweige denn zur Erlösung von der Schuld.
Für den Einzelnen bleibt das Uebel realiter ja so wie so bestehen
und nur idealiter wird es insofern aufgehoben, dass die selbstsüchtigen
Ziele des glücksuchenden Eigenwillens durch objektive Weltzwecke
und durch die Unterordnung des Eigenwillens unter dieselben ersetzt
werden ; also auch bei der Erlösung vom Uebel sind objektive Zwecke
erforderlich, denen der Eigenwille sich unterordnen, an deren Förde-
rung er mitarbeiten kann. Für die Erlösung von der Schuld aber
bedarf es erst recht dieser willigen Eingliederung des Eigenwillens in
die objektiven Zwecke, bedarf es positiver vom Ich zu ergreifender
WiUensziele, die zugleich göttlichen Ursprungs und menschlich erfüllbar
sind. So lange die absolute Abhängigkeit des Menschen von Gott
sich als blosse Passivität des Menschen manifestirt, steht sie formell
nicht über der relativen Abhängigkeit desselben von der Welt, wenn
sie auch in inhaltlicher und intensiver Hinsicht umfassender und un-
widerstehlicher ist; erst wenn die absolute Abhängigkeit von Gott
sich als Aktivität zu Gunsten der objektiven Zwecke bekundet, erweist
sie sich als etwas von der relativen Weltabhängigkeit schlechthin
verschiedenes.
Die Weltabhängigkeit macht den Menschen immer nur unfrei,
und um so unfreier, je stärker sie ist; auch da, wo der Mensch den
Kampf gegen die Aussenwelt aufnimmt und in scheinbar freier Willkür
sich der Abhängigkeit von der Welt wenigstens versuchsweise wider-
setzt, ist er nichts weniger als frei, sondern schlechthin determinirt
von seinen weltbedingten Vorstellungen, seinem Gedächtniss, Gemüth
und Charakter, die alle mit zur Welt gehören. Nur da, wo die
absolute Abhängigkeit eintritt und sich in einer Funktion äussert,
welche göttlich und menschlich zugleich ist, nur da ist der Mensch
frei in jeder Hinsicht, nämlich frei von jeder relativen Abhängigkeit,
insofern seine Funktion göttlich ist, und frei von jeder Heteronomie,
insofern die Funktion seine eigene menschliche, nach den Gesetzen des
menschlichen Geisteslebens entstandene und verlaufende Funktion ist.
Wäre Gott eine bewusst- geistige Persönlichkeit, so wäre die von
ihm dem Menschen eingesenkte Gnade nicht zugleich menschliche
Funktion, also die durch dieselbe determinirten Gesinnungen und
Handlungen des Menschen von aussen bestimmt oder heteronom; nur
weil Gott selbst noch keine Person, kein aicog ist, sondern erst im
Menschen Persönlichkeit oder Selbstheit gewinnt, nur darum kann
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3. Gott als das die Freiheit begründende Moment. 155
die göttliche Determination des menschlichen Handelns ohne Wider-
spruch zugleich selbstgesetzgebende Selbstbestimmung des Menschen,
oder Autonomie, oder religiös-sittliche Freiheit sein. So. gewinnt
der Mensch seine Freiheit (wobei niemals an den Widersinn einer
indetermiuistischen Freiheit zu denken ist) in der That erst im reli-
giösen Verhältniss durch Eintritt in die absolute Abhängigkeit; denn
wenn in formeller Hinsicht auch die egoistische Selbstbestimmung
Autonomie genannt werden muss, so ist es doch ein anderes Selbst,
welches sich hier bestimmt, wie dasjenige Selbst, welches sich dort
bestimmt: hier die natürliche Selbstheit des einen Theil der Welt
bildenden organisch-psychischen Menschenindividuums, dort die über-
natürliche Selbstheit des in sein wahres, tieferes Selbst eingekehrten,
seiner absoluten Abhängigkeit von Gott und realen Einheit mit Gott
bewusstgewordenen Menschengeistes, — hier das in dem Wahn seiner
Substantialität befangene, seine egoistischen Ziele verfolgende Ich,
dort das sich in Gott wissende und Gott in sich wissende, sich rein
als teleologisches Werkzeug Gottes betrachtende Ich. Weil Gott das
einzige freie, d. h. völlig unbedingte Wesen ist, darum ist der Mensch
unfähig, zur Freiheit zu gelangen, so lange er sich, d. h. sein Selbst
in seiner Verschiedenheit von Gott sucht und zu finden meint, darum
findet er sich aber sofort im Besitz der Freiheit, sobald er sich in
seiner realen Einheit mit Gott erkennt und sein wahres Selbst nicht
mehr ausser Gott, sondern in Gott sieht. Die reale Einheit mit Gott
bringt dem Menschen also einerseits die absolute Abhängigkeit von
Gott, andererseits aber die Freiheit, die einzig mögliche, den Mit-
genuss der einzig existirenden, nämlich der Freiheit Gottes.
Um nun das die Freiheit begründende Moment sein zu können,
muss Gott Zwecke setzen, welche über die egoistischen Zwecke der
Menschen hinausgehen, und an deren Förderung der Mensch sich
doch betheiligen kann. Wir kennen Gott bereits als Träger der
teleologischen Weltordnung, es kommt also nur darauf an, dass diese
teleologische Weltordnung auch dem Menschen eine Stelle biete, wo
seine Betheiligung zur Förderung derselben einsetzen könne. Bei
der untermenschlichen Natur ist dies nur in geringem Maasse der
Fall, desto ausgiebiger aber bei demjenigen Theil der teleologischen
Weltordnung, welcher auf die Menschheit Bezug hat. Diesen auf die
Menschheit Bezug habenden Theil der teleologischen Weltordnung
nennt man die sittliche Weltordnung; in ihr finden alle natürlichen
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166 B. I. Die Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
und sittlichen Kräfte der Menschen ihr Bethätigungsfeld, in ihr die
gesuchten objektiven Zwecke, welche den subjektiven egoistischen
Zwecken- zu substituiren sind. Als objektive sittliche Weltordnung
stellt dieselbe eine thatsächlich vollzogene und herausgebildete Ord-
nung dar, zugleich eine Ordnung, welche sich in ihrer Totalität den
subjektiv-egoistischen Velleitäten gegenüber siegreich behauptet und
nach erfolgten Störungen wiederherstellt; als absolute sittliche Welt-
ordnuüg ist sie die dem objektiven Weltlauf immanente Idee, welche
die objektive sittliche Weltordnung aus unvollkommenen Anfängen zu
immer vollendeteren Gestalten emporführt. Nicht nur die Unter-
Stützungsbereitschaft 'der Individuen, sondern auch ihre dem Anschein
nach sittlich-indiiferenten oder unsittlichen Kraftäusserungen müssen
auf kürzeren oder längeren Umwegen dazu dienen, die objektive sitt-
liche Weltordnung zu schirmen und weiter zu entwickeln; gerade in
diesem Gebrauch sowohl der willigen als der widerwilligen Kräfte zu
den providentiellen Zielen bewährt sich der unbewusste teleologische
Charakter der absoluten sittlichen Weltordnung.
An und für sich genommen als absolute dem Weltprocess imma-
nente Idee ist die absolute sittliche Weltordnung nicht Gesetz, sondern
immanenter Zweck, nicht vo^ioq sondern xelog-*) in ihrem Nieder-
schlag zur objektiven sittlichen Weltordnung ist sie ebensowenig Ge-
setz, sondern immanente Ordnung. In beiden Gestalten ist sie aller-
dings eine Macht, als immanenter Zweck eine heimliche, als installirte
sociale Ordnung eine öffentliche; insofern die öffentliche Macht der
socialen Ordnung dem Einzelnen entgegentritt, kann sie sich ihm
allerdings als Gesetz auferlegen, aber so ist sie nur heteronomes
Gesetz. Nur dann, wenn der Mensch die objektive sittliche Welt-
ordnung auf die in ihr sich manifestirende absolute sittliche Welt-
ordnung bezieht, und in dieser den dem Weltlauf immanenten
absoluten Zweck wiedererkennt, der auch seinem eigenen Bewusstsein
als Heiligungsgnade immanent ist, nur dann also, wenn der Mensch
sein Verhältniss zur sittlichen Weltordnung im Lichte der absoluten
Abhängigkeit auffasst, welche zugleich seine Freiheit begründete, nur
dann erhebt er als Mensch vermöge seiner gottmenschlichen Autonomie
den in der thatsächhchen Ordnung sich wiederspiegelnden immanenten
Zweck zum Gesetz, das eben dadurch nicht mehr als heteronomes
*) ^gl- „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins", S. 731—734.
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3. Gott als das die Freiheit begründende Moment. 1(57
Gesetz ihm gegenübersteht, sondern als autonomes Gesetz den posi-
tiven Inhalt, die innere Norm seiner Freiheit bildet.
So wird die sittliche Weltordnung als subjektive zum autonomen
sittlichen Gesetz; diese subjektive sittliche Weltordnung ist es erst,
welche dem Menschen die objektive sittliche Weltordnung als eine
göttliche Ordnung beglaubigt, wie umgekehrt die objektive sittliche
Weltordnung das Vorstellungsmaterial zur Gewinnung und Klärung
der subjektiven sittlichen Weltordnung liefert. Die subjektive sittliche
Weltordnung bedarf zu ihrer psychologischen Entfaltung gewisser
Hilfen und Stützen, welche sie eben in dem Stehen des Menschen in
einer objektiven sittlichen Weltordnung findet; die objektive sittliche
Weltordnung bedarf zu ihrer Fortbildung der Hilfe und Unterstützung
von Menschen, die von einer den Thatsachen vorausgeeilten subjektiven
sittlichen Weltordnung begeistert sind. So fördern beide sich wechsel-
seitig und in dieser wechselseitigen Förderung offenbart sich das
immanente Walten der absoluten sittlichen Weltordnung.*)
Die Ahnung der letzteren dämmert zunächst nur im religiösen
Bewusstsein der Menschheit; denn der Zusammenhang der objektiven
socialen Ordnung mit dem subjektiven Gewissen deutet als die ethische
Analogie des identitätsphilosophischen Beweises auf einen einheit-
lichen absoluten Weltgrund und auf die absolute Abhängigkeit der
Aussenwelt und Innenwelt von demselben. Diese tiefere Einheit der
objektiven socialen Weltordnung und des subjektiven Gewissens,
welche die Beglaubigung des einen durch das andere liefert, den
Schlüssel für den Zusammenhang der göttlichen Heiligungsgnade mit
der göttlichen Weltregierung in die Hand giebt, und damit der
autonomen Freiheit des Menschen erst den sichern Boden bereitet,
entwickelt sich nun selbst von einer dunklen Ahnung zu immer deut-
licherer Gestalt; diese Entwickelung bildet praktisch den Hauptinhalt
des providentiellen Entwickelungsganges des religiösen Menschheits-
bewusstseins.
Der Dreitheilung von objektiver, subjektiver und absoluter Welt-
ordnung entsprechend kann man nun drei Beweise aufstellen: den
aus der objektiven sittlichen Weltordnung, den aus dem Gewissen,
und den aus dem Entwickelungsgange des religiösen Menschheits-
bewusstseins. Der erste der drei Beweise postulirt Gott als den der
*) Vgl. „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins", S. 727—731.
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168 B. I. Die Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
objektiven sittlichen Weltordnung immanenten absoluten Zweck, weil
nur unter dieser Bedingung meine Betheiligung an der Erhaltung
und Förderung der objektiven sittlichen Weltordnung eine Förderung
des göttlichen Zwecks ist. Der zweite Beweis postulirt Gott als den
meiner subjektiven sittlichen Weltordnung oder meinem Gewissen
immanenten Heiligungsgeist oder Heiligungsgoade, weil andernfalls
die nach der Kichtschnur meines Gewissens erfolgende sittliche Selbst-
zucht keine Heiligung im religiösen Sinne und meine Autonomie keine
Freiheit in Gott wäre. Der dritte Beweis postulirt Gott als den in
dem Entwickelungsgange des religiösen Menschheitsbewusstseins imma-
nenten OflFenbarungsgeist oder Ofifenbarungsgnade, weil andernfalls der
Entwickelungsgang, auf dessen Gipfel ich stehe, nur Scheinentwickelung
und sein Ergebniss des wahrhaften religiösen Verhältnisses Illusion wäre.
Alle drei Beweise laufen darauf hinaus, dass Gott als Grund der
äusseren und inneren religiös-sittlichen Erscheinungen postulirt wird,
weil andernfalls die Erlösung und Heiligung nicht möglich wäre. Der
erste Beweis hat zur theoretischen Parallele nur den teleologischen
und idealistischen Beweis, und bildet nur einen speciellen Ausschnitt
aus diesen, wie die sittliche Weltordnung einen speciellen Ausschnitt
aus der teleologischen Weltordnung. Der zweite Beweis hat gar keine
theoretische Parallele, wohl aber eine rein ethische; wie nämlich aus
religiösem Gesichtspunkt nur eine gottnienschliche Gewissensfunktion
befreiend und heiligend wirken kann, so kann aus ethischem Gesichts-
punkt nur ein gottmenschliches autonomes Gesetz absolut verbindlich
sein, wie das sittliche Bewusstsein doch das Sittengesetz erheischt.
Der dritte Beweis hat wiederum seine theoretische Parallele in dem
teleologischen und idealistischen Beweis, diesmal in ihren kultur-
geschichtlichen Ausschnitten; ein geistiger Entwickelungsgang, der so
folgerichtig vom Niederen zum Höheren aufsteigt, muss wahrhafte
Entwickelung, kann nicht blosse Illusion sein.*)
Aus diesen drei ethischen Beweisen ergeben sich nun weitere
Bestimmungen für das Wesen Gottes, und zwar aus der objektiven
sittlichen Weltordnung die objektive Gerechtigkeit, aus der subjektiven
sittlichen Weltordnung die subjektive Gerechtigkeit, Heiligkeit und
Gnade, aus der absoluten sittlichen Weltordnung die objektive Heiüg-
*) Vgl. „Das i-oligiöfio Bowusstsoin der Menschheit im Stufengang seiner Ent-
wiükduiig**, Hpoüiüll 8. ÜÜ4— Ü'27.
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3. Gott als das die Freiheit begründende Moment. 169
keit und Gnade, letzteres allerdings nur dann, wenn Gott mit der
absoluten sittlichen Weltordnung selbst identificirt, also nicht als
eine hinter derselben stehende bewusst-geistige Persönlichkeit ange-
sehen wird. Diese Punkte haben wir der Reihe nach zu erörtern.
Die objektive sittliche Weltordnung ist nichts weiter als die zu
objektiven socialen Institutionen verkörperte Idee der Gerechtigkeit;
insofern die objektive sittliche Weltordnung sich selbst behauptet,
behauptet sie die ihr immanente Gerechtigkeit. Die Frage, ob objek-
tive Gerechtigkeit in der Welt herrscht, fällt also mit der andern
zusammen, ob die objektive sittliche Weltordnung so eingerichtet ist,
dass sie sich selbst behauptet, beziehungsweise nach Maassgabe der
sich ändernden Kulturzustände fortbildet. Hierzu gehört, dass die
auf Störung der sittlichen Weltordnung abzielenden Bestrebungen ihr
Ziel nicht oder doch nur vorübergehend erreichen, dass dem Bösen
eine Dialektik innewohnt, kraft deren es sich als Böses selbst auf-
hebt und vernichtet, dass der Wille, welcher das Böse will, sich in
seinen eigenen Netzen verstrickt und endlich wohl gar unwissentlich
dazu dient, das nichtgewollte Gute zu fördern, dass mit anderen
Worten der objektiven sittlichen Weltordnung wie den natürlichen
Organismen eine Art Naturheilkraft innewohnt, kraft deren sie die
ihr zugefügten Schädigungen reparirt und die ihre Entwickelung hin-
dernden Elemente so weit als nöthig ausscheidet.
Dies findet nun in der That statt,*) freilich mit ganz anderen
Mitteln und auf ganz andere Weise, als ein naives sittliches Bewusst-
sein es sich träumen lässt. Die Idee der Gerechtigkeit verlangt nur,
dass das Gute sich in fortschreitendem Maasse verwirkliche und das
Böse in seinen Absichten scheitere, aber sie verlangt nicht, dass der
Gute über das Gelingen seiner auf Beförderung der sittlichen Welt-
ordnung gerichteten Bestrebungen hinaus noch extra belohnt oder
der Böse anders als durch das Scheitern seiner bösen Pläne bestraft
werde; in solchem Missverständniss liegt nicht nur eine kindliche
Uebertragung der plumpen menschhchen Strafgerechtigkeit auf Gott,
sondern auch zugleich, was weit schlimmer ist, ein Rückfall aus der
rein ethischen in die individual-eudämonistische Auffassung des Welt-
processes. Die Menßchen schon strafen, nicht, weil gesündigt wurde,
sondern damit nicht gesündigt werde ; die menschliche Strafe soll als
*) ^gl- „Phänomenologie dos sittlichen Bewusstseins", S. 738—747, 666—668.
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170 B. I. Die Metaphysik des roUgiösen Objekts oder die Theologie.
Abschreckung wirken, d. h. als plumper Ersatz für die den Menschen
nicht wie Gott zu Gebote stehende Macht und List der immanenten
Idee. Dass der Gute in seinem Privatleben gedeihen und für jede
Gutthat einen entsprechenden Zuwachs an persönlicher Glückseligkeit
empfangen solle, dass es hingegen dem Bösen übel gehen und das
Unglück sein Leben verfolgen solle, dass ist eine Auffassung der
Gerechtigkeit, welche ganz in jener eudämonistischen Weltanschauung
befangen ist, die eben durch die religiöse ausgerottet und ersetzt
werden soll. Ob es dem einzelnen Menschen oder Volke wohl oder
übel gehe in Bezug auf seinen Glückseligkeitszustand, damit hat die
objektive Gerechtigkeit gar nichts zu thun, sondern nur, ob die sitt-
liche Weltordnung sich behauptet oder nicht. Ob z. B. der Gute die
Ernte seiner guten Saat erlebt oder vorher darüber stirbt und in
Noth und Elend zu Grunde geht, ob der Böse in Ansehn und Glück
bis an sein natürliches Ende lebt und die Dialektik des von ihm
gestifteten Bösen erst nach seinem Tode zu Tage tritt, das ist fftr
die Gerechtigkeit ganz gleichgiltig ; an solchen Thatsachen einen
Anstoss nehmen kann nur ein noch im Eudämonismus stecken ge-
bliebenes religiöses Bewusstsein. Nicht darin besteht die objektive
Gerechtigkeit, dass der Gute, sondern dass das Gute gedeihe, nicht
darin, dass der Böse, sondern dass das Böse scheitere. Wenn mensch-
liche Ungeduld die Erfüllung dieser Gerechtigkeit oft allzulange aus-
bleibend findet, so ist an das Sprüchwort zu erinnern, dass Gottes
Mühlen langsam mahlen, d. h. dass geschichtliche Processe nicht mit
den allzukurzen Maassstäben gemessen werden dürfen, welche aus dem
menschlichen Einzelleben entnommen sind. Betrachtet man aber die
Geschichte der Völker von einem höheren Gesichtspunkt, dann wird
man überall und immer bestätigt finden, dass die sittliche Weltordnung
trotz aller Kräfte, die an ihrer Zerstörung arbeiten, nicht zurück,
sondern voran schreitet.
Indem der Mensch die subjektive sittUche Weltordnung in seinem
Gewissen vorfindet, und in dem Gewissen die Stimme Gottes erkennt,
führt er die objektive wie die subjektive sittliche Weltordnung, d. h.
die sittliche Weltordnung in ihren beiden Manifestationsweisen auf
Gott als ihren absoluten Grund zurück; indem ihm aber die sub-
jektive sittliche Weltordnung von seinem Gewissen zugleich als
autonomes Gesetz auferlegt wird, das für ihn ebenso unbedingte
Giltigkeit hat, als er solche allgemein für alle anderen Menschen ihm
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3. Gott als dass die Fi'oiheit begiündonde Moment. 171
zuschreiben muss, erkennt er Gott ebenso als absoluten Grund der
allgemeinen und unbedingten Giltigkeit der sittlichen Weltordnung,
d. h. als Norm des menschlichen Willens an. Ohne auf Gott als
den absoluten Grund zurückzugehen, ist es schlechterdings unmöglich,
ein Princip zu linden, welches dem ethischen Gesetz eine ausreichende
Sanktion ertheilte, die es über jeden Zweifel erhaben und über jede
subjektive Willkür hinausgerückt erscheinen Hesse; ohne göttliche
Sanktion ist die Allgemeinheit und imbedingte Verbindlichkeit des
Sittengesetzes eine Illusion.
Diese Sätze, welche für die theoretische Wissenschaft erst aus
einem umständlichen Entwickelungsgange des sittlichen Bewusstseins
resultiren, gelten für das religiöse Bcwusstsein als selbstverständlich,
weil sie unentbehrliche Voraussetzungen des religiösen Bewusstseins
selbst sind. Das ethische Gesetz, das formell als autonomes gewusst
wird, 'muss gerade weil es autonomes Produkt des Individuums ist,
zugleich Produkt Gottes sein; denn ohne dies wäre es eine selbst
auferlegte Bedingung, von der man sich auch selbst wieder entheben
könnte, und welche für niemand weiter verbindlich sein könnte als für
den, welcher sie sich auferlegt hat. Der Akt der autonomen Gesetz-
gebung muss also zugleich ein göttlicher und menschlicher Akt sein;
nur dadurch ist auch die Ueberein Stimmung seines llesultats (der
subjektiven sittlichen Weltordnung) mit der objektiven sittlichen
Weltordnung ausreichend gesichert und zugleich die Garantie geliefert,
dass, wo solche üebereinstimmung noch fehlt, die Abweichung der
subjektiven von der objektiven die Veri)llichtung zum Streben nach
einer gottgewollten Keform der letzteren einschliesst.
Die Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit der sittlichen
Weltordnung als sittlichen Gesetzes fällt dem religiösen Bewusstsein
mit ihrem Gegründetsein in Gott als ihrem einzig möglichen Grunde
zusammen; die in Gott gegründete allgemeine Verbindlichkeit des
sittlichen Gesetzes heisst aber seine Heiligkeit. Gott ist das die
Heiligkeit der sittlichen Weltordnung begründende Moment, er ist
dasjenige, was sie zum allgemeinverbindlichen sittlichen Gesetze
sanktionirt oder heiligt. Heilig heisst derjenige Mensch, welcher
sich dem sittlichen Gesetz als einem von Gott geheiligten gemäss
verhält ; in diesem Sinne kann also Gott nicht heilig genannt werden,
weil er nicht als eine beschränkte Persönlichkeit sein Verhalten zu
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172 B- I- I^iö Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
anderen Personen nach moralischen Gesetzen zu regeln hat.*) Gott
ist als Grund des sittlichen Gesetzes zwar der es Heiligende, aber
nicht der nach seinem Maassstab Heilige ; nur wenn sich herausstellen
sollte, dass Gott nicht sowohl mit seiner persönlichen Willkür hinter
defii Gesetz als dessen Macher steht, sondern mit seinem Willen in
der sittlichen Weltordnung aufgeht, also die sittliche Weltordnung
selbst mit Gott, soweit er die Menschheit angeht, identificirt werden
kann, nur dann kann die Heiligkeit der sittlichen Weltordnung auch
auf den mit ihr identischen Gott übertragen werden.
Das Gewissen bekundet sich nicht bloss darin, dass es sittliche
Gesetze vorschreibt, sondern auch darin, dass es das eigene Verhalten
am Maassstabe dieser Gesetze beurtheilt; es ist ebenso Kichter wie
Gesetzgeber, und sein Gericht ist in demselben Sinne ein Gericht
Gottes über den Menschen, wie das Gesetz ein Gesetz Gottes für den
Menschen. In der richtenden Funktion des Gewissens bekundet sich
nun eine Unbestechlichkeit des Urtheils, eine ünnachsichtigkeit und
Wahrhaftigkeit des Wahrspruchs ohne Ansehn der (dem Richter doch
gewiss nahestehenden) Person, welche als subjektive Gerechtigkeit
bezeichnet werden muss; insoweit das Urtheil echtes und reines
ürtheil des Gewissens ist, und keine fälschenden Zuthaten sich un-
rechtmässiger Weise für ein Urtheil des Gewissens ausgeben, insoweit
entspricht dasselbe der Idee der göttlichen Gerechtigkeit oder ist
als eine den göttlichen Intentionen entsprechende Funktion zu
bezeichnen. Das religiöse Bewusstsein erkennt darum mit Recht
die richtende Stimme des Gewissens als die Stimme Gottes in der
eigenen Brust, und die autonome Gerechtigkeit des Gewissens als
die richtende Gerechtigkeit Gottes vor dem immanenten Forum des
zu Richtenden an. Die göttliche Idee der Gerechtigkeit geht hierbei
in die Formen der menschlichen diskursiven Reflexion ein und übt
an dem Obersatz des sittlichen Gesetzes und dem Untersatz des
menschlichen Verhaltens ein Schlussverfahren aus, welches zu dem
Ergebniss des Urtheils führt; da nur in diesen Formen von einer
richtenden Gerechtigkeit überhaupt die Rede sein kann, so ist diese
*) Der Theismus nimmt dies in der That an, verwickelt sich dadurch aber
in lauter Widersprüche mit sich selbst; dieser theistische Begriff der Heiligkeit
Gottes stammt aus einer Zeit, wo an die Absolutheit Gottes noch nicht gedacht,
und Gott als ein die Gesetze nach seiner Willküi' bestimmender Despot an-
gesehen wui'do.
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3. Gott als das die Freiheit begmndende Moment. 173
subjektive Gerechtigkeit Gott auch nur hinsichtlich des immanenten
Forums des menschlichen Gewissens, wo sie in den Formen bewusster
menschlicher Geistesthätigkeit auftritt, beizulegen, aber jedes trans-
scendente Forum entschieden zu perhorresciren als ebenso überflüssig
für das religiöse Bewusstsein, wie unverträglich mit den vom religiöibn
Bewusstsein sonst postulirten Bestimmungen des götthchen Wesens.
Auch davor ist zu warnen, dass man nicht die natürlichen
psychologischen Folgen der richtenden Thätigkeit des Gewissens, die
Befriedigung des auf sittliche Ziele gerichteten menschlichen Willens
über einen günstigen, die Nichtbefriedigang desselben über einen
ungünstigen Ausfall des Urtheils, mit unter den Begriff der göttlichen
Gerechtigkeit beziehe, da dies ein Rückfall in den zu überwindenden
eudämonistischen Standpunkt wäre; die sogenannte lohnende und
strafende Thätigkeit des Gewissens hat ausser ihrer natürlichen
psychologischen Bedingtheit ihren guten teleologischen Sinn in Bezug
auf die psychologische Befähigung des Menschen zur Erfüllung des
sittlichen Gesetzes, ist aber keinenfalls im Sinne einer vergeltenden
Gerechtigkeit zu verstehen. Wenn das immanente Gericht des Ge-
wissens sich von der Beurtheilung der einzelnen Fälle zu derjenigen
des gesammten Verhaltens des Menschen wendet, so bleibt ohnehin
nichts übrig von dem sogenannten Lohn des Gewissens; denn die
Heiligkeit des Gesetzes erheischt unbedingte Gemässheit des Ver-
haltens, aber die unbestechliche Beurtheilung konstatirt die empirische
Unzulänglichkeit des Verhaltens, und setzt dadurch eine Nichtbefriedi-
gung des sittlichen Willens, welche zugleich als Störung des religiösen
Verhältnisses schmerzlich empfunden wird. Läge der Fortbestand
dieses Schmerzes im Sinne der sittlichen Weltordnung, wie eine miss-
verständliche Auffassung der Gerechtigkeit es annimmt, so wäre die
Erlösung von demselben nur durch eine Verletzung der Gerechtigkeit
möglich, und die Erlösungsgnade erschiene dann als eine Aufhebung
und Durchbrechung der ewigen Gerechtigkeit in jedem besonderen
Falle. Für eine einheitliche Auffassung, welcher Gerechtigkeit und
Gnade nur als verschiedene mit einander übereinstimmende Seiten der
teleologischen Weltordnung gelten, ist solcher Konflikt zwischen
Gerechtigkeit und Gnade in Gott, bei dem die Gerechtigkeit zu kurz
kommt, völlig undenkbar; für eine solche Auffassung kann der
Schmerz über das durch die Schuld gestörte religiöse Verhältniss
eben nicht als Forderung der Gerechtigkeit, sondern als teleologisch
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174 B- I- I^iö Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
werthvolle naturgesetzmässige Folge der gegebenen Umstände er-
scheinen, während den Forderungen der Gerechtigkeit mit der nn-
bestechlichen ürtheilsfällung vor dem immanenten Forum Genüge
gethan ist. Der ßückschluss aus der Unmöglichkeit eines Konfliktes
ziÄschen Gnade und Gerechtigkeit in Gott ergiebt also dasselbe
Resultat wie die direkte Betrachtung der Frage, und darum dienen
beide einander zur Bestätigung.
Es liegt nicht bloss im göttlichen Weltplan, dass die sittliche
Weltordnung vom Menschen als heiliges Gesetz angeschaut und die
Abweichungen des Verhaltens von demselben unnachsichtig verurtheilt
werden, sondern ebenso sehr, dass der Mensch die konstatirte Un-
zulänglichkeit seines sittlichen Verhaltens überwinde und diejenige
sittliche Gesinnung gewinne, welche ihn auch im Handeln dem sitt-
lichen Ideal immer näher kommen lässt. Wenn in dem heischenden
Gesetzes-Charakter der subjektiven sittlichen Weltordnung Gott dem
Menschen als die Heiligkeit gegenübertritt, in der richtenden Stinmie
des Gewissens als die Gerechtigkeit sich manifestirt, so zeigt er sich
ihm nunmehr von einer dritten Seite als die Gnade, welche einerseits
das gestörte religiöse Verhältniss wieder herstellt und andrerseits in
dem restituirten religiösen Verhältniss sich als die Kraft zum Guten,
als die Energie der sittlichen Gesinnung sich erweist, also zugleich
Erlösungs- und Heiligungsgnade ist. Als der Heiligende war Gott
der absolute Grund der sittlichen Weltordnung und ihrer autonomen
Erhebung zum sittliclien Gesetz; als der Gerechte war er der un-
bestechliche innere Richter, der die Unzulänglichkeit des menschlichen
Verhaltens am Maassstabe des Gesetzes konstatirt; als der Gnädige
ist er nunmehr der Eetter und Helfer, der über den Schmerz
dieser konstatirten Unzulänglichkeit hinaushebt durch seine heiligende
Kraft zur Verwirklichung des Guten.
So wenig bei der Heiligkeit Gottes an eine heilige, d. h. aus re-
ligiösem Gesichtspunkt tugendhafte Persönlichkeit, so wenig bei der
subjektiven Gerechtigkeit Gottes an ein diskursives Abwägen, Sub-
sumiren und Schliessen zu denken ist, so wenig bei der Gnade Gottes
an einen aus Gefühlsrücksichten die unzulängliche Gerechtigkeit kor-
rigirenden persönüchen Willen. Die Barmherzigkeit, Liebe und Lang-
muth, welche eine anthropopathische Gottesvorstelluug in der Guade
Gottes unterscheidet, sind darum unstatthafte Uebertragungen, wenn-
gleich anzuerkennen ist, dass diese Analogien aus dem menschliclieu
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3. Gott als das die Freiheit begründende Moment. I75
Gefühlsleben bestimmten Seiten der göttlichen Gnade korrespondiren.
Die Barmherzigkeit entspricht dem Umstand, dass ein Verharren des
Menschen im Schmerze des mit Gott zerfallenen Bewusstseins nicht
im teleologischen Weltplan liegt, sondern statt dessen vielmehr die
Erlösung und Wiederherstellung des religiösen Verhältnisses; die
Liebe entspricht dem Umstand, dass Gott sich den Menschen ein-
senkt, mit seinem Wesen in ihnen wohnt, und von seiner Wirklichkeit
und Kraft ihnen mittheilt, kurz zur realen Einheit im religiösen Ver-
hältniss sich aufschliesst ; die Langmuth endlich entspricht dem
Umstand, dass der Process der Erlösung und Heiligung im Menschen-
leben nicht ein einmaliges, sondern ein stetig fortlaufender, also auch
in keinem Moment seine Fortdauer überflüssig machender ist.
Der dritte der ethischen Beweise, der aus dem Entwickelungs-
gange des* religiösen Menschheitsbewusstseins, zeigt, dass die Gnade
ebenso wie die Gerechtigkeit und Heiligkeit eine über die Sphäre der
blossen Subjektivität hinübergreifende Bedeutung hat. Die Summe
der subjektiven religiösen Processe in allen Menschen ist nämlich
selbst wieder eine objektive Thatsache, welche der Geschichte der
Menschheit angehört und welche, weit entfernt, ein zusammenhangs-
loses Aggregat atomistischer Einzelbewusstseine darzustellen, vielmehr
in einem inneren organischen Zusammenhang steht. Die Gnade in
jedem einzelnen Individuum begünstigt und erleichtert nämlich den
Durchbruch der Gnade in den mit ihm in Berührung kommenden
Idividuen und auf diesem Wege der gegenseitigen Anregung wird der
Inhalt des religiösen Gesammtbewusstseins stetig vertieft und er-
weitert, so dass man von einem wirklichen Fortschritt der Verwirk-
lichung der Gnade in der Menschheit, sowohl in Bezug auf Offenbarung,
wie auf Erlösung und Heiligung sprechen darf. Vom subjektiven
Gesichtspunkt erscheint alle Gnade an früher lebenden oder anderen
Menschen als vorbereitende Gnade für den individuellen religiösen
Process; aus objektivem Gesichtspunkt hingegen ist jeder individuelle
religiöse Process nur organisches Glied in dem Process der Verwirk-
lichung der Gnade. Wenn wir mit der Betrachtung der objektiven
sittlichen Weltordnung bei den thatsäch liehen Einrichtungen der
realen objektiven Welt begannen, um von da mit der Betrachtung
der subjektiven sittlichen Weltordnung in die Subjektivität des in-
dividuellen religiösen Lebensprocesses hineinzutauchen, so kehren wir
nunmehr mit der Betrachtung des Entwickelungsganges des religiösen
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176 ß- I- I^iö Metaphysik des religiösen Objekts oder die Theologie.
Menschheitsbewusstseins zu einer höheren Objektivität zurück, welche
die Summe aller Subjektivitäten als ihren Inhalt in sich aufgenommen
hat. Wenn vom Standpunkt der ursprünglichen Objektivität die
teleologische Weltordnung unter dem Gesichtspunkte der Gerechtig-
keit erschien, wenn dann vom Standpunkt der subjektiven Religiosität
der Gesichtspunkt der Heiligkeit als charakteristische Vertiefung für
die teleologische Weltordnung hinzutrat, so tritt nunmehr für den
Standpunkt einer die Summe der Subjektivitäten in sich einsehliessen-
den Objektivität der Gesichtspunkt der Gnade in den Vordergrund;
die teleologische Weltordnung erscheint nun nicht bloss mehr als die
gerechte und heilige, sondern als der Vermrklichungsprocess der
göttlichen Gnade in der Geschichte der Menschheit, d. h. die sittliche
Weltordnung wird zur religiösen Heilsordnung. Im Begriff der Heils-
ordnuDg werden subjektive und objektive sittliche Weltordnung in Eins
gefasst und beide als Manifestationsweisen der absoluten sittlichen
Weltordnung erkannt, die ihnen beiden als die sich geschichtlich
verwirklichende Gnade immanent ist ; so führt der dritte der ethischen
Beweise gleichzeitig zum Verständniss von der Objektivität der Gnade
und von dem Zusammengehen der subjektiven und objektiven sitt-
lichen Weltordnung in die absolute.
Die absolute sittliche Weltordnung ist nichts als der die Mensch-
heit betreffende Ausschnitt der teleologischen Weltordnung, diese aber
— als die die natürliche Weltordnung mit umspannende absolut
logische Entfaltung der absoluten Idee — die Explikation des gött-
lichen Wesens selber in seiner der Welt zugekehrten Seite. In der
sittlichen Weltordnung vereinigen sich Idee und Wille, Allweisheit
und Allmacht, um den ganzen Inhalt des göttlichen Wesens zur
Entfaltung zu bringen; in der absoluten sittlichen Weltordnung er-
schöpft sich die Wirksamkeit Gottes, soweit sie sich auf die Mensch-
heit bezieht, und darum erschöpft sich in ihr der Gott, mit dem die
Menschheit als solche zu thun hat und im religiösen Verhältniss in
Beziehung tritt. Wie die teleologische Weltordnung der der Welt
immanente Gott ist, so ist die sittliche Weltordnung der der Mensch-
heit immanente Gott; was Gott sonst noch sein mag als dies, geht
die Menschheit in praktisch-religiöser Hinsicht nichts an. Darum
kann für das religiöse Bewusstsein die absolute sittliche Weltordnung
für Gott selbst stehen; beide fallen zusammen, soweit es Gott als
Gott, d. h. als Objekt des religiösen Verhältnisses betrifft. Darum
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3. Gott als das die Freiheit begründende Moment. 177
und nur darum ist das religiöse Bewnsstsein im Rechte, wenn es
Gott selbst die Attribute der Heiligkeit, Gerechtigkeit und Gnade
zuschreibt; denn wäre Gott von der sittlichen Weltordnung ver-
schieden — etwa eine hinter derselben stehende bewusst-geistige
Persönlichkeit, welche ohne die innere Nothwendigkeit seines Wesens
aus freier Willkür dieselbe setzt — dann wäre er nur der selbst
hmter und jenseits aller Heiligkeit, Gerechtigkeit und Gnade stehende
Grund derselben.
Als objektive Gerechtigkeit ist Gott nichts anderes als die All-
macht der absoluten Vernunft, oder die Kraft der absoluten Idee zu
ihrer Selbstverwirklichung; als objektive Heiligkeit ist er nichts anderes
als die absolute Vemünftigkeit des von der Allmacht realisirten Welt-
zustandes und des dem Weltprocess immanenten Entwickelungsgesetzes;
als objektive Gnade endlich ist er nichts anderes als die Eigenschaft
der sittlichen Weltordnung, zugleich religiöse Heilsordnung zu sein.
Man könnte kurz sagen: die göttliche Gerechtigkeit ist die Macht
seiner Weisheit und die göttliche Heiligkeit ist die Weisheit seiner
Macht ; diese beiden Bestimmungen drücken also nur die untrennbare
Zusammengehörigkeit des absoluten Willens und der absoluten Idee
in der sittlichen Weltordnung aus. Die subjektive Gerechtigkeit
Gottes hingegen ist die in dem Process der religiösen Selbstbeurthei-
lung des Menschen sich durchsetzende absolute Vernünftigkeit, die in
der rücksichtslosen Wahrhaftigkeit ihre erste Bedingung hat; die
subjektive Heiligkeit Gottes ist dieselbe absolute Vemünftigkeit,
insofern sie sich in der Erhebung der sittlichen Weltordnung zum
autonomen Gesetz bethätigt; die subjektive Gnade endlich ist die im
menschlichen Glauben zum praktisch-religiösen Bewusstsein ihrer
selbst kommende absolute Idee, die aus dem Verhalten ihrer selbst
als Bewusstseins zu sich als absoluter Idee diejenige Erhebung über
den natürlichen beschränkten Inhalt ihrer als individueller Partialidee
findet, welche zugleich Erlösung und Heiligung wird.
Während die objektive Gerechtigkeit, Heiligkeit und Gnade das
Wesen Gottes charakterisiren, wie es an und für sich in der sittlichen
Weltordnung sich entfaltet, bezeichnen die subjektive Gerechtigkeit,
Heiligkeit und Gnade das Wesen Gottes, wie es sich im Bewusstsein
des Menschen entfaltet; die ersteren betreffen den der Welt imma-
nenten Gott, die letzteren den dem Menschen immanenten Gott.
Dabei greifen aber beide nothwendig in einander ein; denn die
y. Hartmann, Die Religion des Geistes. 12
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178 B. t Die Metaphysik de» religiösen Objekts oder die Theologie.
teleologische Weltordnung hätte ebensowenig wie die natütlidbe Welt-
ordnung einen Sinn ohne das Ziel des bewussten Geistes, wie wir
ihn nur in der Menschheit kennea» und die Bethätignng öottd^
als Gesetzgeber, Bichter und Helfer im menschliehen Geist hatte
wiederum keinen Sinn, \^enn der Mensch nicht in der Welt,- und
damit in der objektiven sittlichen Weltordnung mitten drin stände.
Bestimmungen, die auf ethische Verhältnisse Bezug haben, können
Gott auch in Bezug auf die objektive Welt nur danmi beigelegt
werden, weil die objektive Welt auf HJervorbringung subjektiver ethischer
Beziehungen von vom herein angelegt ist ; in Bezug auf das subjektive
religiöse Yerhältniss können ihm soldie Bestimmungen - doch wied^
nur darum beigelegt werden, weil der Mensch ethische Besiehungen
zur übrigen Welt hat. Heiligkeit, Gerechtigkeit und Gnade sind'danuD
nicht weniger Bestimmungen des göttlichen Wesens, weil sie erst bei
der Bethätigung desselben im menschlichen Geist oder in der Mensehen*
weit zu Tage treten ; denn schliesslich konmien aUe WesensbesMmmiingien
erst im Yerhältniss Gottes zur Welt an's Licht, d. hr ^e maaifestiren
sich an Gott nur, sofern er immanent (sei es der Ausseuwelt, sei es
dem menschlichen Bewusstsein) , nicht sofern er transcendent ist
Wären aber solche Bestimmungen nicht Wesensbestimmungen Gottes,
so könnten sie auch nicht bei seiner inunanenten Bethätigung zu
Tage treten; das religiöse Bewusstsein hat also ganz Bacht, wenn es
die aus dem Immanenzverhältniss erfahrenen Bestimmungen auf das
Wesen Gottes ohne Rücksicht auf den Unterschied von Transoendenz
und Immanenz überträgt.
Das religiöse Bewusstsein entnimmt aus der Erfahrung des reli-
giösen Verhältnisses, nach welcher Gott das die Freiheit begründende
Moment ist, dass Heiligkeit, Gerechtigkeit und Gnade Bestimmungen
des ihm immanenten Gottes sind, und findet bei Betrachtung der
Welt, dass Heiligkeit, Gerechtigkeit und Gnade Bestimmungen des
der Welt immanenten Gottes sind, insofern Gott und die absdute
sittliche Weltordnung religiöse Wechselbegriffe darstellen können. Nichts
giebt dem religiösen Bewusstsein in seiner Erfahrung Anlass* die
absolute sittliche Weltordnung von Gott noch zu unterscheiden, wofern
nur die absolute sittliche Weltordnung von der objektiven und sub-
jektiven sittlichen Weltordnung unterschieden wird, als von ihren
Produkten, denen sie immanent ist. Eine Vereinerleiung der absoluten
sittlichen Weltordnung mit der objektiven würde Gott mit der be-
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ä. Gott als das die f^iheit begründende Moment 179
stehtoden Wtit identificiieiiv eme Yereinerleiung der absoluten mit
ieat subjektiTen wtlrde ihn mit dem Menschen und seinem sittlichen
Bcninldstsein ideiitificiren; im ersteren Falle wäre die Welt, im letzteren
det Hensch' zum' Gott erhoben, oder Gott würde gar zu einem Produkt
des Weltprocesses, beziehungsweise des Bewusstseinsprocesses herab-
gesetzt.
' Vor beiden Abwegen, die das religiöse Verhältnisg zerstören, bleibt
eine AulTassimg völlig geschützt, welche in der objektiven und sub-^
jddiiven' sittlichen Weltordnung nur die der Aussenwelt und Innenwelt
entsprechende Manifestationsweisen der absoluten Weltordnung, und
in der absoluten Weltordnung die vom Willen realisirte logisch-ideale
Bntfaltmig des göttlichen Wesens erkennt; eine solche Auffassung
entspricht vollständig den Erfahrungen und Postalaten des religiösen
Beiwiisstseins, ohne dasselbe in derartige unlösbare Widersprüche zu
verwiekebi, wie die theistische Annahme eines bewusst-geistigen per-
sönäehen Gottes es thut, der mit iseiner freien Willensentscheidung
und seinen^ mensohenähnlidhen Gemüthseigenschaften hinter der sitt-
Heben Weltordnung stehen soll. Diese theistische Annahme entspricht
keineswegs den Erfahrungen des religiösen Bewusstseins, sondern deutißt
dieiseiben naeli Maassgabe des mitgebrachten dogmatischen Yorurtheils
um, tind ! hat deshalb kein Becht, sich auf die wirklichen und un-
befangen atifgefassten Erfahrungen des religiösen BeWu£(stseins zu seinen
Gilnsten su berufen, wenn sie ihre Unfähigkeit eingestehen muss, die
ans -dem mitgebrachten dogmatischen Yorurtheil entspringenden Wider-
sprüche zu überwinden.*) Als reiner absoluter Geist ist Gott bereits
durch die vorbeigehenden sechs Beweise erwiesen, und schon durch
£e^ wird jeder iRüekfoll in die niedere Yorstellungsweise einer un-
geistigen blkiden Naturmacht ausgeschlossen, als bewusst- geistige
P^söniichkeit aber wird Gott ebensowenig durch die drei letzten
etiiischen Beweise erwiesen, wie durch die vorhergehenden ; im Gegen^
thäl zeigt sieh hier wie dort, dass dies von aussen hineingetragene
dogmatische Vorurtheil eines persönlichen Gottes in unlösliche Wider-
Sprüche verwickelt, also lediglich das religiöse Bewusstsein schädigt,
ohne ihm irgend welche Förderung zuzufahren.
*) Biedennann's Dogmatik, § 629—630; Lipsius' Dogmatik, § 314—354.
12*
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II. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
1. Die religiöse Anthropologie.
a) Der Menscli als erlösungßbedürftiger.
Der Mensch findet sich vor als einen, der seiner natürlichen
Beschaffenheit nach das Glück sacht und doch seinef natürlichen
Beschaffenheit nach es nicht finden kann. Der Wille igt ein Be^
Medigang heischender, und das Bewusstsein kennt den Willen zvaamhst
nur in seiner individuellen Beschräii^ng als Eigenwillen, der ^ seine
individuelle Befriedigung sucht. Dass er sie nicht findet, liegt tibeils an
der Beschaffenheit der Aussenwelt, welche seine eigenwilligen Strebungen
durchkreuzt und Öfter hemmt als fördert, theils an der Beschaffenheit
seiner organisch-psychischen Individualität. In der Verwirkliohmig
seiner Ziele ist der beschränkte Individualwille auf die Vermittelung
seines Organismus angewiesen und darum von den beschränkten Kräften
eingeengt, welche diesem zu Gebote stehen ; wo et seinem Ziele nahe
zu sein glaubt, versagt ihm plötzlich die Kraft, weil eine Krankheit
sie lähmt, oder das Alter sie erschöpft, und allem Streben nach indi-
viduellem Glück macht schliesslich der Tod einen Strich durch die
Rechnung, der wie der grausigste Hohn auf den Glauben an einefn
individual-eudämonistischen Lebenszweck des Menschen erschaut. Aber
selbst da, wo sich die günstigsten äusseren und inneren Umstände
vereinigen, um dem Menschen zur Befriedigung seines Eigenwülens
zu verhelfen, da erfährt er erst recht, dass das Glück um so weiter
vor ihm flieht, je näher er daran scheint, es zu erjagen; denn es
liegt nicht in der Natur des Willens, sich bei irgend einem erreichten
Ziele zu beruhigen, — was ihm eben noch das Ersehnteste war,
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1. Die religiöse Anthropologie. lg]
erscheint relativ werthlos beim Besitz, und neue Ziele reizen den
Willen zu neuem Bingen. Wäre der Zweck des menschlichen Lebens
die Glückseligkeit, so wäre es trotz aller sinnlichen, gemütUichen und
geistigen Freuden, die es bietet, nicht werth gelebt zu werden, und
auch für den Bestsituirten bloss eine ungeheure Prellerei.
Dieser Satz, der für die theoretische Weltansicbt das Ergebniss
umständlicher Induktionsreihen ist, stellt sich für das religiöse Be-
wusstsein ebenso wie für das sittliche als selbstverständliches Postulat
dar. Wenn das Leben bei geschickter Handhabung überwiegende Lust
lieferte, wenn es also eine Lust wäre zu leben, so erschiene es dem
natürlieben Menschen als haare Grillenfftngerei, nach Sittlichkeit, statt
nach Genuss, nach Tugend, statt nach Glückseligkeit zu streben, und
wenn die Weltweisen und die Priester noch so viel demonstrirten
und predigten, dass man sittlich und religiös sein solle und müsse,
so würden sie von den praktischen Menschen einfech ausgelacht
werden, d. h. die metaphysischen Deduktionen über die Nothwendig-
keit eines sittlichen und religiösen Verhaltens würden zwar nicht
minder wahr, aber bei dem Mangel praktischer Motive dem natürUchen
Eg<Msmus gegenüber völlig unwirksam bleiben. Das Lustgefühl des
Lebens vmrde ein Schuldgefühl über den Mangel an wahrer Sittlich-
keit giar nicht aufkommen lassen, die Forderung der Religiosität
müsste sich dann also jedenfalls auf etwas anderes richten als auf die
Willigkeit und Bereitschaft zur Erlösung und Heiligung; denn die
Ermahnung zur Erlösung hätte keinen Sinn mehr, wo dem Gefühl der
Druck des Uebels und der Schuld fehlt. Wird die Erlösung und
Heiligung als gegenstandslos und werthlos abgelehnt, so bleibt vom
religiösen Verhältniss nur die Offenbarung übrig ; diese aber in ihrer
Einseitigkeit könnte nicht mehr Religion, sondern höchstens noch
Metaphysik sein, und zwar eine Metaphysik, die jedes praktischen
Einflusses beraubt ist. Somit würde mit Aufhebung des überwiegenden
Leides im Menschenleben die unerlässliche Voraussetzung des reli-
giösen Verhältnisses, die Erlösungsbedürftigkeit, wegfallen; deshalb
muss dieses überwiegende Leid des Menschenlebens vom religiösen
BewQsstsein als unbedingtes Postulat aufrecht erhalten werden.
Jeder Versuch, diese pessimistische Wahrheit zu leugnen, rüttelt
an dem praktischen Grundpfeiler der Religion, und es ist dabei wohl
zu beachten, dass es ganz gleichgültig ist, welche Art von Umständen
man annimmt, unter denen das Leben einen Lustüberschuss ergeben
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1Q2 ^* n. Die MetapliyBik des religiösen Subjekts.
könne, — der Erfolg bleibt immer derselbe destruktive für die Religion.
Wenn z. B. behauptet wird, dass zwar das natürliche Leben ••'übet-
mögende Unlust, das sittliche aber überwiegende Lust iia6h sich sai&be,
so brauchte man nur sittlich zu leben, um die Religion mit ^em
Schlage überflüssig zu machen; diese Vorstellung hebt schon dadüfeh
sich selbst auf, dass das überwiegende Leid des Lebens ebensowohl
ein Postulat des sittlichen wie des religiösen Bewusstseins ist,* aföo
keine Sittlichkeit mehr möglich wäre, wenn die Sittlichkeit das 'Leben
glückselig machte. Wenn aber weiter behauptet wird, dass man eben
nur deshalb die Religion nicht entbehren könne, weü man ohne sie
nicht sittlich und darum auch nicht glücklich leben köime, dasä man
aber nur religiös zu leben brauche, um auch glückselig zu le^n, so
hebt diese Voraussetzung ebenfalls die Möglichkeit der Religion auf;
denn das religiöse Leben besteht eben in dem stetigen Brlöstwerden,
was ein fortdauerndes Uebel, von welchem man stetig erlöst wiiW,
voraussetzt. Wäre die Wirkung der Religion eine derartige, dass
nun ein glückseliges Leben an Stelle eines leidvollen träte, so höbe
damit die Religion ihre eigene Möglichkeit auf; d. h. sie schüfe' einen
Zustand, in dem sie fortan überflüssig und gegenstandslos wäre, oder
sie gliche der Leiter zum Himmel, die man Leiter sein lässt^ weikn
man mit ihrer Hilfe den Himmel erstiegen hat. Auch wenn man
annehmen wollte, dass man auch dann noch die Religion für •■ «die
geleisteten Dienste in dankbarem Andenken behalten könne, und dieses
Andenken als Surrogat der überwundenen Wirklichkeit der Religion
genüge, so würde doch durch eine solche Perspektive die Religion
schon für die Zeit ihres wirklichen Bestehens vergiftet; sie würde 'ümn
Werkzeug des Eudämonismus erniedrigt, anstatt denselben durch
Selbstverleugnung und Hingebung an Gottes Zwecke zu tiberwinden.
Hieraus folgt, dass ein eudämonologischer Optimismus, der zwar dos
bloss natürliche und geistige Leben, so weit es weder sittlich noch
reUgiös ist, als überwiegend leidvoll preisgiebt, aber das Leben, sofom
es zugleich sittlich und religiös oder eines von beiden ist^ als über-
wiegend freudvoll hinstellt, von dem religiösen Bewusstsein ebenso
unbedingt ausgeschlossen ist, wie der triviale Optimismus des natür-
lichen Lebens; der Pessimismus im weitesten Umfang ist unerlässliches
Postulat des religiösen Bewusstseins ebenso wie des sittlichen."")
*) Vgl. „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins", S. 849—863.
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1. Die religiöse Anthropologie. 183
Soll die. BeligioB möglich bleiben, so darf es keine andere Art
der: Befreiung von dem üebel geben, als die religiöse Erlösung; es
wftre dies aber der Fall, wenn sich durch wissenschaftliche Forschung
herausstellen sollte, dass diese Uebel ebenso wie die menschliche
Individualität, welche dieselben erleidet, blosse Illusion, oder nichtiger
Schein wären. Sliese Einsicht würde genügen, um sich mit seinem
theoretischen Selbstbewusstsein über den gesammten Inhalt des Lebens
KU erheben^ und würde eine weitere Erlösung überflüssig machen ; sie
würde aber zugleioh gegen den Inhalt dieses Scheines und seine
Wandelungen völlig gleichgültig machen, d. h. zu einem absoluten
Indifferentismus fuhren, welcher den Begriff der Schuld ebenso wie
den des Uebels zu einer Illusion verflüchtigt. Es ist klar, dass ein
solcher Standpunkt nur unter zwei Bedingungen eine Religion als
möglich erscheinen lässt : erstens, wenn die Eonsequenz der Aufhebung
des Schuldbegriffes verhüllt wird, und zweitens, wenn es an einer
weltlichen Wissenschaft gänzlich fehlt, so dass die Einsicht in die
Illusion des Uebels selbst für eine religiöse Einsicht und damit für
ein Surrogat der religiösen Erlösung ausgegeben werden kann. Diese
Umstände treffen in Indien zusammen;*) bei der Verpflanzung des
Buddbismus in ein Volk von wissenschaftlicher Bildung muss aber
entweder die Konsequenz der Verflüchtigung des Schuldbegriffes
hervortreten oder der absolute Illusionismus — und damit die schein-
bare Erlösung vom Uebel durch die Verflüchtigung desselben zum
Sehein — aufgegeben werden. Die Realität des Leides, und damit
die Realität des Menschen und der auf ihn einwirkenden Dinge und
Individuen, ist unerlässliches Postulat des religiösen Bewusstseins,
ohne welches das letztere nur unter Selbstwidersprüchen versuchen
kann, sich zu behaupten. Hiermit ist nicht nur der absolute lUusronis-
mus, sondern auch der abstrakte Monismus ausgeschlossen, welcher
die Menschen und die Dinge zum blossen Schein verflüchtigt, um
alles Sein auf das Eine Seiende zu koncentriren.
Der Mensch ist erlösungsbedürftig nicht bloss in Bezug auf das
Uebel, sondern mindestens ebensosehr in Bezug auf die Schuld. Keiner
weiss sich rein von Schuld, —• das ist eine unanfechtbare Thatsache
des sittlichen wie des religiösen Bewusstseins. In dem Begriff der
*) Vgl- »l^a-s religiöso Bewusstsoin dor Mensclihoit im Stufongango seiner Ent-
wickelung", B. I. 2: „Der absolute Illusionismus im Buddhismus", spociell Seite
318—320, 322—336, 342—351, 359-361.
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184 B- II- I^io Metaphysik dos religiösen Subjekts.
Schuld liegen zwei Begriffe enthalten, der des Bösen und der der
Verantwortlichkeit für dasselbe. Soll das Schuld,bewu8stsein keine
Illusion sein, so muss sowohl das Böse als die Verantw^rtüchfceit
möglich sein; die Möglichkeit dieser beiden ist also Postulat des reli-
giösen Bewusstseins, und wir werden die metaphysischen Bedingungen
zu betrachten haben, unter welchen das Böse und die Verantwortlich-
keit möglich sind.
Böse ist jede der sittlichen Weltordnung oder den objektiven
Zwecken, oder, was dasselbe ist, dem göttlichen Willen, zuwider-
laufende Gesinnung oder Handlung. Hier entsteht nun sofort die
Frage, wie ohne Beeinträchtigung der Absolutheit Gottes eine seinem
Willen oder seiner Weltordnung zuwiderlaufende Aktion eines. Indi-
viduums möglich sei. Der abstrakte Monismus hält die Absolutheit
Gottes fest, und macht dadurch die Vorstellung des Bösen im Men-
schen zu einem blossen Schein (so noch Spinoza); der Theismus
giebt entweder dem Individuum die Möglichkeit, dem Willen Gottes
zuwider zu handeln, stellt den Menschen und Gott als selhstständige
Akteure einander gegenüber, und hebt dadurch nicht nur die Absolut-
heit des göttlichen Willens, sondern sogar die seines Seins auf, — oder
aber er hält die Absolutheit Gottes fest und macht die Menschen zu
realen Marionetten mit bloss scheinbarem Eigenwillen. Der abstrakte
Monismus kommt mit der letzteren (muhammedanisohen) Art des
Theismus darin übereiu, . das (gleichviel ob illusorische oder reale)
Handeln des Menschen einer über ihm schwebenden Nothwendigkeit
zu unterwerfen; die erstere (aristotelisah-jüdisch-christliahe) Art des
Theismus giöbt dem Menschen eine von seiner angeborenen oj^ganisch-
psychischen Individualität unabhängige Freiheit der Wlllensbestimmung,
die im letzten Grunde weder von innen noch von aussen deternainirt
ist, macht es damit aber auch Gott unmöglich, den Ausfall der
menschlichen Willensentscheidung vorher zu wissen und anders als
in seinen Folgen zu bekämpfen. Der Fatalismus vernichtet die Mög-
lichkeit des Bösen, indem der Mensch in seinem Handeln nur die
Vorherbestimmung eines ihm äusserlichen Fatums vollzieht, gegen
welches jeder Versuch einer Auflehnung vergeblich ist; der Indeter-
minismus vernichtet die Allwissenheit und AUmacht Gottes zu Gunsten
des Geschöpfes, gleichviel ob Gott sich selbst seiner Absolutheit ent-
äussert hat (wie im Christenthum), oder ob er sie niemals besessen
hat (wie im Aristotelismus). Der christliche Begriff der «Zulassung»
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1. Die religiöse Anthropologie. 185
des Bösen durch Gott besagt nichts anderes als dies, dass die freie
Willensbestimmung des Individuums zwar die Absolutheit des gött-
hoben Willens und Wissens beschränke, aber mit Gottes EinwilUgung
beschränke, d. h. dass Gott selbst sich freiwillig seiner Absolutheit
gerade insoweit entäussert habe, als er seinen Geschöpfen indeter-
ministische Freiheit verliehen.
Soll nun das Böse ohne Einschränkung der Absolntheit Gottes
möglich sein, so muss erstens das Individuum kein blosser Schein
sein (wie im abstrakten Monismus), sondern eine BeaUtät, so darf
zweitens die Bestimmung der Handlungen des Individuums nicht von
aussen her erfolgen (wie im fatalistischen Theismus), so darf drittens
das Individuum mit seinen Willensentschliessungen nicht ausserhalb
des Bereiches des absoluten Gotteswillens (wie im indeterministischen
Theismus), sondern muss innerhalb desselben liegen. Diese Bedingungen
zeichnen schon die Lösung vor: das Individuum, das weder von aussen
determinirt noch indeterminirt sein darf, muss in seinen Handlungen
und Willensentschliessungen sich selbst determiniren, so zwar, dass
diese Selbstdetermination innerhalb des Bereiches des göttlichen Wissens
und Willens fällt ; damit dies aber möglich ist, muss derjenige Wesens-
kern des Individuums, aus welchem heraus dasselbe sich determinirt,
nicht ausserhalb, sondern innerhalb des göttlichen Wesens liegen, ohne
darum seine individuelle Realität einzubüssen. Der erste Satz besagt,
dass die rechte Mitte zwischen Fatalismus und Indeterminismus ein
psychologischer Determinismus ist, — der zweite, dass die rechte
Mitte zwischen abstrakten Monismus und Theismus der konkrete
Monismus ist, welcher ebenso sehr die Einheit alles Seienden in Gott
wie die Eealität der vielen Seienden gegen einander zu ihrem Rechte
kommen lässt. Wie das Wollen und Wissen des Individuums reale
Partialfiinktionen des absoluten Wollens und Wissens sein müssen,
um wahrhaft innerhalb der Sphäre desselben zu liegen, so müssen
auch die konstanten Gruppen von Funktionen, welche die Realität
des Individuums konstituiren, in der absoluten Aktualität des gött-
lichen Wesens, und nicht in sich selber ihre Subsistenz haben, um
nicht ein Sein ausserhalb des göttlichen Seins zu repräsentiren, um
vielmehr mit jeder ihrer einzelnen Aktionen Momente der absoluten
Idee und des absoluten Willens sein zu können.
Mit diesen metaphysischen Voraussetzungen allein erklärt sich
die Möglichkeit, dass ein individuelles Wollen zugleich wahrhaft indi-
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186 B. U. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
yiduelles und doch zugleich ein Moment im absoluten WolleOi also
Selbstbethfttigung eines realen Individuums und dodbi keine formelle
Beschränkung der Absolutheit des göttlichen Wissens und Woll^ns
sei; nur von diesen Voraussetzungen aus ist der noch verUeibendie
Best der Schwierigkeit lösbar, wie eine individuelle. Willensbethatigung,
welche zugleich ein Moment des absoluten Willens bildei, doch den
Zwecken dieses absoluten Willens zuwiderlaufen, mit.an<)eren Worten:
wie der Individualwille ohne eine Gott gegenüber geltend zu machende
Freiheit böse sein kOnne.
Im Fatalismus ist eigentlich alles was geschieht gut,, weil alles
formell und inhaltlich unmittelbar dem Inhalt des gOttlichea Willens
entspricht, so dass die Möglichkeit eines Zuwiderhandeln« geg^n Gottes
Absichten wegfällt; im Indeterminismus ist das Bdse formell wie
inhaltlich ein den Absichten Gottes in jeder Hinsicht schloGhthin
zuwiderlaufender Missbrauch der individuellen Freiheit, der nur darum
sich ereignen konnte, weil Gott sich seiner Absolntheit so weit ent-
äussert hatte, dass etwas in jeder Hinsicht ihm Widerstrebendes mög-
lich wurde. Soll nun das Böse möglich sein, ohne schlechthin dem
Willen Gottes zuwider zu laufen, so muss es nur in gewisser Hinsicht
dem Inhalt des göttlichen Willens, d. h. der sittlichen Weltordnung
widerstreben, in anderer Hinsicht aber ihr g^nä£is sein; mit anderen
Worten: Gott muss einerseits das, was als böse zu bezeichnen . ist,
nicht bloss zulassen, sondern positiv wollen, weil nur das Sein hat,
was er will, — er muss aber andererseits es nicht wollen als etwas,
das sein und bleiben soll, sondern als etwas, das überwunden woTden
soll, dass .sein Sein nur dazu hat, um negirt zu werden.
Wie die gesanmite Welt nur dadurch als eine reale gesetzt ist,
dass die verschiedenen mit Partialideen erfüllten Partialwillensakte des
Absoluten gegen einander in Opposition befindlich sind, so wird auch
die sittliche Weltordnung nur dadurch zu einer wirklichen, dass die
zu überwindenden Momente mit gleicher positiver Bealitat gesetzt
werden wie die überwindenden Momente. Der Schaopkitz dieser
letzteren Konflikte liegt im menschlichen Bewusstsein, welches die zu
überwindenden Momente als solche anzuerkennen und den sie über-
windenden Momenten die Leuchte voranzutragen hat Nicht das ist
ein Irrthum, das Böse für ein gottgewolltes und gottgesetztes zu
halten, sondern nur das, es für ein definitives Ziel des göttlichen
Wülens statt für eine im Process unentbehrliche aber zur Ueber-
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1. Die religiöse Antiiropologie. Ig7
Windung bestimmte Stufe zu halten. Dasselbe, was an einem Orte
bösei ist, brauefat es an einem anderen nicht 2U s^; es wird erst
da böse, wo es zär Ueberwindung bestimmt und* doch noch im
Kampfe gegen die zur Ueberwindung bestimmten Momente befindlich,
wo also der Ueberwindnngsprocess noch nicht vollendet ist
Das Base entsteht theils durch das üeberschiesseoi einer gesetz-
massig konstanten Energie, die an einer Stelle nothwendig, an einer
anderen schädlich ist, theils durch das uaturgesetzmftssige Behaarrungs-
vermögen von Energien, die in einer vergangenen Weltlage zweck-
mässig waren, in einer veränderten aber unzweckmässig und dadurch
zur Ueberwindung reif geworden sind; so ist z. B. die Selbstbehaup-
tung der Individuen als Basis ihres Wirkens für das Ganze unent-
behrlich, in ihren UebergrifiFen über die Rechte Anderer aber Uber-
windungsbedürftig, — so ist femer manche erworbene und ererbte
Charaktereigenschaft (man denke an Kampftrieb und Vergeltungstrieb)
unter primitiven Kulturzuständen teleologisch werthvoll, die sich bei
der fortdauernden Vererbung in höhere Kultut^ustände als böse heraus-
stellt. Was zu anderen Zeiten, an anderen Orten oder in anderem
Grade gut ist, kann böse werden; da und dann und insoweit ent-
spricht dessen Ueberwindung dem göttüchen Willen. Der Kampf der
Ueberwindung kann dem Menschen nicht erspart werden, wenn die
Unverbrüchlichkeit der naturgesetzlichen Weltordnung, welche die feste
Basis der sitüichen Weltordnnng bildet, gewahrt bleiben soll; es ist
Gottes Wille, dass die zu negirenden Momente nicht durch gesetz-
durohlochemde Zurückziehung, d. h. durch Wunder, negirt werden,
sondern dass sie auf gesetzmässigem Wege, innerhalb der Grenzen
der Naturordnung, durch andere Momente überwunden werden. Wer
diesen Willen verkennt, sich nicht an der Ueberwindung der zu über-
windenden Momente betheiligt, sondern dieselben gewähren lässt oder
gar unterstützt, der zeigt damit, dass sein Verhalten selbst noch zu
der zu negirenden Seite des absoluten Willens gehört, d. h. böse ist.
Hiermit ist nun die Möglichkeit des Bösen im Allgemeinen ebenso
wie die Möglichkeit einer innerhalb des absoluten Willens liegenden
individuellen Selbstthätigkeit aufgezägt, und es fragt sich nun, welche
Bedingungen erforderlich sind, um die Verantwortlichkeit des Indi-
viduums für seine böse Selbstbethätigung als möglieh erscheinen zu
lassen. Wie das Böse im Widerspruch mit der Absolutheit Gottes zu
stehen schien, so scheint die Verantwortlichkeit im Widerspruch zu
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188 B. n. Dio Metaphysik des religiösen Subjekts.
stehen nicht so sehr mit der erfahrangsrnftssigen Allg^meiBbeit des
Bösen als vielmehr mit dessen ünentbehrlichkeit ttr das religiöse
Bewnsstsein. Das Böse ist nichts ZufilUiges für den Metisohen und
in seiner Allgemeinheit ebenso xmvermeidlich för den Einzelnen me
für die Welt im Ganzen; wenn dem aber so ist, wenn das Böse einer
Nothwendigkeit der menschlichen Natur entspringt, wie kann dann
noch der Mensch für dasselbe verantwortlich gemacht, wie kann er
dann von dem Bösen bedrückt werden als von einer Schuld?
Die Welt ist voller Versnehungen und Verlockungen zum Bösen,
d. h. sie bietet überall Motive dar, welche von den Pfaden der sitt-
lichen Weltordnung abzulenken geeignet sind. Aber diese Dinge und
Zustände sind doch an. und für sich nur Dinge und Zustände^ nicht
Motive; zu Motiven werden sie erst, indem die Vorstellung derselben
anregend auf die Triebe des menschlichen Charakters wirkt Also ist
es erst der Wille, dessen charakterologische Beschaffenheit die Vor-
stellungen zu Motiven macht; es müssen böse Triebe im Menschen
vorhanden sein, damit die Welt ihm Motive zum Bösen bieten kann.
Sind diese bösen Triebe vorhanden, dann ist es allerdings von Wichtig-
keit, dass die Welt so beschaffen ist, sie zu reizen, weil sie ohne an
sie herantretende Motive latent bleiben würden. Nun ist zwar kein
einzelner Trieb an sich böse, er wird es erst unter Umständen, wo
das aus ihm fliessende Begehren in Konflikt mit der sittiichen Welt-
ordnung tritt; aber es giebt Triebe, welche leichter und häufiger zu
Konflikten mit der sittlichen Weltordnung führen als andere, und
diejenigen, welche vorwiegend böse Begehrungen hervortreiben, heissen
vorwiegend böse Triebe. Kein Mensch ist frei von solchen bösen
Trieben, es kommt nur darauf an, in welchem Verhältoiss die8eU>en
zu den vorwiegend guten Trieben stehen, in welchem Grade die einen
und in welchem die anderen entwickelt sind. Dieses Verhftltnlss hdngt
tbeils von der Erziehung und den Schicksalen des Menschen ab, theils
von den Charaktereigenschaften, die er von seiner direkten Vorfahren-
reihe ererbt hat; wo bestimmte böse Triebe stark hervortreten oder
wo das Gesammtverhältniss der bösen Triebe zu den guten ein nn-
günstiges ist, da muss man von einer ererbten Anlage zum Bösen
sprechen, die durch Erziehung und Schicksale verstärkt oder abge-
schwächt worden sein kann, bevor der Mensch zur Beife gediehen ist
Diese böse Erbanlage ist aber keineswegs mit einer Erbsünde zu ver-
wechseln, weil zu dieser letzteren eine persönUche Verschuldung ge-
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1. Die religiöse Anthropologie. Ig9
bort, di« ibei der bösen Erbanlage gänzlich fehlt; ebenso stehen
Jugenderziehung und Lebensschicksale ausserhalb der menschlichen
Macht, und kann . niemand fClr die Modifikationen verantwortlich ge-
macht wefden, welche seine Erbanlage durch diese Einflüsse er-
worben hat
Die natürlichen charakterologischen Triebe sind alle nur Beson-
derimgen des allgemeinen eudftmonistischen Instinkts, welche sich
theils schon in der thieriscben Vorfahrenreihe des Menschen, theils
in der der Urzeit des Mensobengesoblecbts, theils in dem geschicht-
lichen Kulturleben desselben herausgebildet haben; der Befriedigung
Sachende Eigenwille, der eudämonistische Egoismus ist die gemeinsame
Wurzel aller, wenn auch die List der Idee dafür gesorgt hat, den
Eigenwillen seine Befriedigung oft genug in Richtungen erstreben zu
lassen, welche für die individuelle GrlückseUgkeit illusorisch, für nicht
beabsichtigte objektive Zwecke aber von realem Werthe sind. Darum
ist der eadftmonistische Egoismus als die Wurzel aller bösen Triebe
zu bezeichnen, w&hrend die guten Triebe, die sogenannten socialen
Instinkte dem Egoismus durch teleologische Illusionen wie Kukuks-
eier untergeschoben werden^ die er ahnungslos als die seinen aus-
brütet. Die Wurzel der bösen Triebe darf füglich das wurzelhaft
Bdse oder radikal Böse in der meischUchen Natur genannt werden,
trotzdem dass es sittlich indifferent erscheint, so lange ihm zuMig
die Kollision nüt der sittlichen Weltordnung erspart bleibt.
So lange der Egoismus naiv ist, d. h. die in den socialen Instinkten
liegende Prellerei seiner selbst nicht bemerkt, ist er erträglich, weil
die guten Triebe den bösen bis auf einen gewissen Grad das Gleich-
gewicht halten; wenn aber der egoistische Mensch seine Naivität
verliert, d^. h; sich nicht mehr blindlings zum Narren der instinktiven
Illusionen hergeben, sondern den Egoismus in seiner Reinheit als
bewQsstes Princip durchführen will, dann erst enthüllt der Egoismus
sein wahres. Gesicht als das radikal Böse, indem er sich principiell
über jeden objektiven Zweck stellt und die sittliche Weltordnung
gerade nur soweit aoceptirt, als sie zufällig seinen Zwecken zu dienen
scheint. Damit proklamirt nämlich der Egoismus als Princip des
praktischen Verhaltens, dass der Mensch die sittliche Weltordnung zu
missachten und ihr zuwiderzuhandeln habe, wo sie mit seinen persön-
lichen Neigungen koUidirt; vorausgesetzt ist dabei natürlich, dass
nicht etwa die indirekten Folgen solcher Missachtung dem eigenen
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l90 S- ^- bie Metaphysik des reügioeen Subjekte.
Wohl mehr Abbruch thun, ala die direkt6n e& fördern. - Hienait isl
das Böse selbst zum Prmcipdes me&sohlidien Verhaltens proklamirt^
denn das Böse ist die Widersetzlichkeit des Eigenwillens, ^egen die
objektiyen Zweoke^ übendl wo cUeselben' nicht zufällig mit seine»
individuellen Zwecken harmoniren.
Dass das Böse sich hütet, hervorzutreten, wo es vo(r-der äusseren
Macht der sittlichen Weltordnung sich beugen muss, nünmt dem^
selben durchaus nicht den Charakter des Bösen; ebensoweiBig h5i4
das egoistische Princip darum auf, böses Princip zu sein, weil ea
breite Gebiete des praktia^en Lebens giebt (z. B. die Privat^irthsdaaft
und Yolkswirthschaft), wo die Selbstförderung eines jeden Sihzeilnen die
Haupttriebkraft zur Yerwirklichung der sittlichen Weltordnimg bildeli^
Wo das böse Princip keine Thaten zeitigt, weil sie inopportun soheineii,
da lässt es doch die Gesinnung um nichts weniger böse (evscheiiiaiv,
weil sie sich mit Klugheit paart ; wo die Konsequenzen deiä bösen
Princips mit denen der sittlichen Weltordnuufg zufSyUig eiae Strecke
weit übereinstimmen, da sind ebenfallB zwar die Thaten • nicht böse
zu nennen, die mit den Forderungen der ättlioheu Weltordnimg
übereinstimmen, aber die Gesinnung, welche sie producirt, ist nur
dann sittlich zu nennen, wenn sie das zugleich dem eigetnen. Wohl
Dienende nicht darum billigt und vorzieht, weil es dem mgemn, Wohl
dient, sondern weil die Beförderung des eigenen Gedeihens ■ innerhalb
der vorliegenden Grenze zugleich eine Forderung der sittlichen Welt-
ordnung ist
Nun ist aber der eudämonistische Egoismus jedem organisofaf
psychischen Individuum als Grundlage gegeben; es ist die wesentliche
Natur des Individnalwillens, zunächst sidi selbst zu behaupte und
zu fördern, weil nur auf dieser Basis die Konflikte der v^sehiedene»
Individualwillen mögHch werden, auf denen die Bealitftt der fip*
Scheinungswelt und die Realität des Weltprocesses beruht Damit ist
ausgesprochen, dass das radikal Böse die wesentliche :und eigenste
Natur des Menschen ist. Mag dies weniger hervortreten, wo die Be*
fangenheit in den Illusionen der socialen Instinkte den %oismus
mildert, so ist doch das beständige Waohsthum der Geistesentwieke'»
lung zweifellos der Hauptzweck des Weltprocesses und mnsa diese
Geistesentwickelung ebenso zweifellos von einem gewissen Punkte an
zur Durchschauung jener Dlusionen und zur Entlarvung des Egoisxtos
in seiner principiellen Gestalt führen. Wo die Geistesentwickelung
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1. bie reli^ö6e Anthropologie. 19 1
nocbnicüt soweit fortgeschritten ist, pflegt auch die Herrschaft der
geistigen Triebe über die sinnliehen noch eine mangelhafte zu sein,
und infolge dessen das aus ungezügelter sinnlicher Begehrlichkeit
entspringende Böse einen breiten Raum zu beanspruchen. Wer das
Leben der breiten Yolksmasse zum Maassstab nimmt, der kann leicht
zu einer üebeirschätzung dieser rohesten und plmnpesten Aeusserungs-
fönn des endämonistischen Egoismus kommen, welche ihn dazu ver-
leitet, in def Sinnlichkeit und den sinnlichen Trieben selbst das
radikal Böse zu suchen; demgegenüber ist anzuerkennen, dass die
Sinnlichkeit in ihren Hauptformen als Nahrungs- und Geschlechtstrieb
nicht Tinr der Eriialtung, sondern sogar der Veredelung des Einzelnen
und der Gattung dient und sich willig der sittlichen Weltordnung
einordnen würde, wenn nicht der egoistische Eigenwille die in der
Sinnlicbkeit ihm wirkMch oder scheinbar winkenden Genüsse sich zum
subjektiven Zweck, und diesen subjektiven Zweck über die objektiven
Zvedke der sittlichen Weltordnung setzte. Die Sinnlichkeit ist also
nur das primitivste Material, mit welchem der Egoismus wirthschaftet,
und nur in der Hand dieses radikal bösen Princips wird sie selbst böse,
weil zum Werkzeug des Bösen.
Der Egoismus bildet die allgemeine Natur aller Menschen, wie
der Charakter die besondere Natur jedes einzelnen Menschen; so ist
das radikal Böse die gemeinsame Natur aller Menschen und die böse
Erbanlage in ihrer erworbenen Modifikation die besondere böse Natur
jedes einzelnen Menschen. Erst auf der Basis des radikal bösen
Egoismus entfalten die bösen Triebe die volle Macht des Bösen, erst
aus ihm schöpfen sie die rechte Kraft ihrer Behauptung und Ver-
sdiärfong gegenüber dem sittlichen Gesetz. Ist erst der Egoismus
als Princip des praktischen Verhaltens- vom Bewusstsein ergriffen
worden, so giebt es keinen Zügel für die bösen Begehrungen mehr als
die Klugheit, die auch noch oft genug im Stich lässt ; dann verhärtet
sieh der Mensch mit Wissen und Willen im Bösen, indem er bemüht
ist, sein Princip praktisch :yi üben, und entwickelt zugleich die ein-
zelnen bösen Triebe unter den nöthigen Kautelen gegen äussere Nach-
theile, oder auch wohl mit Ausserachtsetzung solcher klugen Vorsicht.
Der Motive, welche sein eigenes Gewissen oder andere Menschen
seinem Treiben entgegenhalten, darf er spotten, insofern sie aus
Principien ihre Kraft schöpfen, die er principiell verwirft, und nur
solche Motive könnten ihn irre machen, welche geeignet sind, sein
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192 B- II- I^iö Metaphysik des religiösen Subjefeis.
Princip als solches zu erschüttern. Gegen solche aber ruft er die
Sophistik seines dem bösen Willen dienstbaren Verstandes zu Hilfe
und verhärtet und verstockt sich auf diese Weise immer mehr im
Bösen.
Wie die bösen Triebe dem gemeinen Egoismus, so entsprechen
dem in sich verhärteten und gegen die Stimme des Gewissens ver-
stockten Egoismus die pathologisch degencrirten bösen Triebe. Ein
bestimmter Genuss wird durch häufige Wiederholung zur Gewohnheit,
durch Gewohnheit zum Bedür&iiss ; zugleich wird durch Abstumpfung
der Empfänglichkeit das gleiche Maass von Befriedigung nur nach
steigenden Beizen empfunden, und die Unentbehrlichkeit des Reizes
im Verein mit dem Bedürfniss nach ungewöhnlicher Stärke des Reizes
führt zum Laster, welches den Willen zum Sklaven der Erlangung
dieses Reizes macht. Das Laster ist so wenig wie der böse Trieb
überhaupt auf die Sinnlichkeit beschränkt; im Gegen theil sind die
nicht sinnlichen Laster (z. B. das Spiel) noch schlimmer als die sinn-
lichen, weil erstere unmittelbar nur den Körper und erst mittelbar
den Geist, letztere aber gleich unmittelbar den Geist pathologisch
degeneriren. Was in der ersten Generation Laster ist, kehrt in der
zweiten als böse Erbanlage wieder, die allerdings auch latent bleiben
kann; oft stellt sich die ererbte psychische Degeneration erst in den
Enkeln dar, während die Kinder nur eine körperliche Degeneration
(wie Epilepsie, Veitstanz, Scrophulosis u. dgl.) wahrnehmen lassen.
Besonders wichtig erscheint dabei eine mit Schwäche des TJrtheils-
vermögens Hand in Hand gehende Schwäche des Willens, eine
Schwachsinnigkeit, welche Pfiffigkeit und Verschlagenheit in eng-
begrenzter Richtung nicht ausschliesst, aber den Menschen ebensosehr
zum Spielball seiner eigenen bösen Triebe, wie zum Spielball der
selbstsüchtigen und bösen Absichten Anderer macht. Die ungezügelten
bösen Triebe wachsen und stärken sich dann um so mehr, als sogar
das rechte Verständniss für die Tragweite der eigenen Handlungen
und damit der Kappzaum der Klugheit /ur die Willensentscheidung
fehlt, und so bevölkert das Laster nicht nur in der ersten, sondern
sogar noch in der zweiten und dritten Generation die Gefängnisse
mit Verbrechern.
Auch noch andere Ursachen, zum Theil noch ganz unaufgeklärter
Art, immer aber in körperlichen Zuständen wurzelnd, können eine
krankhafte Steigerung und Entartung der bösen Triebe herbeiführen.
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L Die roligiöso Anthropologie. 193
Insbesondere die Affekte, können allein durch die BeschaflFenheit des
Nerven- und Blutlebens zu einem Grade potenzirt werden, wo sie das
Bewusstsein des Menschen überrumpeln und der Besonnenheit keine
Zeit lassen, sich geltend zu machen; so können z. B. aus der auf-
wallenden Eifersucht oder dem Jähzorn die schwersten Verbrechen
entspringen. Die ursprünglich aus der gemeinsamen Wurzel des
Egoismus stammenden bösen Triebe können sich durch krankhafte
Entartung so von demselben entfernen, dass man kaum noch den
Zusammenhang zwischen diesem und jenen erkennt So kann z. B.
die egoistische Lust des Mitleids zur Wollust an fremdem, ja sogar
an eigenem Schmerze sich steigern, die Herrschsucht und die selbst-
geföUige Freude an der eigenen Macht zu der Lust daran entarten,
Andere seine Macht durch Bereitung zweckloser Leiden fühlen zu
lassen, und der Neid über selbst ersehnte und selbst entbehrte Güter
kann zunächst zur Missgunst in Betreff selbst besessen^er oder selbst
nicht gewünschter Güter und von da zur Genugthuung über die von
Anderen erlittenen Verluste missgönnter Güter degeneriren. Wo die
Grausamkeitswollust, die Bosheit und die Schadenfreude zusammen-
treffen, da zeigt der Mensch eine Charakteranlage, welche ihn das
eigene Wohl und AVehe über der Lust an fremdem Leid und der
Unlust an fremder Freude fast vergessen lässt, und doch ist diese
teuflische Gcmüthsart nur ein krankhaft entarteter Egoismus, der
lediglich seine Lust dabei sucht, dass er das Wohl der Mitmenschen
zu schädigen bemüht ist, und seine Abnormität eben in der Ä^bnormi-
tät seiner Lieblingsneigungen bekundet.
Noch deutlicher tritt das Krankhafte solcher entarteten Triebe
dann hervor, wenn sich die Bosheit mit dem Eigensinn einer Mono-
manie auf ganz bestimmte Arten der Schädigung fremden Wohls
wirft; Beispiele dazu bietet die Passion zur Giftmischerei ohne gewinn-
süchtige Absicht, oder der unwiderstehliche Drang zur Brandstiftung,
während der krankhafte Trieb zum Stehlen nicht sowohl auf Schädi-
gung des fremden Besitzes als auf Mehrung des eigenen abzielt.
Diese verbrecherischen Monomanien führen bereits in das Gebiet der
Geistesstörung hinüber, und werden selten ohne allgemeinere Sym-
ptome vorhandener Geistesstörung vorkommen, wenn solche sich auch
der Wahrnehmung des Laien leicht entziehen. Nun sind aber alle
noch so verrückten Triebe doch bloss Degenerationen normaler Triebe,
und die Abweichung von der Norm kann den verschiedensten Grad
V. Hartmann, Die Beligion des Qeistes. 13
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194 B. n. Dio Metaphysik des religiösen Subjekts.
und Umfang haben. Die Grenze zwischen abnormer und nonnaler
GeistesbeschaflFenheit ist schlechterdings nicht zu ziehen; streng ge-
nommen ist überhaupt die sogenannte normale Geistesbeschaffenheit
nur ein Ideal, das nirgends existirt, und von dem jeder Mensch nach
der einen oder andern Richtung in höherem oder geringerem Grade
abweicht. Es giebt so wenig einen geistig ganz gesunden Menschen,
wie es einen körperlich ganz Gesunden giebt; es handelt sich fur's
praktische Leben nur darum, ob die Abnormitäten in geistiger und
körperlicher Hinsicht so gross sind und so wichtige Punkte betreffen,
dass sie sich in auffallender Weise störend bemerkbar machen.
Ist nun schon die normale Grundbeschaffenheit der menschlichen
Natur radikal böse, so müssen die nirgends gänzlich fehlenden patho-
logischen Deformitäten des Geistes sie noch schümmer als radikal
böse machen; das radikal Böse ist der zielbewusste Egoismus, mit
dem sich, weil er feste Ziele hat, noch rechnen lässt, — aber das
degenerirte Böse ist das Böse in mehr oder minder wahnsinniger
Verrücktheit, das in seiner Sinnlosigkeit zugleich unberechenbar ist.
Es ist die schlimmste Seite des angeborenen Bösen, sowohl für die
Erziehung als für die Selbstzucht, dass es mehr oder minder mit
pathologischen Elementen versetzt zu sein pflegt, deren unlogische
Paradoxien allen Bemühungen, ihnen motivirend beizukonunen, Hohn
sprechen.
Mit alledem ist indessen erst die individuelle Anlage zum Bösen
erörtert ; diese Anlage erhält aber die Beize zu ihrer Entfaltung nicht
bloss durch die verlockenden Motive der sie umgebenden Dinge und
Verhältnisse, sondern, was noch schlimmer ist, der Mensch mit seiner
bösen Anlage lebt unter, lauter bösen Beispielen in einer wahrhaft
miasmatischen Atmosphäre und, ist durch den Nachahmungstrieb und
die in der Nachahmung fremder Vorbilder liegende scheinbare Recht-
fertigung des eigenen Verhaltens der beständigen Gefahr der An-
steckung und der Infektion durch das böse Miasma ausgesetzt. Wie
das Gähnen, die Krämpfe und der Veitstanz eine fast unwiderstehlich
ansteckende Macht auf nervös empfängliche Personen ausüben, so
auch das Böse, das in bestimmten Formen zeitweise zu wahrhaften
geistigen Epidemien auswachsen kann. Hierher gehört nicht bloss
die periodische Verwahrlosung der Sitten, die übliche Bestechlichkeit
und die libertinistischen Moden gewisser Stände, sondern auch weit
krassere Erscheinungen, wie z. B. die im hellenischen Alterthum zeit-
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1. Die religiöse Anthropologie. 195
weise wiederkehrende örtliche Selbstmordmanie der jungen Mädchen,
die Mordmanie gewisser indischer Sekten, oder der Selbstverstümme-
lungs -Wahnsinn der Skopzen.
Wo das Böse in irgend welcher Gestalt erst gar zur herrschenden
Sitte geworden, da beugt der Einzelne sich ebenso willig und fast
noch williger solcher Unsitte als einer wirklich guten Sitte, da leiht
das Böse von der heteronomen Pseudomoral die autoritative Würde,
mit welcher der Einzelne das sich etwa regende Gewissen beschwich-
tigen kann. Auch wenn er gegen das von der Sitte formell sanktio-
nirte Böse ankämpfen wollte, ihm würde die Macht dazu fehlen; der
Gute muss sich hier der objektiven Macht des Bösen ebenso wider-
willig beugen, wie tmter normalen Verhältnissen der Böse vor der
objektiven Macht des Guten. Die Verantwortung für eine unter dem
Zwang solcher Sitten oder socialen Einrichtungen begangene That
weist der Mensch mit Hecht von sich und wälzt sie ab auf die
Schultern der Urheber der Sitte, d. h. auf die der Gesellschaft, be-
ziehungsweise auf die des Staates oder der Kirche. Kann man
solches Böse als Schuld bezeichnen, so ist es nicht mehr Einzelschuld,
sondern Kollektivschuld zu nennen, und nicht die wenigsten Verbrechen
sind zu einem grossen Theile Kollektivschuld; in diesem Sinne hat
man den Verbrecher „das Verbrechen der Gesellschaft" genannt.
Kollektivschuld sind auch solche politische und sociale Einrichtungen,
welche den Einzelnen unter gewissen Umständen beinahe mit psycho-
logischer Nothwendigkeit zum Verbrechen zwingen, obwohl dasselbe
von der Sitte verpönt und vom Gesetz verboten ist ; auch der scheue
Hirsch kehrt sich zuletzt. verzweifelt gegen den Jäger, wenn dem matt
Gehetzten jeder Ausweg abgeschnitten ist.
Die Kollektivschuld ist nicht bloss die Schuld der lebenden
Generation, sondern die Einrichtungen, Sitten und Gebräuche, welche
sie konstituiren, haben sich in der Kontinuität langer Generationen-
folgen allmählich entwickelt; mag auch die lebende Generation die
Schuld verschärft haben, in der Hauptsache ist sie von den Vätern
überkommen, d. h. Erbschuld. Die Erbschuld ist, wohl zu merken,
nur Kollektivschuld, nicht Einzelschuld ; das individuelle Erbböse aber
ist wiederum nicht Schuld, sondern blosse Anlage zum Bösen ; indivi-
duelle Erbsünde im Sinne einer sich selbst zuzurechnenden und doch
ererbten Schuld ist ein offenbarer Widersinn. Gleichwohl steht der
Einzelne nicht ausserhalb der ererbten Kollektivschuld, sondern mitten
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196 ß- I^- Oiö Metaphysik dos religiösen Subjekts.
in derselben, insofern er sich den schlechten Sitten nnd Gebräuchen
heugt, die schlechten Institutionen mit benutzt, nichts zur Bekämpfung
derselben thut, und so an seinem Theil zu ihrer Sanktionirung bei-
trägt. Die miasmatische Atmosphäre des Bösen, die er einathmet,
vergrössert er selbst durch sein Ausathmen von Miasmen; er hat
Theil an der Kollektivschuld, deren Bestand durch die Erbschuld be-
dingt ist Aber diese Mitschuld lastet auf ihm nicht anders wie die
böse Beschaffenheit seiner eigenen Natur; die Ansteckung des Bösen
und die Kollektivschuld konstituiren ebenso das den Menschen von
aussen umfangende Böse, .wie der radikal böse Egoismus und die
normalen oder abnormen bösen Triebe das innere Böse konstituiren.
Kollektive Erbschuld und individuelle böse Erbanlagen bilden im
Verein mit der radikalbösen Grundnatur des Menschen die objektive
Macht dos Bösen, unter welcher der Mensch steht, und von welcher
sich selbst zu erlösen er als natürlicher Mensch, d. h. als eudämo-
nistisch-egoistisches Individuum unfähig ist, weil eben die Beschaffen-
heit des natürlichen Menschen selbst die Wurzel des Bösen ist.
Diese empirische Aufnahme des Zustandes, in welchem sich der
Mensch seiner Natur nach befindet, stimmt völlig überein mit den
Forderungen de» religiösen Bewusstseins, nach welchen das Böse nicht
etwas ZuföUiges, sondern etwas Nothwendiges, nicht ein partikuläres,
sondern ein allgemeines Accidenz des Menschen sein muss, wenn die von
der Religion gebotene Erlösung etwas Nothwendiges und Allgemeines,
nämlich die Befriedigung eines allgemeinen menschüchen Bedürfnisses
darstellen soll. Wenn aber das Böse als eine allgemeine Nothwendigkeit
auf dem Menschengeschlecht lastet, so ist es ein Schicksalsschluss,
dem nicht zu entrinnen ist, ein unabwendliches, wenigstens durch den
Menschen selbst unabwendliches Fatum; der Mensch mag das Böse
als ein Uebel für sich empfinden und als ein Hinderniss für die teleo-
logische Weltentwickelung beklagen, aber er kann es nicht mehr als
eine Schuld empfinden, für die er selbst verantwortlich wäre. Dieser
Schluss erscheint zunächst ganz plausibel; die Einsicht in die radikal
böse Natur des Menschen in Verbindung mit der bösen Erbanlage und
der kollektiven Erbschuld scheint unvermeidlich zum FataUsmus (gleich-
viel ob in Gestalt eines blinden Verhängnisses oder einer göttlichen
Prädestination) zu führen, und der Fatalismus hebt ebenso unver-
meidlich die Verantwortlichkeit und das persönliche Schuldgefühl auf.
Hiergegen lehnt sich aber das religiöse Bcwusstsein mit Recht
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1. Die religiöse Authropologie. 197
auf; denn ihm liegt alles daran, die Erlösang nicht bloss als eine
Erlösung vom Uebel, sondern auch als eine solche von der Schuld
festzuhalten. Die nächste Auskunft scheint die zu sein, dass dem
empirischen Fatalismus des Bösen gegen'über eine unter diesen Um-
ständen allerdings unbegreifliche Freiheit zum Outen aufgestellt wird,
die eben darum, weil sie vor den psychologischen Motivationsgesetzen
nicht Stich hält, als eine über der NothwendigMt des gesetzmässigen
Motivationsprocesses schwebende und in denselben unmotivirt ein-
greifende, d. h. indeterministische Freiheit gedacht wird. Der In-
determinisnuis, der in einer oberflächlichen Auffassung der inneren
Erfahrung scheinbare Stützen findet, erscheint als das nächstUegende
Heilmittel gegen die unsittlichen und irreligiösen Konsequenzen des
Fatalismus ; aber dieser Schein trügt, und so wenig der Indeterminis-
mus vor der theoretischen Analyse haltbar ist, ebenso wenig ist er
es vor dem Forum des religiösen Bewusstseins. Denn er hebt die
Verantwortlichkeit, die er begründen soll, gerade erst recht auf, ganz
abgesehen davon, dass er die Absolutheit Gottes beeinträchtigt und
den menschlichen Willen aufhören lässt, ein Werkzeug in der Hand
Gottes zu göttlichen Zwecken zu sein.
Der Indeterminismus verfolgt dem Fatalismus gegenüber den
richtigen Gedanken, dass meine YerantwortUchkeit für die That nur
dann besteht, wenn ich auch anders hätte handeln können, als ich in
dem besonderen Falle gehandelt habe; aber er sucht das „Auch
anders handeln Können" durch ein verkehrtes Mittel, durch die
Hinaushebung der Willensentscheidung über den gesetzmässigen
Motivationsprocess zu erzielen, d. h. durch ein für grundlos Erklären
des WoUens, womit er der Verantwortlichkeit wiederum nach der
andern Seite jeden Boden entzieht. Wenn der Wille sich nach
Gründen entschiede, so müssten diese Gründe für ihn im Augenblick
der Entscheidung Motive sein, d. h. die Entscheidung wäre ein Moti-
vationsprocess und als solcher den psychologischen Gesetzen der
Motivation unterworfen, also determinirt; eine indeterministische,
d. h. nicht durch Motive determinirte Willensentscheidung muss
schlechthin grundlos sein, und erweist ihre indeterministische Freiheit
gerade damit, dass sie allen bestehenden Motiven zum Trotz das
Netz der rationellen Gründe und psychologischen Gesetze triumphirend
zerreisst. Die indeterministische Willensentscheidung wäre wiederum
nicht grundlos, wenn sie berechenbar wäre, wenn man z. B. aus einer
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198 B. II. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
Beihe in gleichem Sinne ausgefallener Entscheidungen eine gewisse
Wahrscheinlichkeit entnehmen könnte, dass in dem nächsten gleichen
Falle die Entscheidung wieder in gleichem Sinne ausfallen werde ; ein
solcher Schluss würde ja auf der Voraussetzung einer bestimmten
Determination eines konstanten Charakters durch Motive, also auf
dem Gegentheil der indeterministischen Hypothese ruhen.
Von einer grundlosen Willensentscheidung vermag der Mensch
sich keine Rechenschaft zu geben, er steht verstandnisslos vor der
grundlosen Thatsache; denn das Grundlose ist zugleich das schlecht-
hin Irrationelle und das Irratiönelle ist das Sinnlose. Der Mensch
kann nach der indeterministischen Theorie nicht sagen, warum sein
Wille sich so oder so entschieden habe; denn wenn er das ai^eben
könnte, so wäre derselbe ja nicht grundlos gewesen, sondern durch
Gründe, d. h. durch Motive determinirt. Aller bösen Charakteranlage
und allen Verlockungen zum Trotz kann der indeterministisch freie
Wille sich grundlos zum Guten entscheiden, aber ebenso grundlos
auch zum Bösen trotz aller bereits gemachten Fortschritte in der
Versittlichung und trotz der günstigsten Umstände, welche das Ver-
harren im Guten erleichtern. Mag dieser freie Wille, der bei jeder
EntSchliessung den letzten Ausschlag giebt, auch nur als ein Faktor
hinzutreten zu dem ganzen Komplex von gesetzmässig motivirten
Begehrungen, so ist er es doch, der den Ausschlag giebt und auf
den deshalb schliesslich alles ankommt; mag der freie Wille auch
nicht immer, sondern nur manchmal und ausnahmsweise zu dem
Komplex der gesetzmässig motivirten Begehrungen ausschlaggebend
hinzutreten, so hat doch der Mensch kein Merkmal, woran er die
Mitwkkung oder Nichtmitwirkung dieses indeterministischen Faktors
unterscheiden und erkennen könnte, und muss stets darauf gefasst
sein, dass das eventuelle Hinzutreten dieses Faktors alle seine auf den
Determinationsprocess gebauten guten oder bösen Berechnungen und
Veranstaltungen über den Haufen wirft.
Das, worin der Mensch lebt und sich bewegt, womit er etwas
leisten und fördern kann, sind . immer nur diejenigen Willensbethäti-
gungen, welche ihren guten Grund haben und ihm durchsichtig, ver-
ständlich und berechenbar sind, d. h. die Ergebnisse des gesetzmässigen
Motivationsprocesses ; nur in diesen bethätigt sich in stetiger Weise
sein Charakter, der Kern seiner menschlichen Individualität, nur in
diesen ist Sinn und Verstand. Die grundlosen, unverständlichen, un-
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1. Die religiöse Anthropologie. 199
berechenbaren, unbeständigen Entscheidungen des mdeterministisch
freien Willens, schweben wie das Damoklesschwert einer ihm fremden,
schlechthin irrationellen Macht über ihm, von der er nicht einmal
weiss, wann sie eingreifen wird, geschweige denn wie; für die Ent-
scheidung eines solchen abstrakten, mit seinem Individualcharakter
in keiner wesentUchen Beziehung stehenden Princips, kann der Mensch
unmögUch die Verantwortlichkeit tragen. Verantworten kann man
sich nur darüber, ob man das Bessere erkannt und das Schlechtere
befolgt hat; Verantwortlichkeit setzt also eine Selbstbestinmiung durch
Motive voraus, eine Determination durch Gründe, über deren Werth
man sich Rechenschaft abzulegen im Stande ist, so dass die Aus-
scWiessung der Willensbestimmung durch Gründe auch unbedingt jede
Verantwortlichkeit ausschliesst.*)
Wenn der Fatalismus und der Indeterminismus gleich untauglich
sind, um dem Gefühl der Verantwortlichkeit als metaphysische Voraus-
setzungen zu dienen, so bleibt nur die Hofl&iung übrig, in dem psycho-
logischen Determinismus, der sich schon in Bezug auf die Ermöglichung
des Bösen als die rechte Mitte zwischen jenen beiden erwies, den-
jenigen Standpunkt zu finden, welcher ebenso wohl das Gefühl der
Verantwortüchkeit zu begründen, wie die Vereinbarkeit zwischen der
Natumothwendigkeit des Bösen und dem persönlichen Schuldbewusstsein
aufinizeigen vermag.
Die Verantwortlichkeit verlangt als Voraussetzung das Bewusst-
sein, dass man auch anders hätte handeln können; aber dies Auch-
anderskönnen darf kein bedingungsloses sein, wie der Indeterminismus
meint, sondern ein bedingtes ; es darf aber auch kein bloss von aussen
bedingtes sein, wie der Fatalismus meint, sondern ein von innen be-
dingtes. Um mich für eine bestimmte That moralisch (nicht bloss
juridisch) verantwortlich zu wissen, dazu muss ich mir bewusst sein,
dass ich unter den gegebenen äusseren Umständen auch anders hätte
handeln können, wenn ich die in mir liegenden Triebe geschickter
verwerthet hätte, d. h. wenn ich mir Motive vorgehalten hätte, welche
geeignet waren, solche Triebe zu motiviren, oder kräftiger zu motiviren;
denn jede Willensentscheidung ist die Resultante von Begehrungen,
*) Vgl. „Phänomenologie des sittiiclion Bewusstseins", S. 448—485, und Melzer:
„Historisch-kritische Beiträge zur Lehre von der Autonomie der Vernunft", 2. Aufl.,
Neisse 1882, S. 1—24 und 239—241.
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200 ß- I^' I^iö Metaphysik dos religiöson Subjekts.
deren Zahl und relative Stärke einerseits durch den Charakter, anderer-
seits durch den jeweilig aktuellen Bewusstseinsinhalt bedingt wird.
Der Charakter ist zwar meinem unmittelbaren Einfluss entzogen, aber
der jeweilige Bewusstseinsinhalt ist theilweise vom Willen abhängig,
welcher die Macht hat, bewusste Vorstellungen wach zu rufen und durch
die Koncentration der Aufmerksamkeit auf dieselben die anderen von
aussen erregten oder durch unwillkürliche Idcenassociation wach ge-
rufenen Vorstellungen zu verdunkeln oder ganz aus dem Bewusstsein
zu verdrängen. Allerdings gehört zu solcher Vorstellungserzeugang
ein aktueller Wille; wäre dieser im Augenblick der Entscheidung vor-
handen gewesen, so wäre sie anders ausgefallen. Man muss also sagen :
ich hätte anders handeln können, wenn ich rechtzeitig den aktuellen
Willen gehabt hätte, die zu dem Andershandeln erforderlichen motiviren-
den Vorstellungen in's Bewusstsein zu rufen.
Wenn hier die Bedingungen des Auchanderskönnens abgeschnitten
wären, so müsste anerkannt werden, dass dieselben derart sind, um
eine Verantwortlichkeit unmöglich zu machen; wenn es ganzlich meiner
Machtsphäre entrückt wäre, ob mein Wille zur Erzeugung der erforder-
lichen motivirenden Vorstellungen vorhanden ist, oder nicht, so hinge
das Auchanderskönnen ganz einseitig von meiner Charakterbeschaffen-
heit ab, so zwar, dass mir weder eine mittelbare noch eine unmittel-
bare Möglichkeit bliebe, auf die Aenderung meines Charakters einen
Einfluss zu gewinnen. Das Auchanderskönnen hinge dann lediglich
von inneren Entwickelungsvorgängen oder äusseren Umständen, Erleb-
nissen und Schicksalen ab, welche beide gleich sehr meinem Einfluss
entrückt sind. Ich hätte dann wohl anders handeln können, wenn
ich ein anderer Charakter gewesen wäre, aber ich hätte nicht anders
handeln können als derjenige, welcher ich war ; ja was noch schlimmer
ist, ich habe keine Aussicht, bis zum nächsten ähnlichen Fall so sehr
ein Anderer zu werden, dass ich anders zu handeln hoffen darf. In
diesem Falle wäre die moralische Verantwortlichkeit ebensosehr aus-
geschlossen wie beim Fatalismus , nur die juridische Verantwortlichkeit,
für die bürgerüchen Folgen der eigenen Selbstthätigkeit einstehen zu
müssen, bliebe bestehen, welche vom Indeterminismus auch aufgehoben
wird, weil er die Menschen zu lauter forensisch Unzurechnungsfähigen
stempelt.
In der That ist aber der aktuelle Wille zur Erzeugung der er-
forderlichen motivirenden Vorstellungen nicht bloss einseitig von der
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1. Die religiöse Anthropologie. 201
Beschaffenheit des Charakters abhängig, sondern auch von dem Grade
der Aufmerksamkeit und Wachsamkeit, welche der vorhandene latente
Wille anwendet, um die Gelegenheiten zu seiner Bethätigung zu er-
spähen und rechtzeitig zu benutzen. Ist kein latenter Wille zur
Herbeiführung von Willensentscheidungen bestimmter Art vorhanden,
oder ist er zu schwach, um die Aufmerksamkeit zum Erspähen der
Bethätigungsgelegenheiten hinreichend zu schärfen, so liegt das Ver-
passen der Gelegenheit allerdings an einem Charakterfehler; ist hin-
gegen ein solcher latenter Wille in einer hinreichenden Stärke vor-
handen, so ist doch die Aufmerksamkeit nach dem Gesetz der Ermüdung
manniehfachen Schwankungen unterworfen, welche es begreiflich machen,
dass hei dem gleichen Charakter und den gleichen äusseren Umständen
das eine Mal die Gelegenheit zur Aktualisirung des latenten Willens
benutzt, das andere Mal verpasst wird. Ich kann also sagen: ich
hätte auch anders handeln können, wenn ich weniger der Ermüdung
der Aufmerksamkeit nachgegeben, wenn ich besser auf der Hut gewesen
wäre und meine Wachsamkeit besser geschärft hätte, um mich nicht
von den unwillkürlich auftauchenden Motiven überrumpeln und zu
einer meiner latenten Grundwillensrichtung widerstrebenden Entschei-
dung hinreissen zu lassen.
Hier liegt nun allerdings eine Art Selbsttäuschung vor. Man
weiss, dass man die Aufmerksamkeit willkürlich spannen kann, und
denkt daran, dass man sie auch in jenem Moment der vergangenen
Entscheidung hätte stärker spannen können; man vergisst aber dabei
nur zu leicht, dass die willkürliche Spannung der Aufmerksamkeit
selbst wieder von dem Vorhandensein eines aktuellen Willens zu dieser
Spannung abhängt, und dass das Vorhandensein dieses Willens von
der augenblicklichen geistigen und körperlichen Disposition, dem Grade
der Ermüdung oder Frische, dem zufllllig gegebenen Bewusstseins-
inhalt u. s. w. bedingt ist. In diesem Sinne kann man sagen: ich
hätte auch anders handeln können, wenn ich bei gleicher latenter
Wülensrichtuifg zur Herbeiführung einer Entscheidung in bestimmtem
Sinne daran gedacht hätte, dass sich eine Gelegenheit zur Bethätigung
dieser Willensrichtung darbieten könne und werde, wodurch dann der
Wille zur Schärfung der Aufmerksamkeit geweckt worden wäre. Dass
ich damals daran nicht gedacht habe, während ich nunmehr nach
meiner jetzigen Auffassung der Sache wohl wünschte, daran gedacht
zu haben, das zeigt mir, dass ich jetzt ein solcher bin, welcher unter
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202 B. n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
gleichen Umständen anders handeln könnte und würde. Dass ieh
damals auch anders hätte handeln können, wenn ich genau in dem
Zustande war, wie ich damals war, das ist allerdings ein Irrthum,
der den Indeterminismus zur Folge haben muss : aber dass ich damals
auch anders hätte handeln können, wenn ich damals in dem Zustande
gewesen wäre, in dem ich jetzt bin, das ist eine Wahrheit, welche
genügt, um das Gefühl der VerantwortUchkeit zu erklären und zu
rechtfertigen.
Die Wandelung, welche von dem Zeitpunkt der Willensentschei-
dung bis zu dem Zeitpunkt der Beurtheilung mit mir vorgegangen
ist, hat genügt, mich zu einem zu machen, der anders hätte handeln
können; zugleich bin ich um die Erfahrung reicher geworden, dass
die in dem vorigen Falle aufgewendete Spannung der Aufmerksamkeit
nicht ausgereicht hat, mich vor einer meiner latenten Grundwillens-
richtung widerstrebenden Entscheidung zu bewahren. Diese Erfahrung
wird nun zum Motiv, künftig besser auf der Hut zu sein und den
zur Vermeidung solcher Ueberrumpelungen erforderlichen Zustand des
Willens, wie ich ihn jetzt besitze, zu bewahren; die üebung des
Willens in der Erkennung und Beachtung der Gelegenheiten zur
Bethätigung der latenten Grundwillensrichtung führt allmählich zu
einer wachsenden Beschleunigung der Reaktion, mit welcher der Wille
durch Spannung der Aufmerksamkeit die Vorstellungen einer sich
darbietenden Gelegenheit beantwortet, und diese Beschleunigung lässt
den Fall eines Verpassens der Gelegenheit immer seltener eintreten.
Die Erwägung, dass man diese Erfahrung auch schon aus früheren
Fällen hätte schöpfen, bei geeigneter Beachtung derselben schon
früher den erforderlichen Grad von üebung in der Aufmerksamkeits-
reaktion hätte gewinnen* und so die Ueberrumpelung des letzten
Falles hätte vermeiden können, zeigt, dass man schon in dem letzten
Falle hätte ein solcher sein können, der die Gelegenheit nicht ver-
passte, und lässt es als eine schuldvolle Versäumniss erscheinen, dass
man sich nicht schon früher mit Hilfe der gebotenen psychologischen
Mittel zu einem solchen Zustande emporgearbeitet hat.
Immerhin bleibt auch in dieser Nachrückwärtsverlegung der nach
vorwärts hin völlig berechtigten Erwägung eine gewisse Selbsttäuschung
bestehen, insofern die thatsächliche UnerfQlltheit der für das Auch-
anderskönnen vorauszusetzenden Bedingungen übersehen wird; aber
der praktische Werth dieser Betrachtung liegt auch gar nicht in ihrer
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1. Die religiüso Anthropologie. 203
retrospektiven Projektion, sondern in ihrer nach vorwärts gekehrten
Seite. Aus der Wahrheit: „ich hätte anders handeln können, wenn
ich mir mehr Mühe gegeben hätte" ist nur die eine Konsequenz von
Bedeutung: f^also will ich mir fortan mehr Mühe geben, um anders
zu handeln." Bis zu welchem Grade dieser Vorsatz Wirklichkeit
werden wird, ist einem beschrankten Verstände verhüllt; aber in der
Unwissenheit des endlichen Willens über den Grad seiner Spannungs-
fähigkeit liegt gerade der stärkste Antrieb zu einer höchstmöglichen
Steigerung der Spannungsversuche und zugleich die Berechtigungs-
loaigkeit, irgend einen bestimmten Spannungsgrad für subjektiv un-
erreichbar zu halten. Der Mensch widerspricht sich selbst und seiner
latenten Grundwillensrichtung, wenn er nicht alle Eräfbe aufbietet,
um seine Wachsamkeit so zu spannen, dass er nicht durch eine dieser
Willensrichtung widersprechende Willensentscheidung überrumpelt
wird ; er macht sich mit Recht dafür verantwortlich, wenn er es ver-
säumt, diese Spannung immer weiter und weiter zu treiben, so dass
sie ünmer besser und zuverlässiger ihrem Zweck entspricht.
Diese fortschreitende psychologische Technik der Selbstbeherr-
schung*) beruht allerdings auf einer unerlässlichen Voraussetzung,
nämlich der, dass eine latente fundamentale Willensrichtung konstanter
Art vorhanden ist, deren Motivirung die vorstellungserzeugenden
Willensakte liefern muss. Eine solche konstante Willensrichtung setzt
einen festen Endzweck voraus, ein bestimmtes Frincip, aus welchem
heraus das Leben geleitet wird. Dieses Princip kann nur von zweierlei
Art sein, entweder böse oder gut, je nachdem der alles determinirende
Endzweck subjektiv oder objektiv ist, je nachdem alle Triebe in den
Dienst des Egoismus oder der sittlichen Weltordnung gestellt werden.**)
Das böse Princip wird darum nichts besser, wenn es die psycho-
logische Technik der Selbstbeherrschung in seinen Dienst nimmt und
aus einem naiven Egoismus zu einem raffinirten Egoismus wird; das
Böse wird nur mehr auf die Gesinnung beschränkt und offenbart sich
im Handeln zwar seltener, aber mit desto schlimmerem Effekt. Die
psychologische Technik der Selbstbeherrschung führt hier bloss zu
einer Freiheit von den sinnlichen, anschaulichen und gefühlsmässigen
Motiven zu Gunsten der Willensdetermination durch abstrakte, ver-
*) Vgl. „Phänomenologie des sittlichen Bewussteeins", S. 417—430.
'*) Vgl. ebenda S. 430—448.
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204 B. II. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
standesmässig reflekttrte Motive; aber indem der Naturinstinkt des
selbsteüchtigen Eigenwillens das r^ulativc Princip für die Verwendung
der rationellen Selbstbestimmung bleibt und den Zweck repräsentirt,
dem alle verstandesmassige Reflexion nur als Mittel dient, bleibt die
ganze Selbstbestinunung in der Sklaverei des Natürlichen oder Welt-
lichen im schlimmen Sinne stecken. Das Natürliche oder Weltliche
hat ja sein gates Becht als teleologische Basis des Geistigen und
Sittlichen, aber auch nur als Mittel zu diesem höheren Zweck; sobald
das Natürliche und Weltliche sich ans dieser dienstbaren teleologischen
Stellung aufbäumt und sich im Egoismus zum Selbstzweck proklamirt,
verkehrt es diejenige Bestimmung seiner selbst, in welcher sein Becht
und sein Werth liegt, und wird in seiner unberechtigten Verselbstr
ständigung zum Natürlichen oder Weltlichen im schlimmen Sinne.
In dieser Gestalt wirft es sich im Egoismus sogar zum Herren von
etwas Geistigem auf, nämlich von der psychologischen Technik der
Selbstbeherrschung; dass es aber so mit einem Selbstwidersprach
behaftet ist, erweist sich eben dadurch, dass die versuchte Vergeistigang
des Egoismus selbst ihn ad absm'dwin führt und den Bankerott dem-
selben als eines Selbstzwecks ad oculos demonstrirt'*') Der Egoismus
als Herr der Selbstbeherrschung üefert darum keine wahre Freiheit;
das Vermögen des Menschen zur geistigen Selbstbefreiung von den
natürlichen Motiven missbraucht er zur Perpetuirung der Knecht-
schaft des Geistes von der Natnr. So führt er zur Earrikatur der
wahren Freiheit, indem er die formelle Autonomie der egoistischen
Pseudomoral mit dem Inhalt der absoluten Unfreiheit von der Natur
erfüllt; er ist der AflFe der wahren Autonomie, indem er die Gesetz-
gebung für das menschliche Verhalten einem Selbst überträgt, welches
nicht das wahre geistige Selbst des Menschen ist, sondern bloss das
natürliche Selbst, welches aber in seiner Erhebung zum alleinigen
Selbst schon eine principielle Verkehrung der teleologischen und sitt-
lichen Weltordnung anrichtet.
Das wahre Selbst des Menschen muss vielmehr dasjenige sein,
welches die psychologische Technik der Selbstbeherrschung nicht nur
zur Befreiung von den naturlichen Motiven, sondern auch zur Be-
freiung von dem natürlichen Selbst, d. h. zur Selbstverleugnung vcr-
*) Vgl. „Phänomonologio dos sittlichon Bowasstsoins" : I. „Die egoistische
Psoudomoral", S. 3—102.
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1. Die roligiöso Anthropologie. 205
werthet, und die rationellen Mittel der Abstraktion und Reflexion
nicht zu irrationellen, die vernünftige Weltordnung auf den Kopf
stellenden Zwecken, sondern zu rationellen, objektiv -vernünftigen
Zwecken benutzt. Der Egoismus mag noch so verständig sein in der
Wahl seiner Mittel, er bleibt doch immer wesentlich unvernünftig,
nämlich irrationell in der Wahl seines Zweckes; seine formell ver-
ständige Autonomie ist daher immer eine unvernünftige Autonomie,
und dämm bloss scheinbar eine Autonomie, nftmlich inhaltlich Sklaverei
unter dem verselbstständigten und damit unvernünftig gewordenen
Natürlichen, dem Eigenwillen. Die einzige wirkliche Autonomie ist
die vernünftige Autonomie, welche wahrhaft vernünftige, d. h. objek-
tive Zwecke anerkennt, und damit Verleugnung des subjektiven
Zweckes, d. h. des natürlichen Selbst ist ; diese vernünftige Autonomie
weist den Eigenwillen mit seinen Emancipationsgelüsten zurück in die
dienende Stellung, die ihm als einem Natürlichen zukommt ; sie allein
giebt dem Menschen die Freiheit, deren er fähig ist, d. h. die sitt-
liche Freiheit, und sie allein ermögUcht eben damit zugleich erst das
Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit.
Wo das radikal Böse zum regulativen Princip erhoben ist, kann
der Mensch wohl Handlungen hervorbringen, welche mit der sittlichen
Weltordnung übereinstimmen, aber nicht sittliche Handlungen; denn
solche müssten aus einer mit der sittlichen Weltordnung überein-
stimmenden Gesinnung hervorgehen, während der Egoismus der sitt-
lichen Weltordnung principiell widerspricht. Die scheinbar sittlichen
Handlungen gehen beim Egoisten aus einer ebenso unsittlichen Ge-
sinnung hervor wie die unsittlichen, darum kann von einer sittlichen
Verantwortlichkeit beim Egoisten gar nicht die Rede sein; nur dafür
kann er sich verantwortlich machen, wenn er aus Mangel an Selbst-
beherrschung und Besonnenheit Handlungen vollbracht hat, welche
seinem egoistischen Princip nicht gemäss, seinem wohlverstandenen
Interesse zuwider waren, d. h. wenn er nicht selbstsüchtig genug
gehandelt zu haben glaubt. Sittliche Verantwortlichkeit ist nur mög-
lich, wo ausser den unsittlichen auch sittliche Handlungen möglich
sind, wo ausser dem Princip des radikal Bösen auch noch ein gutes
Princip vorhanden ist, eine für gewöhnlich latente Grundwillensrichtung
im sittlichen Sinne.
Dieser fundamentale sittliche Wille, oder der stetige Wunsch, dass
alle eigenen Willensentscheidungen mögüchst im sittlichen Sinne aus-
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206 ß- il- I^io Metaphysik des religiösen Subjekts.
fallen, kann, wie wir oben gesehen haben, auch als ethische Ge-
sinnung bezeichnet werden, als das Verlangen des Greistes nach
Kealisirung der dem Bewusstsein vorschwebenden ethischen Ideen, als
die Sehnsucht nach Verwirklichung der subjektiven sittlichen Welt-
ordnung, als das Streben nach Erfüllung der objektiven Zwecke.
Ohne diese ethische Gesinnung, welche im Lichte des religiösen
Bewusstseins mit dem praktischen Glauben zusammenfällt, wäre Ver-
antwortlichkeit unmöglich; der bloss natürliche Mensch, d. h. der
bloss unter der Herrschaft des natürlichen Eigenwillens stehende Mensch
wäre völlig unter der Macht des Bösen, und darum einerseits gänz-
lich unfähig zum Guten, aber andererseits auch gänzlich unfähig, zur
moralischen Verantwortung gezogen zu werden.
Selbstverständlich ist ein solcher bloss natürlicher Mensch eine
völlig unwirkliche Abstraktion; ein solcher Mensch stände noch unter
den höher organisirten Thieren, welche bereits ausnahmslose moralische
Instinkte besitzen, d. h. Instinkte, welche über die Erfüllung sub-
jektiver Zwecke hinaus zur Verwirklichung objektiver Zwecke dienen.
Auch der eingefleischteste Egoist, welcher sein Princip in voller Kein-
heit durchzuführen glaubt, steht doch unwillkürlich mehr oder minder
unter der Herrschaft der von ihm als illusorisch durchschauten socialen
Instinkte und damit unter der Macht einer sein Princip durchbrechen-
den objektiven Vernunft; mag er sein Gewissen noch so sehr abge-
stumpft haben, ganz wird er doch die mahnende Stimme der seinem
Geiste immanenten sittlichen Weltordnung nicht los. Darum ist es auch
ganz richtig, jeden Menschen, sofern er Mensch ist, für sittlich verant-
wortlich zu erklären; man muss nur dabei dessen eingedenk bleiben,
dass diese Verantwortlichkeit nicht in der Beschaffenheit des natürlichen
Menschen als solchen beruht, sondern in einer ethischen Gesinnung,
welche aus der blossen Natürlichkeit nicht erklärt werden kann.
Mit der ethischen Gesinnung ist der feste Punkt gegeben, von
welchem aus die psychologische Technik der Selbstbeherrschung ihre
Hebel ansetzen kann zur üeberwindung des Bösen ; an ihr besitzt der
Mensch die strategische Operationsbasis, von welcher aus er Zoll um
Zoll dem Bösen sein Gebiet streitig machen kann, an ihr die unver-
lierbare Festung, in welche er, noch so oft geschlagen, sich zurück-
ziehen und seine Kräfte zu immer neuen Feldzügen sammeln kann.
Wie gross auch die Macht des Bösen sei, wie eng das Netz, mit
dem es ihn von aussen und innen umsponnen, so ist seine Macht
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1. Dio religiöso Anthropologie. 207
doch nicht unüberwindlich, und sein Netz, wenn auch nicht mit einem
Mal zu zerreissün, doch Masche vor Masche aufzutrennen. Mit der
principiellen Anerkennung der sittlichen Weltordnung als Norm des
Handelns ist die Selbstverleugnung oder die Verleugnung des egoisti-
schen Naturinstinkts als Norm des Handelns bereits principiell voll-
zogen, und es handelt sich nur noch darum, in jedem besonderen
Falle dem Bückfall in den instinktiven Egoismus vorzubeugen. Dies
geschieht vornehmlich durch Bekämpfung der zum Bösen hinleitenden
Triebe, wobei die guten Triebe als Waffen benutzt und durch Vor-
haltung der geeigneten Motive in Aktion gesetzt werden. Auch die
pathologisch degenerirten bösen Triebe müssen mit denselben Mitteln
bekämpft werden; denn bekanntlich ist selbst vom medicinischen
Standpunkt die psychologische Behandlung ein Hauptmittel der
psychiatrischen Therapie. Gerade weil das Normale und Abnorme
flüssig in einander übergeht, kann nicht jede pathologische Entartung
von der Verantwortlichkeit entbinden; der Mensch muss ihre Be-
kämpfung um so energischer in die Hand nehmen, je hochgradiger
sie ist, aber er kann niemals behaupten, dass sie zu weitgehend sei,
um noch irgend welcher Selbstbeherrschung Kaum zu gestatten. Auch
völlig unzurechnungsfähige Irre sind sehr wohl noch eines bedeutenden
Grades von Selbstbeherrschung fähig und darum innerhalb einer
begrenzten Sphäre sehr wohl noch einer moraüschen Verantwortlich-
keit fähig, auch nachdem sie längst von juridischer Verantwortlichkeit
für ihre Handlungen entlastet sind. So lange der Geisteszustand des
Irren noch ein Keflektiren über seine Handlungen und eine Selbst-
bestimmung durch selbstgesetzte Motive gestattet, ist auch der Kampf
gegen die bösen Aulagen nicht völlig aussichtslos, wenngleich in seinen
Chancen sehr viel ungünstiger; erst das Absterben einer sittlichen
Grundwillensrichtung entfesselt das rein natürliche Spiel der unwill-
kürlichen Begehrungen, entkleidet aber damit auch den Irren seines
sittlichen Charakters als Mensch.
So wenig wie dio innere böse Natur des Menschen den Kampf
gegen das Böse hoffnungslos machen kann, ebenso wenig die äussere
Macht desselben, wie sie in den verführenden Umständen, der An-
steckung und der Kollektivschuld sich darstellt; allerdings wird es
bei sonst gleicher innerer Anlage einer kräftigeren ethischen Ge-
sinnung imd einer mehr vervollkommneten Technik der Selbstbeherr-
schung bedürfen, um gleiche Erfolge zu erzielen. Je verlockender
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208 ^- IJ- ^^6 Metaphysik des religiöscu Subjekts.
die Motive der bösen Triebe unwillkürlicli als Wahrp^muBg io's
Bewusstseiu treten, desto lebhafter und eindringlicher müssen die
Vorstellungen sein, welche den guten Trieben als Motive vorgehalten
werden, um sie bis zu einem Grade des Begehrens zu erregen, welcher
den motivirten bösen Begehrungen nicht nur die Wage hält, sondern
sie noch um etwas an Stärke übertrifft. Aehnlich ist es mit 4er
Ansteckung durch schlechte Beispiele ; da kommt es darauf an, duxch
Uebung die Selbstständigkeit des sittlichen Urtheils so zu schärfen und
den Inhalt des sittlichen Bewusstseins so zu klären, dass derselbe
gegen Verfälschungen von aussen her sicher gestellt ist Es ist
immer eine Art sittlicher Trägheit, wenn man sicU auf das Gewissen
Anderer verlässt, anstatt allein die Aussprüche des eigenen Gewissens
zur Richtschnur zu nehmen; diese Trägheit ist ebenso durch An-
spannung der eigenen Willenskraft zu überwinden, wie die aus dem
Gefühl der Unsicherheit und Unreife stammende Unselbststtodigkeit
durch Uebung in eigener sittlicher Bethätigung. Alle solche Umstände
können wohl als Begünstigungen des Bösen gelten, un4 dadurch als
mildernde Umstände die Schwere der Schuld verringern, aber sie
können die Verantwortlichkeit dafür, dass der Mensch im Kampf
mit dem Bösen seine Kräfte nicht straffer angespannt hat, nicht
aufheben.
Etwas anders verhält es sich mit der Kollektivschuld. Diese
vcrtheilt sich zunächst auf alle Träger, so dass auf jedem Eänselnen
nur eine relativ kleine Eate ihres ganzen Gewichtes lastet; diejenigen
Mitglieder der Gesellschaft, welche noch nicht zu sittlicher Beife
herangewachsen sind, oder noch keine Gelegenheit gehabt haben, an
der Sanktionirung bestimmter, eine Kollektivschuld begründender
Einrichtungen und Gebräuche Theil zu nehmen, werden von derselben
gar nicht betroffen. Die Raten, in welchen sie sich auf ihre aktuellen
Träger vertheilt, sind genauer zu bemessen nach dem Grade von
Macht und Einfluss, welchen der Einzelne besitzt, um auf die Ver-
änderung und Besserung der Einrichtungen und Gebräuche hin-
zuwirken; nur insoweit kann er mitschuldig an denselben genannt
werden, als er die Schlechtigkeit derselben erkannt und dennoch die
sich ihm darbietende Gelegenheit zur Besserung derselben unbenutzt
gelassen hat. Ein Sturmlaufen gegen befestigte Mächte ohne einen
der dabei aufgewandten Kraft entsprechenden nützlichen Erfolg wäre
eine Vergeudung von sittlicher Energie, welche an anderer Stelle weit
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1. Die religiöse Anthropologie. 209
grösseren Gewinn bringen konnte, und insofern unsittlich. Wo aber
wirklich im Kleinen oder Grossen die Gelegenheit sich darbietet, um
an die ftir schlecht erkannten Zustande die bessernde Hand anzulegen,
da soll und kaim auch die sittUche Energie des Menschen ausreichen,
um auch in social-ethischer Hinsicht seine individual-ethische Pflicht
nicht unerfttllt zu lassen ; da triflft den Trägen oder Feigen mit Becht
ein Vorwurf ftkr schuldvolle Versäumniss.
So ist beides gleich wahr: einerseits ist der Mensch von Natur
böse und rmgsum von der objektiven Macht des Bösen umgeben;
andererseits ist sein Kampf gegen das Böse so lange nicht aussichts-
los, als er nicht durch Krankheit seiner Menschheit verlustig gegangen
ist, und ist so lange auch seine sittliche Verantwortlichkeit ausser
Zweifel. Das GefQhl der Verantwortlichkeit ist im Becht für jede
einzelne That, wenn auch das Böse Überhaupt für den Menschen nicht
schlechthin zu vermeiden ist. Nicht far seine böse Natur und nicht
för den natürlichen Einfluss der objektiven Macht des Bösen auf ihn
ist der Mensch verantwortlich, wohl aber dafür, dass er in jedem
einzelnen Falle nicht energisch genug den Kampf gegen das Böse
geführt hat, von dem er niemals wissen kann, ob er nicht doch mit
den ihm zu Gebote stehenden Kräften zum Siege geführt hätte. So
tritt auch das Schuldgefühl in sein Becht, welches sich aus dem
aktuell Bösen und dem Gefühl der Verantwortlichkeit far dasselbe
zusanmiensetzt.
Seine böse Natur empfindet der Mensch nur als ein Uebel, aber
als ein Uebel, das insofern mit dem Schuldgefühl in unmittelbarer
Beziehung steht, als es geeignet ist, das Verstricken in Schuld zu
begünstigen und die eventuelle Schuld um so schwerer zu machen;
dagegen das empfindet der Mensch als Schuld, dass er seine Willens-
entscheidung zu einseitig von seiner subjektiven bösen Anlage und
der objektiven Macht des Bösen hat bestimmen lassen, anstatt beide
durch Vorhaltung von Motiven zum Guten vor den Willen zum Guten
zu bekämpfen und zu besiegen. Nicht in allen Fällen kann der Sieg
dem Menschen gelingen; aber er kann nicht wissen, welche Fälle
dies waren, und muss deshalb jeden einzelnen Fall als einen solchen
betrachten, in welchem die Mögüchkeit des Sieges nicht ausgeschlossen
war. Nur der psychologische Determinismus ermöglicht so die Ver-
antwortlichkeit wie das Böse und die Vereinbarkeit einer individuellen
Verantwortlichkeit für die einzelne That mit der Unvermeidlichkeit
▼. Hartmann, Die Beligion des OeiBtes. 14
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210 B. n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
*
des Bösen im Allgemeinen. Darum ist der psychologische Determinis-^
mus im Gegensatz zu Fatalismus und Indeterminismus ein Postulat
des religiösen Bewusstseins, weil er condiHo sine qm ndn ist för
diejenigen Forderungen des religiösen Bewusstseins, welche wie die All-
gemeinheit des Bösen und das wahrhafte persönliche Schuldgefühl
als Grundlagen der allgemeinen menschlichen Erlösungsbedftrfögkeit
gelten müssen.
Zugleich haben wir das andere Ergebniss festzuhalten, dass der
Mensch gar nicht erlösungsbedürftig wäre, wenn er bloss böse und
nichts als böse, also wenn er bloss, natürlicher Mensch wäre, denn
dann fehlte ihm die Verantwortlichkeit, ohne welche das Böse kein
Schuldgefühl und kein Bedürfniss nach Erlösung von der Schuld als
solchen hervorrufen kann; nur weil der Mensch mehr ist, als die
unwirkliche und in ihrer Isolirung unmögliche Abstraktion des bloss
natürlichen Menschen besagt, nur darum ist er einer Erlösung ebenso
bedürftig wie fähig. Dass die Erlösungsbedürftigkeit nur in einem
erlösungsfähigen Subjekt auftauchen kann, ist eigenthcfa ebenso selbst-
verständlich, wie dass der bloss natürliche Mensch nicht erlösungs-
fähig ist; darin liegt aber schon, dass das religiöse Subjekt niemals
der bloss natürliche Mensch sein kann, sondern der Mensch als Ein-
heit des natürlichen Menschen mit dem übernatürlichen sittliehen
Willen. Dieser gute Wille oder die ethische Gesinnung bildet somit
den letzten Ausgangspunkt sowohl der Erlösungsbedürftigkeit wie der
Erlösungsfähigkeit und deshalb kommt alles darauf an, über ihn und
sein Yerhältniss zum natürlichen in^s Klare zu gelangen.
b) Der Mensch, als erlösungsfäliiger.
Dass der sittliche Wille nicht ein Produkt des natürlichen Men-
schen sein kann, ist klar; denn der natürliche Mensch als solcher
kann bewusster oder unbewusster Weise nur aus dem Princip des
eudämonistischen Egoismus heraus seinen Willen determiniren, und
diese Determination kann niemals zu Resultaten fuhren, welche das
Gegentheil ihres genetischen Princips darstellen und dasselbe be-
kämpfen und überwinden. Wer da glaubt, dass die Selbstsucht in
ihren Eonsequenzen jemals aus sich die ethische Gesinnung gebären
könne, der weiss eben noch nicht, was ethische Gesinnung ist, näm-
lich Selbstverleugnung und Unterordnung der subjektiven Zwecke
unter die objektiven, und zwar nicht etwa bloss eine vorläufige und
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1. Die religiofio Anthropologie. 211
Zj^Jiweilige Unterordnung in der Hoffnung auf spftteren desto grösseren
persönlichen Yortbeilf sondern eine dauernde und endgiltige Ab-
dankung des Egoismus zu Gunsten der objektiven Zwecke der sitt-
liclien Weltordnung. Auch nicht den kleinsten socialen Instinkt
vermag der Egoismus zu erzeugen, weil er sich doch nicht selber
prallen kann ; sondern er wird geprellt durch die seiner vermeintlichen
Selbstdetermination inmianente objektive Vernunft, in Folge deren
aus seinem subjektiv unvernünftigen und sich bloss fdr vernünftig
haltenden Thon eine objektiv vernünftige Leistung herauskommt.
Dies gilt für die über den Selbsterhaltungszweck hinausgehenden
Instinkte der niederen und höheren Thiere grade ebenso gut, wie für
die moralisohen Instinkte des Menschen ; dass es moralische Instinkte
giebt, d. h. Instinkte mit egoistisch unzweckmässigen, aber olQektiv
zweckmässigen Folgen für die Menschheit, das ist eben schon ein
Beweis dafür, dass in der Genesis der menschlichen Instinkte nicht
btloss die Natürlichkeit des Befriedigung suchenden Eigenwillens,
sondern eine übernatürliche Teleologie wirksam gewesen ist, dass
schon im Naturprocess sich die immanente sittliche Weltordnung,
wenn auch nur vorbereitend, bethätigt.
So lange der naive Egoismus mit den moralischen Instinkten
ebenso wie mit dwi bösen Trieben im eudämonistischen Sinne operirt,
so lange ist von bewusster Sittlichkeit noch keine Bede; diese erwacht
erst da, wo der Mensch ein sittliches Bewusstsein gewinnt, d. h. aus
seinen moralischen Instinkten Segeln des Verhaltens abstrahirt und
diese dem egoistischen Interesse gegenüber stellt. Nicht das ist ein
sittlicher WiUe, wenn man barmherzig ist, weil man nun einmal den
moralischen Instinkt des Mitleids hat und dieser Trieb auf ein ge-
eignetes Motiv zufallig rea^, sondern wenn man es für sittlich hält,
barmherzig zu sein, und nun seinem Triebe mit dem Bewusstsein
folgt, nicht seines Behagens wegen, sondern um der guten That
willen Barmherzigkeit zu üben. Wo das Gute nur gethan wird, weil
es dem Egoismus zufällig passt, da ist von einem sittlichen Willen,
von eiu&i ethischen Gesinnung, auf welche die Verantwortlichkeit sich
stützen könnte, noch keine Bede, sondern nur da, wo die guten Be-
gehrungen rein um des Guten willen, d. h. weil es für sittlich gut
gehalten wird, vom bewussten Willen gebilligt, zugelassen und unter-
stützt werden. Diesen guten Willen aber kann der Egoismus nie
produciren, eben weil er der diametrale Gegensatz seiner selbst ist.
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212 B. n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
Der natürliche Mensch kann schlechterdings über die Elugheits-
Pseudomoral (oder ihre ümkehrong in Askese) nicht hinaus und der
sittliche Wille mnss deshalb nothwendig anders^roher stammen als
aus dem natürlichen Menschen.
Der sittliche Wille ist als aktueller immer nur soweit Torhanden,
als das sittliche Bewusstsein bereits erwacht und entwickelt ist; deAU
der sittliche Wille ist derjenige, welcher daa Oute will aus keinem
andern Grunde, als weil es das Oute ist. Um etwas mn des Guten
willen wollen zu können, muss man zunächst eine VorsteUung davon
haben, dass dies das Gute und nicht sein Gegentheil sei; dieses Be-
wusstsein von dem, was gut ist im sittlichen Sinne, kann aber wiederum
nur durch die Vorstellung des Gegentheils, des BOs^, gewecht weorden.
Erst thut man das Böse, natürlich ohne VerantwortlichkeitT weil man
noch nicht weiss, dass es das Böse ist; und erst an der Betrachtung
des Bösen und seiner Folgen geht das Verstandniss auf, dass dies
das Böse ist, dass es nicht hätte sein sollen, dass es hinfort nicht
wieder sein soll, sondern sein Gegentheil sein soll. Natürlich braucht
man nicht jede einzelne Art von bösen Handlungen arst selbst zu
begehen, bevor man sie als böse erkennt: es kann auch die von der
Phantasie lebhaft ausgemalte Vorstellung, dass man die That schon
gethan habe, genügen, um einem klar werden zu lassen, me einem
dann zu Muthe sein würde. Diese anticipirende Einsieht in die
Natur des Bösen wird besonders dann erleichtert, wenn man vorher
selbst schon zum Objekt ähnlicher Handlungen Anderer geworden ist
und ihre unangenehmen Folgen an sich selbst erprobt hat; aber, die
Beobachtung an Anderen genügt für sich allein nicht, um das Ge-
wissen zu wecken, es gehört dazu immer die Vorstellung wie einem
selbst zu Muthe sein wilrde, wenn man der Thftter wäre; Zu dieser
Erwägung aber würde der Mensch niemals gelangen, wenn er nicht
zunächst selbst auch irgend welche böse Handlungen vollbracht und
zwar wiederholentlich vollbracht hätte. Denn die erste böse That
kann wohl das sittliche Bewusstsein in Bezug auf die Erkenntniss
des Bösen (und Guten), aber nicht in Bezug auf das Schuldgefühl
wecken, weil ihr eben noch die Verantwortlichkeit fehlt ; es muss also
zunächst durch eigene Erfahrung die sittliche Autonomie geweckt
und dann durch eine neue Erfahrung von einer dem sittliefaen Gesetz
widersprechenden Handlung das Schuldgefühl geweckt sein. Dann
erst ist das sittliche Geistesleben seiner wesentlichen Momente soweit
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1. Die religiöse Anthropologie. 213
maebtig geworden, dass bei besonders günstig veranlagten Naturen
möglicher Weise die lebhatte Vorstellung von dem Zustande nach
eventuell vollbrachter That die wirkliche Erfahrung von diesem Zu-
stande ersetzen kann.
Selbstverständlich ist diese Möglichkeit auch nur ein Ideal des
Menschen, das nirgends in der Wirklichkeit erreicht ist, da alle
Mensehwi von Zeit zu Zeit wieder in leichtere oder schwerere Schuld
vafallen und durch die Erfahrung des Bösen zu neuem Kampfe
gegen dasselbe aufgestachelt werden müssen; es ist aber wichtig zu
konstatiren, dass selbst das blosse Ideal des Menschen als ein min-
destens zweimal durch die eigene böse That hindurchgehendes gedacht
werden muss, um zunächst die zur Weckung der sittlichen Kräfte
notiiwendigen Erfahrungen* zu sammeln. Das Böse gehört eben nicht
bloss als potentielles, sondern auch als aktuelles zur menschlichen
Natur, freÜLch nicht als etwas, das aktuell zu bleiben bestimmt ist,
sondern als ein unentbehrlicher Durchgangspunkt zur Entfaltung des
aktuellen sittlichen Willens; es ist also im Menschen nicht bloss
eine Frädisposition, sondern wirklich eine Prädetermination zum Bösen
vorhanden. Nicht einige Menschen sind zum Bösen und andere zum
Guten prädestinirt, sondern alle Menschen sind sowohl zum aktuellen
Bösen als zu dessen Ueberwindung prädeterminirt; in welchem Maasse
er zum einen und zum andern prädeterminirt sei, kann kein Mensch
a priori wissen, sondern nur durch sein Leben selbst erfahren. Da
er es a priori nicht weiss, so muss er sich nach stattgehabtem Er-
wachen seines religiös-sittlichen Bewusstseins so zu benehmen suchen,
als ob das Böse, an welchem sein religiös-sittliches Bewusstsein er-
wacht ist, das einzige aktuelle Böse war, das für ihn nöthig war, und
als ob seine Fähigkeit zur Ueberwindung des Bösen fortan ausreichen
müsse, um kein aktuelles Böses mehr in ihm aufkommen zu lassen.
Zugleich ist zu konstatiren, dass der sittliche Wille vor der
Aktualität des Bösen nur als potentieller vorhanden sein kann, in
demselben Sinne, wie auch die bösen Triebe und der radikal böse
egoistische Eigenwille vor der Aktualität des Bösen nur potentiell
vorhanden sind. Jenseits der Aktualität des Bösen liegt sowohl im
Leben des Einzelnen wie in dem der Menschheit ein Zustand sittlicher
Indififerenz, der die embryonalen Keime zwar des Bösen und Guten,
aber als Aktuelles weder das Böse noch das Gute enthält. Man be-
zeichnet diesen Zustand als den der Unschuld nach dem Merkmal,
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214 B. n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
dass ihm das aktuelle Böse fehlt; man darf aber dabei nicht ver-
gessen, dass der Zustand der Unschuld das aktuelle Gute ebensowenig
aufzuweisen hat wie das aktuelle Böse; insoweit der Mensch noch
unschuldig ist, insoweit ist sein sittliches Bewusstsein noch nicht
geweckt, insoweit ist er also noch nicht zu bewusster Sittlichkeit
vorgedrungen, ist sein sittlicher Wille noch unentwickelt, und können
seine etwaigen Handlungen nur unabsichtlich mit der sittlichen Welt-
ordnung übereinstimmen. Wegen seiner Freiheit vom aktuell Bösen
erscheint die Unschuld als das Bessere gegenüber dem Zustande der
Schuld; aber sie erscheint doch nur so, wenn man diese Phasen aus
dem Zusammenhang der geistig-sittlichen Entwickelung herausreisst
und in unwahrer Isolirung betrachtet. In Wahrheit ist die Schuld
das Höhere der Unschuld, weil sie näher 'zur Tugend ist, weil erst
aus der Schuld das Erlösungsbedürfniss erwächst, das den Menschen
zum Suchen und Finden der Erlösung und Heiligung filhig macht.
Darum ist der Zustand der Indifferenz ebenso unheilig wie unschuldig
und jedenfalls ausser Stande, zum Verständniss des Verhältnisses
zwischen der bösen Naturanlage und sittlichen Geistesanlage des
Menschen irgend etwas beizutragen; aus dem potentiellen Neben-
einanderliegen der Keime lässt sich dieses Verhältniss weit weniger
erkennen als aus dem aktuellen Nebeneinanderbestehen der entwickelten
Anlagen. Auf das letztere sehen wir uns daher zurückgewiesen, nach-
dem der Versuch, durch Zurückgreifen auf den vor der Aktualität des
Bösen liegenden Zustand für dieses Problem ein bloss negatives Er-
gebniss geliefert hat.
Wenn der Einzelne auch im Stande der Unschuld schon Anlagen
zum Guten besitzt, so muss er dieselben eben daher erhalten haben,
woher er auch die Anlagen zum Bösen erhielt, nämlich von seinen
Vorfahren; diese aber haben dieselben theils ebenfalls ererbt, theils
durch ihr eigenes geistiges Leben entwickelt Die Menschheit als
solche kann keine anderen Anlagen zum Bösen oder Guten auf die
Welt mitgebracht haben, als die sie von ihren thierischen Vorfahren
überkommen, und diese haben sie selbst wieder in ihrem psychischen
Lebensprocess hervorgebracht und im Laufe der Generationen aus-
gebildet. Immer weist also die Anlage, welche die Aktualität des
sittlichen Willens erleichtem und begünstigen soll, auf einen firüheren
Lebensprocess derselben Art als auf ihren Ursprung zurück ; auf einem
bestimmten Punkte der Entwickelungsreihe ist sie unentbehrlich, um
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1. Die religiöse Anthropologie. 215
die gesetzmässige psychologische Entstehung eines sittlich guten
Willens von solchem Grade und solcher Beschaffenheit erklärlich zu
machen, ab^r im Ganzen genommen ist es lediglich eine nichtssagende
Verschiebung des Problems, wenn man den sittlichen Willen* aus der
sittlichen Anlage zu erklären vermeint, während doch die sittlichen
Anlagen der lebenden Generation nur der objektivirte Niederschlag
der sittlichen und der die Sittlichkeit unbewusst vorbereitenden
Willensakte aller vergangenen menschlichen und thierischen Genera*
tionen sind.
Gerade die Entwicklung der primitivsten- sittlichen Anlagen aus
psychischen Aktionen, die zwar unbewusst dem Egoismus zuwider-
laufen, aber dem Bewusstsein als blosse Ausflüsse des Egoismus er-
scheinen, d. h. die Entwickelung der socialen Instinkte, welche nach
dem Erwachen des sittlichen Bewusstseins sich als moralische Instinkte
darstellen, gerade diese unbewusste teleologische Vorbereitung des
sittlichen Willens kann uns die richtige Fährte zur Lösung des
Problems weisen. Aus den unbewusst entwickelten socialen Instinkten
zieht die unbewusst-vemünftige Reflexion des Menschen ein unbewusst
vernünftiges Facit und präsentirt dieses dem Bewusstsein als morar
lisches Postulat, dem der Egoismus sich zu beugen hat ; die unbewusst-
vernünftige Eeflexion über die Pöstulate der moralischen Instinkte
erhebt sich bei fortschreitender geistiger Entwickelung allmählich zum
Bewusstsein ihrer selbst, und die Vemünftigkeit der moralischen In-
stinkte wird nun selbst zu ihrer Legitimation, beziehungsweise zum
Prüfstein ihrer moralischen Stichhaltigkeit und Tragweite. So tritt
die Vernunftmoral principiell an die Stelle der Gefühlsmoral und
macht diese zu ihrer dienenden Magd in der Ausführung ihrer Ab-
sichten. Noch bildet dabei die Vernünftigkeit sich ein, subjektive
individuelle Vemünftigkeit zu sein, weil sie in dem subjektiven in-
dividuellen Bewusstsein sich abspielt; endlich aber muss sie sich zu
der Einsicht erheben, dass sie gerade insoweit, als sie vernünftig ist,
auch nicht subjektiv und individuell, sondern objektiv und uni-
versell ist.
Ihre Objektivität und Universalität erweist sie eben damit, dass
sie objektive Zwecke postulirt, während das in seiner Subjektivität
befangene Individuum nur subjektive Zwecke setzen kann; indem sie
sich als die in's Bewusstsein hineinscheinende oder dem Bewusstseiu
aufgehende objektive unbewusste Vernunft begreift, erkennt sie sich
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216 B. U. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
als die wahrhaft universelle unbewusste Yemunft, die der Welt des
Daseins wie des Bewusstseins als objelttiver Zweck unmanent ist, oder
als die immanente teleologische Weltordnung, welche sich in der
Gesammtheit der existirenden Individuen verwirklicht, oder als die
absolute sittliche Weltordnung, welche wie im Dasein als objektive,
so im Bewusstsein als subjektive sittliche Weltorduung zur £jrsohei*
nung konmit Sie ist es, welche die organischen Processe so l^tet,
dass ein psychisches Leben höherer Art aus ihnen erwächst, sie,
welche die psychischen Lebensprocesse so leitet, dass sociale Instinkte
aus ihnen hervorgehen, sie endlich, welche das geistige Leben der
Menschheit so leitet, dass aus den socialen Instinkten der sittliche
Wille sich entwickelt. In diesem letzten Ergebniss springt sie im
Lichte des Bewusstseins als dasselbe hervor, was sie unbewusst von
Beginn des Processes an war, nämlich als sittliche Weltordnung, die
die den idealen Inhalt eines sie realisirenden Willens bildet. .
Den sittlichen Willen oder die ethische Gesinnung aennt das
religiöse Bewusstsein Glauben, speciell praktischen Glauben; die sitt-
liche Weltordnung in ihrer Immanenz im individueUen Geiste nennt
es Gnade, speciell Heiligungsgnade, und wie wir hier so eben die
Identität des sittlichen Willens mit der dem Menschen imnoanenten
objektiven Vernunft der sittlichen Weltordnung erkannt haben, so weiss
das religiöse Bewusstsein den Glauben mit der Gnade, speciell den
praktischen Glauben mit der Heiligungsgnade identisch. Hatten wir
oben den Besitz eines sittlichen Willens als die unentbehrliche Grund^
Position für eine sittliche Freiheit erkannt, so zeigt sich nunn^obr,
dass die Freiheit des Menschen ganz allein auf der Gnade basirt,
und dass ihr Entwickelungsgrad abhängig ist von dem Entwiokelungs-
grad der Gnade im Menschen. Hatten wir femer den Besitz eines
sittlichen Willens als unerlässliche Bedingung der Erlösungsbedürftig-
keit und Erlösungsfähigkeit begriffen, so stellt sich nunmehr, wo wir
uns auf die Identität der ethischen Gesinnung mit der Gnade besonnen
haben, die Einwohnung der Gnade im Menschen selbst als conditio
sine qua non der Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungsfähigkeit dar;
der natürliche, der Gnade ermangelnde Mensch ist weder erlösungs-
bedürftig noch erlösungsfähig, freilich kann es auch einen solchen
gar nicht geben, da der Mensch erst durch die Immanenz der unbe-
wussten teleologischen Yemunft zum Menschen wird. So gewiss
jeder Mensch zum Bösen nicht bloss prädisponirt, sondern auch
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1. Die religiöse Anthropologie. 217
prädetenuinitt ist, so gewiss ist auch jeder zum Guten nicht bloss
prädisponift, sondern prädeterminirt ; hier wie dort fragt es sich nur,
in welchem absoluten xmd relativen Maasse. So gewiss der natür-
liche Mensch eine existenzunfähige Abstraktion ist, so gewiss gehört
jeder wirkliche Mensch in höherem oder geringerem Grade zu den
Begnadeten; so gewiss es keinen schlechthin Verworfenen giebt, so
gewiss keinen schlechthin Erwählten, denn auch der Verworfenste
trägt die Gnade in gewissem Grade in sich und auch der Begnadeste
ist nicht vom aktuellen Bösen eximirt.
Jedem Menschen als solchen ist also die Gnade immanent, nur
nicht jedem auf bewusste Weise ; wo das sittliche Bewusstsein noch
nicht erwacht und ein aktueller sittlicher Wille noch nicht entwickelt
ist, da ist die Gnade erst als vorbereitende Gnade thätig,. als welche
sie auch in der Ausbildung der socialen Instinkte in den Thieren
anerkannt werden muss. In den vererbten sittlichen Anlagen hat die
Gnade sich Hilfsmechanismen von höherem oder geringerem Werthe
geschaffen, deren Besitz erst die Aktualität eines höheren Grades der
Gnade im Menschen psychologisch ermöglicht; die Verleihung solcher
physiologisch aufgespeicherten Erbgnade ist daher selbst schon als
eine Gnade zu bezeichnen, und als eine um so höhere Gnade, je voll-
kommener die betreffenden Anlagen sind. Aber diese Anlagen wären
werthlos, wenn nicht die aktuelle Gnade hinzuträte, um sie zu ent-
falten und fortzubilden; sie allein könnten sich gar nicht von selbst
zur Aktualität entwickeln, wenn nicht die objektive Vernunft als
Gnade dem menschlichen Geistesleben immanent wäre. Die Erbgnade,
oder die ererbte psychophysische Anlage zur Au&ahme der aktuellen
Gnade, und die aktuelle Gnade selbst sind also beides gleich unent-
behrliche Bestandtheile zur Entfaltung einer ethischen Gesinnung;
erst in der Einheit dieser beiden Seiten wird man die volle dem
Menschen innewohnende Gnade im weiteren Sinne sehen dürfen, ohne
zu vergessen, dass die Erbgnade jeder Generation nur der Nieder-
schlag der aktuellen Gnade aller vorhergehenden Generationen ist,
und doch nur dazu dient, das Auftreten der aktuellen Gnade in
höherem Grade und in durchgebildeterer Bewusstseinsform psycho-
logisch zu ermöglichen. Darum wäre es unzulässig, alle Gnade auf
Erbgnade, d. h. auf angeborene Dispositionen zurückführen zu wollen,
welche etwa durch ein Wunder bei der Zeugung oder Geburt dem
Menschen anerschaffen wären; die Anlage kann die Funktion nur
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218 B- II- Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
erleichtern, aber nicht ersetzen, und ist selbst nur das Produkt aller
die jeweilig bestehenden Anlagen überschreitenden Funktionen. In
jedem besonderen Falle, wo die aktuelle Gnade das in der Erbgaade
prädisponirte Maass qualitativ oder intensiv übersteigt, hat maa in
diesem TJ^erschuss eine • Entfaltung vorbewusster gottmenschlichex
Funktionen zu erkennen, die nach ihrer göttlichen Seite Gnade, nach
ihrer menschlichen Seite unbewusster religiöser Trieb zu nennen sind;
die religiöse Anlage des Menschen setzt sich darum selbst schon aus
den physiologischen Prädispositionen der Erbgnade und aus dem m-
bewussten religiösen Trieb zusammen, welcher gerade die Triebkraft
in der Ausbildung und Fortbildung jener Prädispositionen darstellt.
Nur als aktuelle Gnade, aber auf Basis der Erbgnade, ist die Gnade
identisch mit der ethuschen Gesinnung des Menschen; so aber ist sie
ein wesentliches konsütuirendes Element des Menschen, ohne welches
derselbe nicht sittliche PersönUchkeit, also nicht Mensch sein könnte.
Für das religiöse Bewusstsein ist es selbstverständlich und bedarf
es keiner langen Erwägungen, dass die Gnade nicht bloss angeborene
Erbgnade sein kann, sondern wesentlich funktionelle Gnade sein muss,
weil es in der Gnade diejenige Funktion erkennt, mit welcher Gott
in das religiöse Verhältniss eintritt. Wäre dfe Gnade nicht göttliebe
Funktion, so wäre ja Gott kein lebendig gegenwärtiger fftr das reli-
giöse Bewusstsein, so würde nicht er selbst Objekt des religiösen
Verhältnisses sein, wenn die Erbgnade seine Stelle vertritt, sondern
eine mittelbare Wirkung längst vergangener Schöpferthätigkeit, wie
die ererbten, d. h. im Organismus wurzelnden Anlagen es sind.
Wollte das religiöse Bewusstsein die ererbten sittlichen Anlagen als
einzige Form auffassen, in welcher die Gnade in das menschliche
Geistesleben hineinreicht , und dennoch daran festhalten, dass das
religiöse Verhältniss Gott selbst, und nicht bloss eine mittelbare
Wirkung desselben zum Objekt habe, so wäre damit das reUgiöse
Verhältniss als reale Einheit von Gott und Mensch aufgehoben und
ein bloss ideales Verhältniss des menschlichen Bewusstseins zu seiner
Vorstellung von einem schlechthin transcendenten Gott an dessen
Stelle gesetzt. In beiden Fällen, gleichviel ob die Erbgnade selbst
zum Objekt des reli^ösen Verhältnisses, d. h. das Geschöpf zum
Schöpfer gemacht wird, oder ob an Stelle des realiter immanenten
Gottes die blosse Vorstellung von dem transcendenten Schöpfer der
Erbgnade tritt, in beiden Fällen wird das religiöse Bewusstsein seines
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1. Die religiöse Anthropologie. 219
wahren Inhaltes beraubt nnd sein tiefstes Bedürfoiss, die Sehnsucht
nach realer Einheit mit Gott selbst, als eine unerfüllbare lUusion bei
Seite geschoben; das seiner selbst gewisse religiöse Bewusstsein lässt
sich aber solchen Raub nicht gefallen, sondern verharrt gebieterisch
bei dem Postulat, dass die im menschlichen Geistesleben erfahrene
Onade, wenn auch auf ererbte Dispositionen gestützt, doch wesentlich
unmittelbare Funktion Gottes sei, ohne dass sie darum aufhöre,
specifisch menschliche Geistesfunktion und als solche konstituirendes
Element der geistig-sittlichen Persönlichkeit des Menschen zu sein.
Hiermit ist ein neues Problem gegeben, welches sich den vorher-
behandelten beiden Problemen der religiösen Anthropologie (der Ver-
dnbarkeit des Bösen mit der Absolutheit Gottes und der Verant-
worthchkeit mit der Allgemeinheit des Bösen) als drittes anreiht.
Wie kann eine Punktion des menschlichen Geistes Punktion Gottes
sein, ohne dass der Mensch zum Gott und das religiöse Verhältniss
ein Verhältniss des Menschen zu si^h selbst wird? Wie kann eine
unmittelbare Funktion Gottes konstituirendes Element der mensch-
lichen Persönlichkeit sein, ohne deren individuelle Selbstthätigkeit und
Selbstbestimmung zu einem blossen Schein zu verflüchtigen? Sind
göttliche und menschliche Funktion identisch, so müssen auch ihre
Subjekte identisch sein, d. h. es wird dann entweder der Begriff
Gottes in dem des Menschen oder der des Menschen in dem Gottes
aufgehoben, entweder der Mensch vergottet oder in Gott annihilhrt,
in beiden Fällen aber das religiöse Verhältniss aufgehoben, oder doch
für eine psychologische Blusion erklärt. Die metaphysischen Voraus-
setzungen, unter welchen allein diese Schwierigkeiten lösbar sind,
werden in demselben Sinne als Postulate des religiösen Bewusstseins
zu bezeichnen sein, wie diejenigen, unter welchen allein die beiden
vorhergehenden Probleriie ohne Widerspruch lösbar waren.
Auf den individualistischen Pluralismus, gleichviel ob auf mate-
rialistischer oder monadologisch-spiritualistischer Basis, brauchen wir
hierbei keine Rucksicht zu nehmen, weil der Begriff der Gnade über-
haupt keinen Sinn hat, wo es keinen Gott giebt, von dem sie aus-
gehen kann. Ebenso kann der Theismus in seiner gewöhnlichen Form,
wonach die Gnade eine bloss göttliche, nicht zugleich menschliche
Punktion ist und den Menschen als ein von aussen kommendes
Dämonisches in Besitz nimmt, nach den früheren Eröterungen hier
nicht mehr in Betracht kommen; von diesem Standpunkt bleibt es
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220 B. n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
schlechthin widerspruchsvoll, wie die Funktion der einen Persönlichkeit
von der geistigen Substanz der anderen assimiUrt werden solL Da-
gegen bleibt eine andere Form des Theismus zu betrachten, nach
welcher Gott die Menschen so zu sagen als potentielle Götter ge-
schaffen und zur Aktualisirung der ihnen von Anbeginn anerschafibnen
Gnade bestinmit habe, so dass in der That nicht mehr der in absoluter
Transcendenz verharrende Gott, sondern die als Gnade dein Menschen
inunanente Potenz der Vergottung als Objekt des religiösen Verhält-
nisses gilt. Diese Form des Theismus ist noch nicht durchgeführt,
würde aber unter Anlehnung an den naturalistischen Monismus der
ägyptischen Theosophie zur Geltung gelangen, wenn der moderne
Spiritismus es verstände, sich wirklich, wie er beabsichtigt, zur Beligion
zu entwickeln. Es ist leicht erkennbar, dass die Befriedigung, welche
das Verhältniss zu dem eigenen Ich dem religiösen Bewusstsein za
bieten vermag, ebensowenig ausreicht, wie die Vertröstung auf die
Zeit nach dem Tode, wo die hier vorhüllte Göttlichkeit des meüsch-
lichen Ich sich frei entfalten soll; als Surrogat des mangelnden reli-
giösen Verhältnisses zu Gott selbst schiebt sieh dann unvermeidlich
ein pseudoreligiöses Verhältniss zu den bereits Verstorbenen und
damit Vergotteten unter, und an Stelle der Gnade als unmittelbarer
Funktion des absoluten Gottes selbst tritt die mediumistische Inspiration
und Besessenheit durch die Verstorbenen. Damit ist dann der Kreiß-
lauf dieses Gedankenganges geschlossen, und die religiöse Unzuläng-
lichkeit des Verhältnisses zur eigenen, noch irdisch verschleierten
Göttlichkeit erwiesen durch die Eückkehr zu dem Gnadenwunder
magischer Hineinwirkungen in den Menschen von aussen; denn wenn
man doch die Gnade als magischen Wundereingriff nicht entJbebren
kann, ist es doch immer noch anständiger, sie auf einen kanscendenten
Gott, als auf Spuk-, Klopf- und Schutzgeister zu beziehen.
Ebenso wenig vermag der abstrakte Monismus das fragliche
Problem zu lösen. Wie im vorhergehenden Standpunkt wohl ein
geeignetes Subjekt für das religiöse Verhältniss besteht, aber kern
Objekt, das zu diesem Zwecke brauchbar wäre, so bleibt hier zwar ein
geeignetes religiöses Objekt bestehen, aber kein Subjekt mehr, das im
Stande wäre, ein reügiöses Verhältniss zu diesem Objekt anzuknüpfen.
Wie dort das Objekt in's Subjekt resorbirt wurde, so verschwindet
hier das Subjekt als blosser Schein im Objekt, dem abstrakt Einen
Absoluten, und selbst die Funktion als Aktualisirung des religiösen
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1. Die religiöse Anthropologie. 221
YaFhftltmsses h(Vrt auf, reale Funktion des in starrer Buhe verharren-
den Einen zu sein, und sinkt zu einem subjektiven Schein in dem
s^bst nur soheinbar existirenden Individualbewtisstsein herab. Im
gewöhnlichen Theismus sind zwar ein reales Subjekt und Objekt mit
beiderseits realen Funktionen gegeben, aber es kommt zu keiner wirk-
liehen Einheit beider einander gegenüberstehender Seiten; im ab-
strakten Monismus ist wohl die Einheit gewonnen, aber um den
Preis der Realität des Subjekts und der beiderseitigen Funktionen.
Der Buddhismus zeigt, wie mit der Vernichtung der Bealität des
Subjekts und der beiderseitigen Funktionen auch die Bealität des
reli^Qsen Objekts sich zum leeren Nichts verflüchtigt, so dass an
Stelle des vernichteten Brahma das religiöse Bewusstsein ein neues
religiöses Objekt postuliren muss, die nun allerdings haltlos in der
Luft schwebende sittliche Weltordnung.
jSoll das Problem überhaupt lösbar sein, so muss erstens Gottes
Funktion der Gaiade eine reale, also auch zeitliche Thätigkeit sein,
zweitens der Mensch ein real existirendes Individuum sein, drittens
dacf die göttUche Thätigkeit, soweit sie dieses Menschenindividuum
betrifft, nicht ausserhalb, sondern innerhalb der Gruppe von Aktionen
fallen, welche diese menschliche Individualexistenz konstituirt, und
die menschliche Thätigkeit darf nicht ausserhalb des universellen
Komplexes von Funktionen Gottes fallen, welche das existirende
Univer/5um konstituiren. Die göttliche Funktion der Gnade kann nur
dann kein Fremdling in der den Menschen konstituirenden Funktionen-
gruppe sötn, wenn diese ganze Gruppe einerseits aus lauter göttlichen
Funktionen besteht und andererseits eine so in sich geschlossene
Gruppe, eine Partialidee von relativer Eonstanz bildet, dass jede
innerhalb dieser Gruppe fallende göttliche Funktion ein wesentliches
Bestandstück, ein ideales Moment, ein gesetzmässiges Zubehör der-
selben bildet. Nur unter diesen Voraussetzungen ist jede gesetz-
massig aus der das Individuum bildenden Funktionengruppe hervor-
gehende Einzelfunktion wirklich ein Eigenthum dieses Individuums,
ohne dass seine ideale Untheilbarkeit zerstört und seine Individualität
aufgehoben würde, und in diesem Sinne eine Funktion dieses Indivi-
duums, gleichzeitig aber auch eine unmittelbare Funktion Gottes.
Als Träger der absoluten Idee können wir Gott das absolute
Subjekt, als Träger einer Partialidee aber das eingeschränkte Subjekt
nennen; als absolutes Subjekt ist Gott der Producent aller Willens-
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222 ß* n. Die Meiaphysik des religiösen Subjekts.
akte, d. h. des ümversamB, als eingesohräiiktes Subjekt der Piodueent
der Willensakte, welche ein bestimmtes Individunm konstitaii;en. Als
absolutes Subjekt ist Gott das Wesen, das der universellen Eisschei-
nung, d. h. der phftnomaialeB Welt, zu Grunde liegt; als ein-
geschränktes Subjekt ist er das Wesen, das der indlnduellen Er-
scheinung zu Grunde liegt Ohne ein ihr zu Gnmd6 liegendes Wesen
könnte die individuelle Erschehiung nicht real existirende Erscheiamig
sein, sondern wäre blosser Schein; ohne ein sie producirendes und
tragendes Subjekt Würden die die individuelle Existenz konstitnirenden
Funktionen haltlos in der Luft schweben. Das Wesen, das jeder
einzelnen Individualeracheinung zu Grande liegt, muss dasselbe sein,
welches der ganzen Welt zu Grunde liegt, und das Subjekt, welches
die Funktionen dieses Individuums pioducirt, muss dasselbe seht,
welches die Funktionen der ganzen Welt producirt, andernfalls könnte
Gott nicht dem Menschen immanent, und die den Menschen bildenden
Funktionengmppe nicht von dem Inhalt des gottüdb^ Willens als sein
Theilinhalt mit befasst sein. Insofern das abMnte Subjekt Subjekt
dieser beschränkten Funktionengruppe ist, müssen wir es indimdpell
• eingeschränktes Subjekt nennen. Dies ist natürüdh eine blosse» be^
grifSiche Abstraktion, da das eingeschränkte Sul]^kt eben doch nur
das absolute Subjekt selbst ist, sofern esProducent und Träger dieser
individuellen Funkttonengruppen ist, aber diese begrif&iche Unter-
scheidung ist praktisch werthvoU, weil die individuellen Funktionen-
gruppen, welche doch ohne Beziehung auf ihr tragendes Subjekt
nichts wären, gegen einander in reale Konflikte geratheu. Vom
Gesichtspunkt Gt)ttes aus betrachtet, ^d dies nicht Konflikte des
absoluten Subjekts nut sich selbst, überhaupt nicht Konflikte ver-
schiedener Subjekte mit einander, sondern nur Konflikte verschie-
dener seiner Funktionengruppen mit einander; vom Gesichtspunkt
des Erscheinungsindividuums aus dagegen sind die Konflikte der
Individuen mit einander nicht bloss Konflikte von Funktionengruppen
mit einander, sondern von Subjekt getragenen FunktionengruppetB,
und dies drückt sich, wenn auch ungenau, so doch am kürzesten so
aus, dass es Konflikte eingeschränkter Subjekte mit einander sind.
Beal verschieden sind nur die Ersoheinungs-Individuen als die von
einem und demselben absoluten Subjekt getragenen relativ konstanten
Funktionengruppen; die eingeschränkten Subjekte dieser Individuen
sind dagegen nur ideell verschieden, weil sie nur begriffliche Ab-
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1. Die religiöse Anthropologie. 223
stiaktionen von dem überall identisclien absoluten Subjekt in Bezug
auf seine Bethätigimg in Terschiedeiien Funktionengrappen sind.
Dies ist der Standpunkt des konkreten Momsmus, der einzige,
der die Vereinbarkeit der gOtÜiehen Gnade mit der Bealität des
Mtoschen d[)enso wie die Vereinbarkeit der gM;tlichen Absolutheit mit
der Thatsaohe des BOsen erklärlich macht Darum ist in beiderlei
Hmsioht der konkrete Monismus Postulat des religiösen Bewusstseins.
Um die Losung des Problems durch den konkreten Monismus recht
zu Terstehen, nrass man sich immer gegenwärtig halten, dass die
Gnade und das Böse zwei durchaus parallele und analoge Probleme
st^en, die auch nur eine gemeinsame Lösung gestatten. Beim Bösen
fr^te es sich, wie der widergöttliche Eigenwille des Menschen im
absoluten Willen Gottes befasst sein könne; bei der Gnade fragt es
sich, wie der specifisoh göttliche Wille der Gnaide zum menschlichen
Individnalwillen als konstituirendes Element gehören könne.
Die Lösung beider Fragen ergiebt sich, wenn man erkennt, dass
der Inditidualwille eine relativ konstante Gruppe von Partialfunktionen
des absoluten Willens ist, in welcher drei Sphären zu uhterscheiden
sind: die natürhohe oder inhaltlich untergöttliche, die böse oder in-
haltlich widergöttliche und die sitthche oder inhaltlich gottgemässe.
Die natürliche Sphäre enthalt die Atomfunktionen in sich, aus denen
der Organismus entsteht, die biologischen Funktionen, welche die
teleologische Verwerthung der Atomfunktionen zum Aufbau von organi-
schen Individuen niederer und höherer Ordnung bestimmen, und die
psychologischen Funktionen, welche in diesen Individuen verschiedener
Ordnung ein Bewusstsein verschiedener Stufe konstituiren. Die böse
Sphäre enthält diejenigen Funktionen, welche, obzwar aus der natür-
lichen Sphäre gesetzmässig resultirend, doch vom teleologischen
Gesichtspunkt eines objektiven Zweckes höherer Ordnung nicht sein
sollende und darum zu überwindende sind. Die sittliche Sphäre
endlich enthält diejenigen Funktionen, welche nicht mehr im Dienste
der subjektiven Zwecke des betreffenden Individuums, sondern in
demjenigen von Zwecken höherer Ordnung stehen und zur TJeber-
windung der nichtseinsollenden Funktionen bestimmt sind.
Das Natürliche ist das der naturgesetzlichen Weltordnung Gemässe,
das als solches in seiner Allgemeinheit zwar auch zum Dienste der sitt-
lichen Weltordnung bestimmt ist, wovon man aber noch nicht wissen
kann, ob es im besonderen Falle der sittlichen Weltordnung uhmittel-
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224 S- n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
bare positive Förderung zuführen, oder ob es als negatives, zu übei*-
windendes Moment in dieselbe eingehen wird ; darum ist das Natür-
liche zwar göttlioh sowohl in formeller Hinsicht als eine vom absoluten
Subjekt producirte und getragene Funktion, als auch in inhaltlicher
Hinsicht als etwas, das als Basis der sittlichen Weltordnung un-
entbehrlich und darum von Gott gesetzt ist, aber es ist doch erst
mittelbares Werkzeug zur Verwirklichung der eigentlichen gOttUehen
Absichten und darum, wenn es in abstrakter Isolirung von seiner
indirekten teleologischen Bedeutung gefasst wird, untergöttlich.
Das Individualbewusstsein kann nun gar nicht umhin, im Dienste
des Indivividualwillens (d. h. des aus der Summe aller natürhcfaen
Faktoren der individuellen Funktionengruppe resultirenden Willens)
das Natürliche als* Mittel zu seinen subjektiven individuellen Zwecken
zu betrachten und zu verwenden, so lange von der Gnade (oder der
sittlichen Sphäre der individuellen Funktionengruppe) abgesehen wird,
weil so lange eben jeder höhere als der Individualzweck von der Be-
theiligung beim Zustandekommen des Willens der gemachten Voraus-
setzung gemäss ausgeschlossen ist; in Folge dessen trifft es seine
Entscheidungen ohne Bücksicht auf Zwecke, die über seinen in*-
dividuellen Horizont hinausgehen, so dass es vom Standpunkt des
Individuums aus dem Zufall überlassen bleibt, ob diese Entscheidungen
mit den Forderungen der höheren Zwecke harmoniren oder koUidiren.
Wo sie harmoniren, bleiben sie doch formell in der Sphäre des Natür-
lichen oder XJntergÖttlichen, weil die Harmonie bloss 2ußlllig, nicht
beabsichtigt ist ; wo sie koUidiren, bleiben sie ebenfalls in der Sphäre
des Natürlichen oder Untergöttlichen, sofern diese Kollision unbewusst
bleibt, treten aber in die Sphäre des Bösen oder Widergöttlichen ein,
sobald die Kollision durch aktuelle Funktionen aus der dritteb Sphäre
zum Bewusstsein gelangt.
Diese dritte Sphäre enthält nun diejenigen Funktionen, welche
im eminenten Sinne göttlich zu nennen sind, insofern sie das Wider-
göttliche überwinden, oder positiv göttlich genannt werden können,
weil sie das negativ Göttliche negiren; sie sind das relativ XJeber-
natürliche im Menschen, indem sie ihn über den bloss egoistischen
Horizont seiner Natürlichkeit erheben, obzwar sie zu der Natur des
Menschen im weiteren Sinne, d. h. der specifisch menschlichen
Wesensbeschafiienheit als integrirender Bestandtheil gehören; sie sind
die Vertreter des Supraindividuellen im Individuum, der Anwalt der
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i. Die religiöse Anthropologie. 225
objektiven Zwecke in der Subjektivität, und ihre erste Leistung ist
die, das Widergöttliche auch vor dem Bewusstsein als das wider-
göttliche Böse zu enthüllen und als das zu Negirende hinzustellen.
Nur in dieser dritten Sph&re manifestirt sich der göttliche Geist
unmittelbar als der den natürlichen Menschen heiligende Geist oder
als Geist der Heiligung, nur in ihr auch als Geist der Heiligkeit,
nämlich als immanentes Walten der absoluten sittlichen Weltordnung,
zu welcher die natürliche Weltordnung erst den Sockel oder Aufstieg
bildet. Darum waltet in dieser dritten Sphäre Gott recht eigentlich
als heiliger Geist, während in den Funktionen der beiden anderen
Sphären die Heiligkeit des göttlichen Geisteswaltens noch latent
bleibt und sein Heiligungswille erst vorbereitend wirkt. Sind sowohl
die Gnade als das Walten des heihgen Geistes auf die dritte Sphäre
beschränkt, so zeigt sich eben darin schon, dass beide identisch sind.
Hiernach ist das religiöse Bewusstsein in seinem vollen Becht,
wenn es die Gnade als die im eminenten Sinne göttliche Funktion
ansieht, unbeschadet der Thatsache, dass im weiteren Sinne alles,
was ist, formell ein von Gott Gesetztes und inhaltlich ein vom gött-
lichen Willensinhalt Umschlossenes und Befasstes ist; beides sind
Postulate des religiösen Bewusstseins und beides lässt sich nur ver-
einigen auf der Basis des konkreten Monismus, wo jede der beiden
Seiten des Gedankens in gleicher Weise zu ihrem Rechte gelangt
Gnade heissen nur die im eminenten Sinne göttlichen, oder positiv
göttlichen Funktionen in der obigen Bedeutung des Wortes, die
Funktionen der dritten Sphäre, welche zu denen des natürlichen
Menschen (d. h. denen der ersten und zweiten Sphäre) als etwas von
ihm Unverdientes hinzukommen ; nicht aber ist jede bloss natürliche
oder gar böse Funktion schon darum Gnade zu nennen, weil sie
formell von Gott gesetzt und inhaltlich im göttlichen .Willensinhalt
mitbefasst ist. Auch der Theismus muss, um dem religiösen Bewusst-
sein genugzuthun, behaupten, dass alle, auch die bloss natürlichen
und die bösen Funktionen der Kreatur formell Gottes Werke und
inhaltlich von seinem Willen mitbefasst seien, weil andernfalls Gottes
Absolutheit aufgehoben würde ; aber er kann dies eben bloss behaupten
und es mit seinen metaphysischen Grundansichten nicht ohne Wider-
spruch vereinbaren, hat also keinen Grund, dem konkreten Monismus
einen Vorwurf daraus zu machen, dass derselbe mit dieser vom
Theismus zugestandenen Behauptung Ernst macht, ohne darum -den
T. Hartmann, Die Beligion des Geistes. 15
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226 ^- ^- I^ie Metaphysik des religiösen Subjekts.
Unterschied zwischen natürlichen Funktionen und Gnadenfanktionen
Gottes zu verwischen.
Der konkrete Monismus lässt den Unterschied zwischen Gott und
Mensch in voller Deutlichkeit bestehen, aber er überspannt denselben
nicht wie der Theismus zu einem Gegensatz, welcher die Einheit
ausschliesst. Das religiöse Bewusstsein fordert beides, sowohl den
Unterschied als die Einheit; dem ersteren trägt der Theismus,
dem letzteren der abstrakte Monismus, beiden zugleich nur der
konkrete Monismus Rechnung. Gott ist absoluter Geist, der Mensch
ein beschränktes organisch-physisches Individuum; Gott ist das all-
umfassende Sein, der Mensch eine beschränkte, relativ konstante
Gruppe von Partialfunktionen des Absoluten. Indem diese Gruppe
eine ideal geschlossene Einheit, und eben dadurch eine reale Indivi-
dualität darstellt, trägt sie auch in sich die logische Nöthigung zur
gesetzmässigen Determination aller in ihren Funktionen vorkommen-
den Aenderungen mit Bezug auf die Aussenwelt, hat also gesetz-
mässige Selbstbestimmung nach logischer Nothwendigkeit, welche in
der Erscheinung sich als finale und als kausale Determination zugleich
darstellt. Dass diese individuelle Selbstbestimmung des Individuums
zugleich ein göttliches Determinirtsein ist, das lässt sich das religiöse
Bewusstsein nicht nehmen, und es hat ganz Eecht, weil die logische
Nothwendigkeit der Selbstdetermination zugleich eine göttliche Noth-
wendigkeit, oder weil die kausalen und teleologischen Gesetze der Ver-
änderung im Individuum zugleich göttliche Gesetze sind, und weil alle
Modifikationen der individuellen Funktionengruppe doch immer par-
tielle Modifikationen in der einheitlichen Totalität der absoluten Idee
bleiben. Die individuelle Selbstdetermination ist ein integrirender
Bestandtheil der absoluten Selbstdetermination; diese hebt jene nicht
auf, sondern entfaltet sich in der Sunmie von individuellen Selbst-
determinationen als in der inneren Mannichfaltigkeit ihres eigenen
Seins.
Der Mensch ist somit niemals im Stande, sich auf Grund des
konkreten Monismus mit Gott zu verwechseln oder selbst zum Gott
aufzubauschen. Erstens ist er nur ein winziger Theil der funktionellen
Manifestation Gottes, nicht die ganze; denn Gott manifestirt sich
in zahllosen anderen Individuen gleichzeitig wie in ihm, und der
Mensch wird doch nicht sich mit den anderen Individuen verwechseln.
Zweitens ist er als organisch -psychisches Individuum nicht Gott,
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1. t)ie religiöse Anthropologie. ^2?
sondern bloss eine objektive Erscheinung oder funktionelle Mani-
festation Gottes, die auf göttlichem Wesensgrunde als ihrem Träger
und Producenten ruht. Der erste Unterschied ist der quantitative
des beschrankten und des allumfassenden Daseins, Wissens und
Wirkens; der zweite ist der qualitative Unterschied, wie er zwischen
Erscheinung und Wesen besteht.
Das religiöse Bewusstsein muss daran festhalten, dass der Mensch
ebensowohl real sei gegen die Welt und seines gleichen, wie dass er
nichtig und wesenlos sei gegen Gott; ohne die Realität gegen die
übrigen Erscheinungsindividuen würde das Handeln gegen dieselben
zum blossen Schein und damit der Begriff des Bösen zur Illusion, —
ohne die Nichtigkeit und Wesenlosigkeit gegen Gott käme die Absolut-
heit und unendliche Erhabenheit des allein wahrhaft seienden Gottes
über den Menschen nicht zur vollen Geltung. Der Theismus betont die
Seite der Realität gegen die Aussenwelt, der abstrakte Monismus die
der Nichtigkeit gegen Gott ; der Theismus will zwar auch die letztere
Seite behaupten (man denke an die Vergleichung der Kreatur mit
rechtlosen Thongefässen, die der Töpfer zerschmeissen kann), vermag
es aber ebensowenig ohne Widerspruch mit seinem Princip, wie der
abstrakte Monismus die Realität des Bösen ohne Widerspruch auf-
recht zu erhalten im Stande ist. Nur der konkrete Monismus trägt
beiden Forderungen des religiösen Bewusstseins gleichermaassen und
vollständig Rechnung; denn nach ihm ist jedes Individuum als ob-
jektive Partialerscheinung Gottes wirklich und wesenhaft gegen die
andere, aber wirkungsunf&hig und wesenlos gegen das absolute Wesen,
das sie producirt und trägt. Auf dem Grunde des Wesens stehend
ist die Erscheinung etwas Existirendes, das zu seines gleichen in reale
Opposition treten kann ; losgelöst von dem Grunde des Wesens sinkt
die Erscheinung zum wesenlosen Schein herab. In Gott und mit
Gott weiss darum der Mensch sich stark und wirkungsfähig
gegen die Welt ; ohne Gott und gegen Gott, d. h. wenn er versuchen
woUte, sich von seinem Wesensgrunde loszureissen und sich zu ihm
in Opposition zu stellen, fühlt er mit Recht sich weniger als ein
Nichts.
Der ganzen unendlichen Weite dieses Unterschiedes gegenüber
hält das religiöse Bewusstsein um so brünstiger an der realen, nicht
bloss vorgestellten oder von der Zukunft erhofften, Einheit von Gott
und Mensch fest; denn ohne diese Einheit giebt es so wenig ein
15*
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i
228 B. n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
wahrhaftes religiöses Verhältniss und eine wahrhafte Erlösung wie
ohne den Unterschied. Wie der Unterschied die Voraussetzung der
Erlösungsbedürftigkeit ist, so die Einheit die Voraussetzung der Er-
lösungsfähigkeit ; ohne Unterschied ist alle individuelle Erlösung
überflüssig, ohne Einheit ist sie unmöglich. Der Theismus kennt die
Einheit nur als gemüthliche Vereinigung getrennter und getrennt
bleibender Persönlichkeiten, der abstrakte Monismus nur als Absorption
des illusorischen Individuums durch die abstrakte Einheit des Seienden;
bei dem ersteren kommt es zu keiner Identität * der göttlichen und
menschlichen Funktion, bei dem letzteren kommt es wohl zur Identität,
aber nicht zu wirklichen Funktionen, weder göttlichen noch mensch-
lichen. Nur der konkrete Monismus trägt sowohl der Realität der
Funktionen als ihrer Identität Rechnung, darum ist nur er im Stande,
dem religiösen Bewusstsein vollauf Genüge zu thun.
Nach dem konkreten Monismus sind Gott und Mensch nicht
wesensverschieden oder substantiell getrennt ; sondern dasselbe Wesen,
welches Gott ist, ist dasjenige, welches im Menschen erscheint, und
dieselbe Substanz, welche Gott ist, ist diejenige, welche dem existiren-
den Menschen subsistirt. Was in mir als Weseja subsistirt, ist das
absolute Subjekt, nur in seiner Beschränkung auf die meine organisch-
psychische Individualität konstituirenden Funktionen; in dieser ein-
geschränkten Beziehung nenne ich das absolute Subjekt das ein-
geschränkte Subjekt. Dieses eingeschränkte Subjekt ist dasjenige,
welches als transcendentes unbewusstes Subjekt meinem Dasein und
Bewusstsein zu Grunde liegt; es darf nicht mit dem erkenntniss-
theoretisch immanenten «transcendentalen Subjekt» verwechselt werden,
welches nur sein subjektiver Vorstellungsrepräsentant für mein Be-
wusstsein ist. Jenes transcendente Subjekt meiner Individualität ist
aber selbst identisch mit dem absoluten Subjekt, nur dass bei dem
ersteren von allen übrigen, d. h. meine Individualität nicht direkt
betreffenden Funktionen des letzteren abstrahirt wird. Nenne ich das
transcendente Subjekt meiner Individualität mein «Selbst», so kann
ich sagen, dass mein Selbst nicht mehr Ich (d. h. das ideale
Reflexionsprodukt des Selbstbewusstseinsaktes), sondern Gott sei, frei-
lich nicht Gott schlechthin, sondern Gott, sofern seine Funktionen
meine organisch-psychische Individualität konstituiren. Sofern ich Ich,
d. h. subjektive Erscheinung des Bewusstseins bin, bin ich also nichts
weniger als identisch mit Gott, wohl aber sofern diesem Ich recht-
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1. Die religiöse Anthropologie. 229
verstanden das iinbewusste transcendente Subjekt meiner organisch-
psychischen Individualität als transcendent-reales Korrelat korrespondirt
und zu Grunde liegt.
Diese Wesensidentität ist zweifellos die metaphysische Vor-
bedingung der funktionellen Identität von Gnade und Glaube; denn
wenn Gnade und Glaube Funktionen zweier wesensverschiedener Sub-
jekte wären, so könnten sie unmöglich als Funktionen identisch sein.
Sofern das dem Menschen als Erscheinungsindividuum zu Grunde
liegende transcendente Subjekt in seiner eingeschränkten Beziehung
zu der diesen Menschen konstituirenden Funktionengruppe betrachtet
wird, ist es das eingeschränkte Subj«ekt, welches auch der religiösen
Funktion des Menschen als Subjekt zu Grunde liegt, und insoweit heisst
diese Funktion Glaube; sofern dagegen auf die Identität des ein-
geschränkten Subjekts mit dem absoluten Subjekt, oder darauf reflektirt
wird, dass die Gruppe, zu welcher diese bestimmte religiöse Funktion
gehört, nur Partialfunktion des absoluten Subjekts als solchen ist, heisst
dieselbe Funktion Gnade. Wäre der sittliche Wille bloss Sphäre in der
menschlichen Fuuktionengruppe ohne zugleich Partialfunktion Gottes
zu sein, so wäre er nicht Gnade und ausser Stande, ein religiöses Ver-
hältniss zwischen Mensch und Gott zu aktualisiren. Wäre das ein-
geschränkte Subjekt nicht eine blosse relative Einschränkung des
absoluten Subjekts selbst, so wäre das religiöse Verhältniss nur ein
Verhältniss des Menschen zu sich selbst, d. h. eben kein Verhältniss,
sondern leere Identität, und sofern es doch als Verhältniss aufgefasst
würde, blosse Illusion. Wenn aber der oben entwickelte Unterschied
zwischen Gott und Mensch erkannt ist und festgehalten wird, so ist
das religiöse Verhältniss wirklich ein Verhältniss, nä.mlich zwischen
dem absoluten Subjekt als solchen und der auf ihm als ein-
geschränktem Subjekt ruhenden relativ konstanten Funktionengruppe,
welche das menschliche Individuum konstituirt, oder kürzer ein Ver-
hältniss zwischen Gott und Mensch, das durch eine numerisch
identische religiöse Funktion aktualisirt wird.
Wenn nun aber auch die Identität des eingeschränkten mit dem
absoluten Subjekt oder des menschlichen mit dem göttlichen Wesen
als unerlässliche Vorbedingung des wahrhaften religiösen Verhältnisses
und damit der Erlösung anzuerkennen ist, so ist doch diese Identität
oder das Bewusstwerden derselben noch keineswegs ausreichend zur
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230 S- ^- ^^3 Metaphysik des religiösen Subjekts.
Erlösung oder gar die Erlösung selbst.'*') Dies ist schon daraus zu
entnehmeu, dass die Identität der menschlichen und göttlichen Punk-
tion ebenso wie die Identität des in ihr funktionirenden eingeschränkten
und absoluten Subjekts sich nicht auf Gnade und Glaube und auf
Gott und den religiös-sittlichen Menschen beschränkt, sondern ausser
der sittlichen Sphäre auch die böse und natürliche, also den ganzen
Menschen umfasst. Der Mensch ist auch als natürlicher eins mit
Gott, ja sogar er ist es sogar als böser; sobald er sich dieser That-
sache bewusst wird, kann er unmöglich in ihr unmittelbar eine
Nöthigung erkennen, sich über die natürliche Sphäre zu erheben und
die böse Sphäre möglichst einzuschränken und auf Null zu reduciren.
Der Mensch, der zum Bewusstsein der Identität seines Wesens mit
dem Wesen Gottes erwacht ist, muss sich sagen, dass diese blosse
Wesensidentität unverlierbar ist und auch dann ungeschmälert fort-
bestehen wird, wenn er in der reinen Natürlichkeit verharrt oder gar
sich im Bösen verstockt. Erst dann entfaltet mittelbar das Bewusst-
werden der Wesenseinheit seine erlösende Kraft, wenn der Mensch
aus demselben die Konsequenz zieht, dass ein sich seiner Wesens-
einheit mit Gott bewusst gewordenes Individuum sieh nicht mehr
bloss mit der formellen Wesenseinheit begnügen müsse, sondern diese
Erkenntniss darin bethätigen müsse, dass es über die untergöttliohe
und widergöttliche Sphäre des göttlichen Willensinhalts hinaus die
im eminenten Sinne göttlichen positiven Ziele zu Zielen seines be-
wussten Willens setzt, also nicht mehr bloss essentiell oder ontologisch,
sondern auch teleologisch mit Gott eins vjord.**)
Während in den natürlichen und bösen Funktionen des Menschen
nur die formelle ontologische Einheit mit Gott hervortritt, in inhalt-
licher teleologischer Hinsicht aber die Einheit nur mit niederen Ent-
wickelungsstufen der teleologischen Idee zu konstatiren ist, zeigt die
Sphäre der Gnade die volle Einheit des Menschen mit Gott auch in
teleologischer Hinsicht, und darum ist nur in dieser Sphäre die reale
Einheit des Menschen mit Gott zu finden, welche das vollkommene
religiöse Verhältniss bildet. Sobald das religiöse Bewusstsein des
göttlichen Willensinhalts erwacht ist, ist es dem Menschen unmöghch,
*) Diese irrige Annhamo bildet den inhaltlichen Giiindfehler der HegelscheD
Religionsphilosophie, wie die Beschränkung des religiösen Bewusstseins auf die
Vorstellung der formellen.
**) Vgl. „Phiinunionologio_ des sittlichen Bewusstseins^' S. 831 — 839.
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1. Die religiöse Anthropologie. 231
sich in teleologischer Einheit mit Gott zu wissen, wenn er nicht das
Natürliche zum dienenden Werkzeug des Sittlichen herabsetzt und
das Böse als das relativ Widergöttliche bekämpft; darum findet der
Mensch erst in der Gnade, als in der Herrin der Natürlichkeit und
der siegreichen Ueberwinderin des Bösen, die im eminenten Sinne
göttliche, die positiv und specifisch göttliche Funktion, an welche
allein, als an die alle übrigen dominirende, er im religiösen Verhält-
niss sich zu halten hat. Er könnte sich nicht an sie halten und in
ihr das die reale Einheit mit Gott herstellende Band finden, wenn
nicht seine ontologische Einheit mit Gott schon vor aller Gnade und
abgesehen von ihr bestände; aber auf dieser ontologischen Basis ist
es doch erst der geistig-sittliche Inhalt der Gnade, der das natürliche
Verhältniss zwischen Mensch und Gott zu einem religiösen Verhält-
niss erhebt und dadurch die Erlösung bewirkt.
Für den Menschen als natürlichen ist die Erkenntniss seiner
Wesenseinheit mit Gott eine gleichgültige Theorie, nicht besser noch
schlechter als jede andere metaphysische Theorie über das Wesen des
Menschen; für den Menschen als bösen ist es ein widerwärtiger Ge-
danke, sein Selbst nicht in dem Ich haben zu sollen, dessen Förde-
rung unter Missachtung aller fremden und höheren Zwecke er sich
zum Princip erkoren hat ; erst für den Menschen, sofern er die Gnade
als konstituirendes Element seiner geistigen Persönlichkeit in sich
trägt, wird die Erkenntniss der Wesenseinheit mit Gott zur Basis
des religiösen Verhältnisses und zum Ausgangspunkt eines neuen,
selbstverleugnenden, gottgeweihten Lebens.*) Die Erkenntniss der
Wesenseinheit wird dann zum wirksamsten Motiv für die Beförderung
der objektiven Zwecke an Stelle der subjektiven vermittelst der Ein-
sicht, dass der Mensch so wie so nur Moment des absoluten Willens
ist, als egoistischer aber eine Partialidee niedererer Ordnung denn als
sittlicher repräsentirt, dass er in der TJrgirung des egoistischen Zwecks
doch weiter nichts ' treibt als eine einseitige üebertreibung eines unter-
geordneten Moments des absoluten Zwecks, dass er aber durch die
Hemmung, welche der absolute Zweck durch diese einseitige üeber-
treibung erfährt, zugleich die Zweckthätigkeit desjenigen Wesens
hemmt, welches im Gegensatz zu der subjektiven Einbildung von
einem substantiell selbständigen Ich das alleinige Grundwesen oder
*) Ebenda S. 811—821.
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232 B. n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
subsistireude «Selbst» seiner organisch-psychischen Individualität ist.
Wenn das radikal Böse der Egoismus ist, so ist die radikale Erlösung
zu suchen in dem Hinabsteigen von der phänomenalen Oberfläche des
Ich in die ontologische Tiefe des wahren Selbst, welches eben nicht
mehr Ich, sondern der unpersönliche und unbewusste absolute Geist
ist, und in der Erweiterung und Erhebung von den egoistischen
Zwecken des phänomenalen Individuums zu den universellen Zwecken
des ihm subsistirenden absoluten Wesens.*)
Gelangt diese mit der Gnade identische ethische Gesinnung zum
Durchbruch, so ist der Mensch, wie wir oben gesehen haben, eben
dadurch von dem inneren Zwiespalt des durch die Schuld mit Gott
zerfallenen Bewusstseins ebenso erlöst wie von der Auffassung des
Üebels als eines den Zweck seines Daseins in Frage stellenden; wollte
er über diese privative Beseligung hinaus noch eine positive Seligkeit
verlangen, so fiele er eben damit von der kaum errungenen Höhe
des religiösen Verhältnisses wieder herab in den Eudämonismus des
egoistischen Standpunkts, von dem er gerade erlöst werden wollte.
Wenn diese eudämonistisch-egoistische Forderung mit einem pseudo-
religiösen Mäntelchen behangen wh:d dadurch, dass die erstrebte per-
sönüche Seligkeit als eine in der realen Einheit unmittelbar mitgesetzte,
wenn auch nur accidentiell mitgesetzte, vorgestellt wird, so ist dem
gegenüber zu bemerken, dass die Seligkeit Gottes selbst nur die
via eminentiae erzielte anthropopathische Vorstellung von dem ver-
absolutirten und auf Gott übertragenen menschlichen Glückseligkeits-
ideal, also nur ein Postulat der Selbstsucht, nicht des religiösen
Bewusstseins ist. Wir fanden oben, dass der Begriff eines absoluten
Geistes wegen des mangelnden Bewusstseins keinen Kaum für positive
Seligkeit, wohl aber für eine ausserweltliche ünseligkeit lasse; dem-
nach kann die reale Einheit mit Gott keinenfalls Theilnahme an
positiver Seligkeit, sondern höchstens an seiner ünseligkeit bedeuten.
Sobald die positive Seligkeit des Menschen als eine pseudoreli^öse
Forderung gemeiner Selbstsucht entlarvt ist, hört auch jedes positive
Interesse des religiösen Bewusstseins an der Frage nach der persön-
lichen Fortdauer des Menschen auf; denn diese Fortdauer wurde ja
nur als metaphysische Voraussetzung postulirt, um der positiven
Seligkeit, die hienieden erfahrungsmässig nicht zu finden ist, eine
*) Ebenda S. 835-83Ü.
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1. Die religiöse Anthropologie. 233
Phantasiestätte zu bereiten und die instinktive Angst des selbst-
süchtigen Eigenwillens vor seiner Vernichtung im Tode zu lindern.
Ein echtes religiöses Bewusstsein, d. h. ein solches, das wirklich über
den egoistischen Eudämonismus hinausgekommen ist, durchschaut den
Streich sehr wohl, den ihm der entthronte Egoismus mit seiner
transcendenten Projektion zu spielen versucht, und weiss, dass in
einem eventuellen Jenseits ganz ebenso wie im Diesseits das religiöse
Bewusstsein niemals mehr als vorübergehende Kontrastbeseligung und
dauernden Gottesfrieden zu bieten haben kann. Wenn die Persönlich-
keit fortbesteht, dann auch einerseits der Eigenwille, die Wurzel des
Bösen, und der stetige Kampf des sittlichen. Willens mit ihm und
die stetige Gefahr des Unterliegens in diesem Kampfe; dann auch
andererseits die Natürlichkeit als unentbehrliche Grundlage der die
geistige Persönlichkeit tragenden Individualität, oder als Medium ihrer
Individuation, und die Uebel, welche mit der inneren Natur des Willens
ebenso sehr wie mit dem Stehen desselben unter äusseren natürlichen
Bedingungen verknüpft sind. Wenn die Persönlichkeit fortdauert, so
dauert mit anderen Worten auch das Böse und das Uebel fort; d. h.
die positive Seligkeit könnte keine ungetrübte sein, auch wenn sie
bestände ; da sie nicht besteht, noch bestehen kann, so behauptet für
alle Dauer des Individuallebens der Pessimismus sein Recht und das
religiöse Bewusstsein fordert ihn sogar, wofern nicht mit der Er-
lösungsbedürftigkeit für die Seligen im Jenseits auch die Eeligion
aufhören soll.
Das religiöse Bewusstsein kann durch die Vorstellung eines
Jenseits nichts gewinnen, wohl aber verlieren, nämlich die Kon-
centration auf das Diesseits als den empirisch gegebenen Schauplatz
des religiösen Lebens; die Einbildung, erst im Jenseits die volle
Erlösung und Einheit mit Gott er^varten zu dürfen, lenkt die Auf-
merksamkeit von den realen Aufgaben des religiösen Lebens ab, und
lässt das hier schon Erreichbare träumend versäumen. Dieser Um-
stand macht es entschieden wünschcnswerth im Interesse der Religion,
den zerstreuenden Glauben an ein Jenseits aufhören zu sehen, und
giebt zur obigen negativen noch eine positive Widerlegung derer,
welche in der Unsterblichkeit ein Postulat des religiösen Bewusstseins
finden zu dürfen glauben*) ; man kann aber darum noch nicht sagen,
*) Vgl. Biedermann's Dogniatik § 919—975.
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234 ^- ^' ^io Metaphysik des religiösen Subjekts.
dass die Nichtunsterblichkeit ein unentbehrliches Postulat des reli-
giösen Bewusstseins sei, wenn sie auch ein berechtigter Wunsch des-
selben genannt werden kann. Gesetzt den Fall, der bis jetzt fehlende
Beweis der Unsterblichkeit würde morgen auf spekulativem oder em-
pirischen Wege unwiderleglich erbracht, so würde das religiöse Be-
wusstsein mit diesem erschwerenden Umstand für seine Aufgaben
sich trotzdem wohl oder übel abfinden müssen, und würde bemüht
sein müssen, der durch ihn entstehenden Zerstreuungsgefahr mit
verdoppelter Koncentration der Aufmerksamkeit auf die momentan
zu leistenden Aufgaben zu begegnen.
Wenn die Unsterblichkeit theoretisch erwiesen würde, so müsste
es dem religiösen Bewusstsein als selbstverständlich gelten, dass der
Mensch auch im künftigen Leben sein Hauptaugenmerk auf die Ver-
vollkommnung des religiösen Verhältnisses unter Verwerthung der hier
erworbenen Grundlage zu richten habe; aber man kann nicht um-
gekehrt sagen, dass das hier entwickelte religiöse Verhältniss an und
für sich und abgesehen von dem Menschen ein Gut sei und zwar ein
so werthvoUes Gut, dass es for immer erhalten werden müsse, wobei
dann die Fortdauer des Menschen als Mittel zur Erhaltung dieses
individuellen religiösen Verhältnisses vorauszusetzen wäre. Der sub-
jektive Werth des religiösen Verhältnisses, d. h. seine erlösende Kraft
hat einen Sinn nur auf Grund der vorangestellten Voraussetzung,
dass dieser bestimmte Mensch existirt und noch existirt, um den
Werth der Erlösung zu fühlen; der objektive Werth des religiösen
Verhältnisses, d. h. seine heiligende Kraft, welche den Menschen zur
positiven bewussten Förderung der objektiven Zwecke fähig und
tüchtig macht, hat ebenfalls nur einen Sinn, so lange der Mensch
als Werkzeug des göttlichen Willens existirt, d. h. so lange es Gott
zweckmässig erscheint, diesen Menschen, und nicht einen anderen
nachgeborenen an seiner Statt, als Werkzeug zur Ausführung seiner
Pläne zu verwenden. Es ist baare Ueberhebung und geschöpfliche
Eitelkeit, wenn übrigens fronune Menschen sich einbilden, so wichtige,
werthvoUe und ausgezeichnet tüchtige Werkzeuge des göttlichen
Willens zu sein, dass Gott sie für ewig nicht entbehren möge und
sie darum über die Grenzen der natürlichen Weltordnung hinaus zu
ich weiss nicht welchen vorläufig uns unverständlichen Leistungen
konserviren müsse. Der wahren Frömmigkeit steht eine Selbst-
bescheidung weit besser an, welche die empirisch gegebene Mause-
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1. Die religiöse Anthiopobgie. 235
rang der Bewusstseine, d. h. den Ersatz der ermüdetea und alters-
verbraachten Geister in der Menschheit durch frischen Nachwuchs, in
Verbindung mit der Vererbung der erworbenen guten Eigenschaften als
Erbgnade, für ein weit grossartigeres und zweekvoUeres Mittel zur
Verwirklichung der teleologischen Weltordnung hält als die Kon-
ser?irung würdiger Jubelgreise über ihr natürliches Lebensende hinaus.
Die wahre Frömmigkeit wird sich aber auch dann, wenn sie den Tod
als die reale Erlösung vom Uebel fOr das Individuum ansieht, nicht
weigern, die Bürde des Lebens und seine schweren Pflichten über den
natürlichen Tod hinaus weiter zu tragen, wenn Gottes Bathschluss
es zur Verwirklichung seines Weltplans für nöthig halten sollte.
Vorläufig, so lange ein theoretischer Beweis für die Unsterblich-
keit nicht exisürt, wird es dem begnadeten Menschen gestattet sein,
in dem natürlichen Tode, welchen der natürliche Mensch als das
Ende seines individuellen Daseins fürchtet, die gnädige Fürsorge
Gottes zu sehen, welche dem durch redliche Arbeit Ermüdeten den
wohlverdienten Schlummer bringt und der idealen Erlösung vom
Uebel die reale hinzufügt. Der Instinkt der Todesfurcht ist nur der
teleologische Biegel, der dem Selbstmord aus egoistischen Gründen
von der Natur vorgeschoben ist; sobald der Mensch dahin gelangt
ist, den Selbstmord trotz der Einsicht in das Elend des Daseins aus
sittlichen Gründen zu unterlassen und sich opferwillig dem Leben
zu weihen, verliert auch die entbehrlich gewordene Todesfurcht ihre
Macht über den Menschen und er blickt dann ohne Scheu dem
Todesengel als einem freundlich winkenden Erlöser von der harten
Pflicht des Lebens in's Auge.
Mag die ideale Erlösung vom Uebel ausreichen, um die objektive
Bedeutung des Uebels aufzuheben und das Leben halbwegs erträg-
lich zu machen, so lässt sie doch die subjektive Empfindung des
Leides bestehen und fügt ihr die Einsicht hinzu, dass der Mensch
diesem Leide weder entrinnen kann ooch darf; darum ist die bloss
ideale Erlösung vom Uebel eine zwar höchst werthvoUe Abschlags-
zahlung für die Dauer des Lebens, aber doch keine vollkommene und
endgültige Erlösung. Die definitive und reale Erlösung vom Uebel
kann eben wegen der glücksunfähigen Natur des Willens dem Men-
schen nur zu Theil werden, wenn er von sich selbst, d. h. von seinem
Dasein als wollendes und leidendes Individuum erlöst wird, d. h. wenn
sein Individualleben sein natürliches Ende erreicht. Dass diese reale
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236 B. II. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
Erlösung früher oder später, aber auf alle Fälle in einer kurzen
Spanne Zeit in sicherer Aussicht steht, das gerade giebt der ideale
Erlösung vom Uebel für diese Frist ihren rechten Werth und ihre
palliative Kraft; man plagt sich williger im Dienste der Idee, da es
ja doch nicht für lange ist, und man spannt seine Kräfte schärfer
an, wenn es sich um einen ungewöhnlichen Tagemarseh, als wenn es
sich um einen Tag aus einer langen Eeihe von Tagen handelt. Zwar
weiss man, dass ein Anderer in die Lücke einzutreten hat, die durch
den eigenen Tod entsteht ; aber man weiss auch, dass es ein frischeres
Bewusstsein ist, eine noch nicht verbrauchte Kraft, welche dem ster-
benden Krieger die Fahne der Idee aus der Hand nimmt, um unter
ihrem Zeichen weiter zu kämpfen. Damit kann sich der abberufene
Einzelne beruhigen, dass es ihm als Einzelnen nicht obliegt, das Werk
zu vollenden und dass es Gottes Sache ist, für neu eintretende Qottes-
kämpfer rechtzeitig zu sorgen. Die natürliche Weltordnung gestattet
dem Einzelnen nur ein begrenztes Maass von Kraft und stellt ihn
ebensowohl unter das Gesetz der Abnutzung wie unter das der Uebung ;
darum ist es kein Egoismus zu nennen, sondern einfache Unterordnung
unter das Naturgesetz, wenn der Mensch bei emsiger und opferwilliger
Arbeit an dem ihm zugemessenen Tagewerk doch auch mit Sehnsucht
auf das Ende seiner Mühen blickt und in Augenblicken stiUer Umschau
dem Gedanken Raum giebt: «Ich wollt' es wäre Schlafenszeit und
alles war' vorbei!»
Aber diese reale Erlösung durch den Tod hat doch immer nur
Bezug auf den Einzelnen; für die Gesammtheit bleibt die Summe
aller dieser realen Individualerlösungen doch nur ein Palliativmittel,
um das Menschheitsleben erträglicher zu machen, gerade wie die
ideale Erlösung für den Einzelnen ein solches ist. Darum fordert die
Mauserang der Bewusstseine gerade sogut ihre Ergänzung durch eine
reale Universalerlösung, wie die ideale Erlösung im Einzelnen ihre
Ergänzung durch die reale Erlösung des Todes verlangte. Hiermit
überschreiten wir die Grenzen der religiösen Anthropologie und werden
auf die reUgiöse Kosmologie hingewiesen; das religiöse Bewusstsein
ist unfähig, seinen letzten Abschluss und die volle Befriedigung seiner
Bedürfnisse in dem engen Rahmen des individuellen Verhältnisses zu
Gott zu finden, weil es dieses Verhältniss selbst nur versteht und
verwirklicht, insofern es den Menschen als organisches Glied der
Gesammtmanifestaüpii Gottes, des Universums begreift. Der Mensch
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2. Die religiöse Kosmologie. 2B7
müht sieh ab um objektiver Zwecke willen oder um Gottes willen;
diese objektiven Zwecke zu verstehen, ist die nächste Aufgabe, welche
die religiöse Anthropologie fordert Die objektiven Zwecke Gottes
sind aber nicht denkbar in Gott, sofern er abgesehen von der Welt
für sieh ist, weil er so verstanden blosse Ruhe ohne Zweckthätigkeit
wäre; sobald er thätig gedacht wird ist er auch produktiv, und sein
Produkt ist der Makrokosmos. Darum kann der Inhalt der objektiven
Teleologie nur erkannt werden an den Beziehungen Gottes zur Welt,
d. h. in der religiösen Kosmologie.
Die Welt ist nur das erweiterte Subjekt des in weiterem Sinne
ge£ä8sten religiösen Verhältnisses ; denn wenn auch nur in der Mensch-
heit, und sogar in dieser nur bedingungsweise, die vorbereitende Gnade
zur aktuellen Gnade im Bewusstsein wird, so ist sie doch als vor-
bereitende Gnade auch schon in dem Thierreich enthalten, welches
die socialen Instinkte entwickelt, und kommt in mehr oder minder
dunklem Drange auch die menschliche Erlösungssehnsucht im Thier-
reich gelegentlich zum Durchbruch. Darum ist das Wort des Paulus
wahr, dass sich alle Kreatur mit uns nach Erlösung sehne, die wir
mit der aktuellen Gnade des Geistes bevorzugt sind, und der Drang
des religiösen Bewusstseins ist im vollen Recht, in aller Kreatur
unsere zurückgesetzten Brüder zu sehen, denen wir die Erlösung zu
vermitteln berufen sind.
2. Die religiöse Kosmologie.
a) Die Welt in ilirer absoluten Abhängigkeit von Gott.
Wir hatten oben gesehen, dass die Welt in einer absoluten Ab-
hängigkeit von Gott stehen muss, damit die absolute Abhängigkeit
des Menschen von Gott zugleich eine Aufhebung seiner relativen
Abhängigkeit von der Welt einschliessen könne; selbst die ideale
Erlösung vom Uebel ist nur dann möglich, wenn mit der Erkenntniss
der absoluten Abhängigkeit des Menschen von Gott zugleich die Er-
kenntniss verknüpft ist, dass alle relative Abhängigkeit von der Welt
nur aufgehobenes Moment oder Form der Vermittelung innerhalb
dieser absoluten Abhängigkeit ist, womit eben die absolute Abhängig-
keit der übrigen Welt von Gott bereits mitgesetzt ist als eine
Prämisse, ohne welche dies unmöglich wäre. Wie wir oben erörtert
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^gg &. n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
haben, welche Bestimmungen Gott beigelegt werden müssen, um ihn
als den absoluten Qrund der Welt denken zu können, so haben wir
nunmehr zu erwägen, wie die Welt gedacht werden müsse, um einer-
seits in dem Verhaltniss einer absoluten Abhängigteit zu Gott zu
stehen, und andererseits doch etwas Reales und Wirkungsfähiges zu
sein, zu welchem der Mensch in dem Verhaltniss einer relativen Ab-
hängigkeit steht. Das Problem ist, wie leicht zu erkennen, analog
demjenigen betreffs der Stellung des Menschen zu Gott, und wird
demgemäss auch eine analoge Losung aus sich hervortreiben; immer-
hin gestaltet sich das Problem im Einzelnen hier nach anderen Rich-
tungen aus, als beim Menschen. Der Mensch ist zwar einerseits nur
ein besonderes Glied der Welt, andererseits aber als geistig-sittliche
Persönlichkeit ein des Bösen und der Verantwortlichkeit fähiges Glied
derselben ; diese Specialprobleme kommen für die Welt im Allgemeinen
nicht mehr in Betracht, wohl aber die Fragen nach dem «Dass» und
«Was» der Welt, welche bei der Specialbetrachtung des Menschen
verschoben werden konnten, weil der Mensch als solcher die Welt
bereits als etwas thatsächlich Gegebenes vorfindet.
Schlechthin ausgeschlossen als einer unreifen und untergeordneten
Stufe des religiösen Bewusstseins angehörig bleiben diejenigen Auf-
fassungen, bei welchen entweder das Universum selbst als das Abso-
lute angesehen, oder aber Gott als nicht absoluter Geist dem Grund-
stoff des Universums gegenüber gestellt wird. Im ersteren Falle
haben wir es mit naturalistischem Monismus, wie bei den Aegyptem
zu thun, wo Gott selbst der mit der Urkraft begabte natürliche Ur-
stoflF ist, aus dem sich die Welt in ihrer jetzigen Gestalt heraus-
differenzirt ; im letzteren Falle mit einem Dualismus von geistigem
Weltbildner und materiellem Weltstoff, deren Komplex erst das
Absolute darstellt, d. h. mit einer auf halbem Wege stehen ge-
bliebenen Uebergangsform vom naturalistischen Monismus zum Theis-
mus. Der naturalistische Monismus bleibt entweder bei dem Welt-
process als solchen, d. h. bei der Erscheinung stehen, ohne zu dem
Grunde des Weltprocesses und dem Wesen der Erscheinung vonu-
dringen, oder aber er sucht das Grundwesen in hylozoistischem Sinne
in einer materiellen und doch zugleich der Innerlichkeit Migen
Substanz; auf beide Fälle entgeistigt er das Absolute, sei es, dass er
den Geist als accidentielles Resultat des Naturprocesses betrachtet,
sei es, dass er ihn für eine materielle Substanz feinerer oder gröberer
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2. Die religiöse IBLOsmologie. g3g
Art erklärt Der Dualismus von Demiurg und Hyle rettet zwar
seinem Gotte die Geistigkeit, aber auf Kosten der Absolutheit, in
welche er sich mit dem gleich ewigen Weltstoflf theilen muss; die
Welt ist für diesen Standpunkt zwar nach ihrer (natürlichen und
sittlichen) Ordnung von Gott abhängig, aber weder ihrer Existenz
nach, noch auch ganz und gar ihrem Inhalt nach, da sich ein völlig
eigenschaftsloser Weltstoff doch als leere Fiktion erweist. Jedenfalls
steht dieser Dualismus in religiöser Hinsicht höher als der natura-
listische Monismus, da die Geistigkeit Gottes religiös wichtiger ist als
seine Absolutheit, falls nur eine praktisch ausreichende üeberlegenheit
der göttlichen Macht über die menschliche gewahrt bleibt; er steht
auch darin höher, dass er ebensosehr zum Theismus hinführt, wie der
naturalistische Monismus bei wachsender Bildung zum naturalistischen
Atheismus und zur Irreligiosität hinführen muss ; denn wenn nur erst
mit der göttlichen Determination des «Was» der Welt Ernst gemacht
wird, so erweist sich die ihr «Dass» begründen sollende Hyle sehr
bald als das Bestimmungslose, Nichtseiende, und der Weltbildner
aus dem Weltstoff wird so zum Weltschöpfer aus dem Nichts, welcher
die Absolutheit mit der Geistigkeit vereint.
Ernstlich zu beschäftigen haben wir uns daher nur mit den
beiden Lösungsversuchen des Theismus und .abstrakten Monismus,
deren ersterer die Wirklichkeit der Welt auf Kosten der Absolutheit
Gottes, wie der letztere die Absolutheit Gottes auf Kosten der Wirk-
lichkeit der Welt aufrecht erhält.
Nach dem Theismus war Gott absolut vor der Weltschöpfung,
und kann es wieder werden, sobald er seine Schöpfung vernichtet;
er bleibt also auch während des Bestandes der Welt der Potenz
nach absolut, hat sich aber aktuell seiner Absolutheit entäussert, so
dass er nur noch in Verbindung mit der substanziell von ihm ge-
trennten und funktionell ihm gegenüber selbstständigen Welt das Abso-
lute repräsentirt. Nach dem Theismus hat nämlich Gott die Welt
als eine an und für sich seiende geschaffen, er hat den in Verbin-
dung mit der Kraft eine echte Substanz darstellenden Stoff geschaffen
und ihm die Gesetze der natürlichen Weltordnung eingeprägt. Die
Welt hat nun eine eigene Substanz für sich, die nicht Gottes Sub-
stanz ist; denn Gottes Substanz ist ewig und ungeschaffen, die der
Welt aber zeitlich und geschaffen. Die Welt hat femer eine funktionelle
Selbstständigkeit, denn sie bewegt und entwickelt sich nach den ihr
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240 ^' ^- ^^^ Metaphysik dee religiösen Subjekid.
von Gott eingeprägten Gesetzen der natürlichen Weltordnung. Will
Gott etwas durchsetzen, was aus den Kräften der Welt nicht nach
den ihr eingepflanzten Gesetzen von selber erfolgt, so muss er ein-
greifen in den natürlichen Weltlauf und seinen besonderen Willen
durch besondere Aktionen verwürklichen, die theils in einer lokalen
und partiellen Aufhebung der natürlichen Weltvorgänge, theils in
einer Modifikation derselben, theils in einer wirklichen vorübergehenden
Zuthat an Kräften und Stoffen bestehen können.
Diese partiellen Aufhebungen, Aenderungen und Zuthaten stehen
ohne Zweifel dem Schöpfer zu, welcher die Macht besass, die Welt,
so wie sie ist, zu schaffen, und die Macht besitzt, sie jederzeit als
Ganzes aufzuheben ; in ihnen, die am Maassstab der natürlichen Welt-
ordnung gemessen als Wunder erscheinen, bekundet sich gerade die
potentielle Absolutheit Gottes gegenüber der Welt durch aktuelle
Specialfunktionen. Alles was in der Welt gesetzmässig geschieht, ist
unmittelbar nicht Gottes Werk, sondern Funktion der Weltsubstanz,
die allerdings sammt ihren immanenten Gesetzen dereinst von Gott
geschaffen ist; alles was unmittelbares Werk Gottes im Weltprooess
ist, ist Wunder, d. h. nicht Funktion der Weltsubstanz und nicht
Folge ihrer Gesetze. Das Wunder ist darum auf theistischem Stand-
punkt für das religiöse Bewusstsein schlechthin unentbehrlich, weil
nur in ihm Gott als ein lebendiger, unmittelbar thätiger und aktuell
absoluter sich manifestirt, und weil das Wunder oder der magisch
supranaturalistische Eingriff in den Weltlauf formell genommen das
einzige Mittel ist, durch welches Gott mit dem Menschen in ein
religiöses, d. h. unmittelbares Yerhältniss treten kann.
Wird die formale Möglichkeit des Wunders vom Verstände be-
stritten, so hört damit auch die formale Möglichkeit der aktuellen
Gnade auf theistischer Basis auf, die hier ja nur als supranatura-
listischer Eingriff Gottes in den natürlichen gesetzmässigen Geistes-
process des Menschen denkbar ist. Mit der Leugnung des Wxmders
sinkt der Theismus zum Deismus herab, d. h. Gottes Aktualität be-
schränkt sich auf den einmaligen Schöpfungsakt, und im übrigen
bleibt er zur starren Buhe leerer Potentialität verurtheilt ; ein solcher
Deismus hat dem religiösen Bewusstsein so wenig zu bieten, dass
man es im Interesse der Beligion nur erfreulich nennen kann, wenn
die naturgemässe Selbstzersetzung dieses Deismus in atheistischen
Materialismus oder Hylozoismus beschleunigt wird. Der reine, von
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2. Die religiöse Kosmologie. 241
jeder pantheistisclien Beimischung ungetrübte Theismus kann schlechter-
dings nur dann religiös werthvoU heissen, wenn er Supranaturalismus
im Sinne fortlaufender göttlicher Wundereingriffe ist und auch die
Gnade als magisches Gnadenwunder versteht; abgesehen von der das
religiöse Verhältniss entstellenden Zerreissung der religiösen Punktion
in zwei Funktionen wird gerade aus der Nothwendigkeit der steten
Wundereingriffe zum Zweck der providentiellen Weltleitung klar, dass
die Welt als solche mit Einschluss ihrer immanenten Gesetze etwas
Gott gegenüber Selbstständiges ist, welches gerade insoweit seine
Absolutheit beschränkt, als diese Beschränkung nicht durch momen-
tane Störung der naturgesetzmässigen Weltordnung jeweilig auf-
gehoben wird.
Gerade die Unentbehrlichkeit des Wunders liefert also den
schlagenden Beweis von der jeweiligen aktuellen Nichtabsolutheit
Gottes, insoweit als die naturgesetzmässige Weltordnung eben nicht
durch Wunder ausser Kraft gesetzt wird, sondern Bestand hat. Dass
diese Nichtabsolutheit auf freiwilliger Selbstentäusserung beruht, die
in jedem Augenblick zurückgenommen werden kann, ändert nichts
an der Thatsache ihres Bestehens; gerade insoweit als die Welt
wirklich ist, ist diese Wirklichkeit durch eine entsprechende Nicht-
absolutheit Gottes erkauft. Demgemäss ist auch die Möglichkeit
der Erlösung des Menschen von der Weltabhängigkeit durch die
absolute Abhängigkeit von Gott im Wege der gesetzmässigen Welt-
ordnung ausgeschlossen und bleibt ihre Möglichkeit (zwar nicht als
dauernde aber als vorübergehende) nur in soweit offen, als um dieses
Menschen willen und zum Zweck seiner Erlösung vom Uebel die
natürliche Weltordnung durch Wunder ausser Kraft gesetzt wird.
Diese Erlösung von bestimmten Uebeln durch bestimmte Wunder
entspricht der Erlösung von der Schuld durch den supranaturalistischen
Wundereingriff der Gnade; beide ergänzen sich zu einem folgerichtigen
System, das seine am meisten annähernde Durchführung im Katho-
licismus gefanden hat, während die lutherische und noch mehr die
reformirte Richtung diesen schroffen Supranaturalismus der Wunder-
magie durch Aufnahme pantheistischer Gedankenelemente zu mildern
und theilweise entbehrlich zu machen suchen.
Der abstrakte Monismus lässt im Gegensatz zum Theismus die
Absolutheit Gottes unangetastet, vernichtet aber dafür die Wirklich-
keit der Welt; er setzt mit Becht die Welt zu etwas gegen Gott
T. Hart mann, Dio Beligion des Oeistei. IQ
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242 S- ^' ^^ Metaphysik des religiösen Subjekts.
Nichtigem herab, was der Theismus fehlerhafter Weise unterlÄsst,
aber er erreicht dies nur dadurch, dass er sie für etwas in jeder
Hinsicht Nichtiges erklärt. Dass die Welt g^en Gott genommen
nichtig sein muss, ist weiter nichts als die Kehrseite der Absolntheit
Gottes, denn wenn alles Sein auf Seiten Gottes liegt, so bleibt
für die Welt abstrahirt von Gott in ihrer Isolirung nichts übrig;
darum fordert auch das religiöse Bewusstsein mit Entschiedenheit die
Nichtigkeit der Welt, wenn sie in ihrer Entgegensetzung gegen Gott
gefasst wird. Aber das religiöse Bewusstsein fordert nicht minder
entschieden die Wirklichkeit der Welt in ihrer Entgegensetzung gegen
den Menschen, weil sonst die relative Abhängigkeit des Menschen von
der Welt blosser Schein wäre, also die Erlösungsbedürftigkeit wegfiele;
ja sogar der Mensch selbst würde aufhören, eine wirkliche organisch
psychische Individualität zu sein, da er ja nur ein Theil der Welt
ist und mit dieser selbst in blossen Schein sich auflöst.
Die Wirkungen der Welt auf den Menschen müssen also ebenso
real sein, wie die Wirkungen des Menschen auf die Welt, d. h. das
Universum muss ein realer Process realer Individuen sein. Die
Realität des Universums besteht in der Realität der Konflikte unter
seinen Gliedern, und die Realität des Individuums in der ReaUtät der
Konflikte, welche es mit andern Individuen hat und wel<5lie die es
konstituirenden Individuen niederer Ordnung unter einander haben.
Diese Realität ist das erforderliche Minimum, um eine ideale Gruppe
von idealen Funktionen über die Sphäre der blossen Idealität hinaus
in die der Realität zu heben; sie genügt aber auch, um solche
Gruppen bei relativer Konstanz ihrer Kombination zu realen Indi-
viduen zu machen, welche eine reale Welt der Individuation konstituiren
und eioen realen Weltprocess aufführen. Diese Realität der Konflikte
zwischen verschiedenen Funktionen und Funktionengruppen erfordert
durchaus keine besondere Substanzialität der Individuen abgesehen
von der absoluten Substanz; sobald man ihnen diese andichtet, um sich
die relative Konstanz ihrer Reaktionen leichter zu erklären, steigert
man ihre Wirklichkeit gegen einander zu einer Wirklichkeit gegen
Gott. Die Realität der Konflikte zwischen den Funktionen und
Funktionengruppen schützt somit vor dem theistischen Abweg, welcher
die Absolutheit Gottes und die Nichtigkeit der Welt gegen Gott
beeinträchtigt, reicht aber ebensosehr aus, um vor dem abstrakt-
monistischen Abwege zu schützen, welcher die Wirklichkeit der
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2. Die religiöse Kosmologie. 243
Individaen gegen einander illusorisch macht. Deshalb ist auch hier
der konkrete Monismus der einzige Standpunkt, welcher beiden
Forderungen des religiösen Bewusstseins Genüge leistet und die
Wirklichkeit der Welt mit ihrer Nichtigkeit gegen Gott und der
ungetrübten Absolutheit Gottes yereinigt.
Das nämliche Ergebniss gewinnen wir, wenn wir das Yerhältniss
der Welt zur Zeit in's Auge fassen. Der Theismus betrachtet die
göttliche Funktion, und damit die Zeit, als etwas Beales, und mit
Recht, weil sonst die Erlösung und Heiligung Illusionen sind, sofern
sie eine im Menschen vorgehende Veränderung zu sein beanspruchen ;
mit der realen Zeitlichkeit der göttlichen Funktion ist aber auch
die Unendlichkeit der realen Zeit proklamirt, weil ein selbstbewusst-
persönlicher Gott unmöglich als einmal funktionslos gedacht werden
darf. Dadurch wird der Theismus vor die Alternative gestellt: ent-
weder ist der reale Weltprocess zeitlich unendlich oder endlich; im
ersteren Falle kann er keine teleologische Entwickelung mehr sein,
im letzteren Fall muss Gott sich eine unendliche Zeit lang mit dem
idealen Urbild der Welt beschäftigt und begnügt haben, bis es ihm
eines Tages einfiel, dieses ideale Urbild zu realisiren. Die erstere
Annahme hebt die Allweisheit Gottes im Sinne einer die Welt zum
Ziele führenden Vorsehung, die letztere Annahme hebt die Untrennbar-
keit von Allmacht und Allweisheit oder Wille und Vorstellung in
Gott auf, und stellt uns vor eine neue Alternative. Entweder nämlich
war die Weltschöpfung vernünftig, dann war es unvernünftig, sie un-
endlich lange hinauszuschieben; oder sie war unvernünftig, dann
hätte ein selbstbewusster persönlicher Gott sie für immer unterlassen
sollen. Auf alle Fälle geräth der Theismus in Widerspruch mit
den Forderungen des religiösen Bewusstseins, welche auf einen end-
lichen und doch realen Weltprocess abzielen, aber einen unendlich
langen realen Zeitverlauf vor der Schöpfung? ausschliessen.
Der abstrakte Monismus zerhaut diesen Knoten von Schwierig-
krften, indem er die Eealität der Zeit leugnet. Ist die Zeit bloss
ideal, so ist die Unendlichkeit des Weltprocesses für jedes denkende
Bewusstsein für selbstverständlich, und jeder reale Weltprocess ausser-
halb des Bewusstseins für unmöglich erklärt; wo die Welt blosser
Schein für's Bewusstsein, und das Bewusstsein ein unerklärbarer
empirisch gegebener Zustand im Absoluten ist, da muss auch das
unentstandene und unvergängliche Bewusstsein sich einen ebenso
10*
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244 B. n. Die Metaphysik des religiösen Snbjelds.
unendlichen Weltprocess vorspiegeln. Damit ist aber dem religiösen
Bewusstsein ebenso wenig gedient, wie mit dem unendlichen realen
Weltprocess ; die illusorische Tretmühle scheint vielleicht erträglicher
als die reale, insofern sie die Qualen der letzteren mit als illusorisch
erscheinen lässt; aber die praktische Konsequenz beider kann doch
in gleicher Weise nichts anderes als der absolute IndifiFerentismus
sein, der jede Möglichkeit der Religion aufhebt. Das Wahre am
abstrakten Monismus in Betreff der Stellung des Absoluten zur Zeit
ist nur darin zu suchen, dass ein Absolutes ohne Realität der Zeit
auch keine reale Funktionen haben kann, dass ein Gott ohne reale
Welt nur in funktionsloser Ruhe oder Beharrung zu denken ist, was
natürlich die selbstbewusste Persönlichkeit ausschliesst.
Das religiöse Bewusstsein fordert also einerseits einen endlichen
realen Weltprocess, andererseits einen ewigen Gott; beides ist schlechter-
dings nur so zu vereinigen, dass die Zeit nur in und mit dem Welt-
process gegeben ist, d. h. erst durch die Aktualität Gottes gesetzt
wird, dass es aber jenseits des Weltprocesses ebenso wenig Zeit
als göttliche Aktualität giebt, sondern nur das ewige, mit sich ewig
identische Wesen Gottes. Diese Synthese des abstrakten Monismus
und Theismus, welche in diesem Punkte schon von Augustinus voll-
zogen wurde, wird von den heterodoxen Theisten, die einen unend-
lichen Weltprocess annehmen, mit zwei Gründen, einem formalen und
einem materialen, angegriffen. Der erste Einwand geht dahin, dass
die Frage, was «vor» der Weltschöpfung gewesen sei, selbst schon
beweise, dass irgend welche, wenn auch nur leere Zeit vor derselben
statuirt werden müsse; der zweite, dass Gott ohne Welt nicht mehr
Gott wäre. Der erste Einwand zeigt nur, dass eine falsch, d. h. im
Widerspruch mit den gemachten Voraussetzungen, gestellte Frage
auch zu einer absurden Antwort führen muss; wenn man die aus-
geschlossene Zeitbeziehung mit dem Bewusstsein durch das Wort
«vor» gesetzt hat, so hat man eben damit vor den Anfang der Zeit
eine ideale Zeit gesetzt, die kein reales Korrelat hat.*) Die zweite
Bemerkung ist ganz richtig, insofern ohne religiöses Verhältniss kein
Objekt eines religiösen Verhältnisses, d. h. kein «Gott» bestehen kann;
sie ist nur kein Einwand ausser für die Denkweise derjenigen, denen ihr
*) Vgl. „Neukantianismus, Schopenhauerianismus u. Hegelianismus", S. 152 — 154,
337—338; „Kritische Grundlegung des transcendentalen Realismus", S. 156—158;
„üeber die dialektische Methode", S. 19—22.
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2. Die religiöse Kosmologie. 245
persönliches religiöses Verhältniss zum Absoluten so wichtig verkommt,
dass sie meinen, dieses könnte sein Sein gar nicht aushalten, ohne
Objekt ihrer Frömmigkeit zu sein.
Zwischen dem ewigen Wesen Gottes mit Ausschluss einer welt-
producirenden Funktion einerseits und dem abstrakt Einen des ab-
strakten Monismus andererseits besteht nur Ein thatsächlicher Unter-
schied: das Fehlen der Bewusstseinsillusion bei dem ersteren; diese
hat aber auch im abstrakten Monismus keinen andern Sinn, als den,
die empirisch gegebene subjektive Erscheinungswelt zu erklären, ohne
zu einer bewusstseins-transcendenten objektiv-realen Erscheinungswelt
seine Zuflucht zu nehmen. Ist die subjektive Erscheinungswelt in
meinem Bewusstsein durch die objektive Erscheinungswelt oder die
Welt der realen Individuation, und diese durch reale zeitliche Funk-
tionen Gottes erklärt, so filllt bei Anerkennung der Endlichkeit der
realen Welt jeder Grund fort, an eine zeitliche Unendlichkeit der
subjektiven Erscheinungswelt, d. h. an die Unzerstörbarkeit der Illusion
im Absoluten zu glauben. Das ruhende Absolute mit Ausschluss
einer Welt im abstrakten und im konkreten Monismus würde dann
aber auch nach Streichung der Illusion bei scheinbar völliger Gleich-
heit noch einen wichtigen potentiellen Unterschied in sich schliessen,
nämlich den, dass das konkret-monistische Absolute sich zur Aktualität
erheben und zur Fülle einer realen Welt konkresciren kann, also die
Potenz der Weltproduktion in sich trägt, welche dem abstrakt-moni-
stischen Absoluten fehlt.
Wie nach rückwärts, so auch nach vorwärts postulirt das reli-
giöse Bewusstsein einen endlichen Weltprocess; wäre derselbe nach
rückwärts unendlich, so müsste jedes denkbare Ziel schon erreicht
sein und der Weltprocess ziellos weitergehen, — wäre er nach vor-
wärts unendlich, so würde nach Erreichung des Zieles immer noch
eine ziellose unendliche Bewegung nachfolgen.*) Die Nichtigkeit der
Welt gegen Gott bekundet sich in ihrer Beziehung zur Zeit darin,
dass die Zeitlichkeit aus dem Ocean der Ewigkeit wie eine Blase
auftaucht und wie eine Blase in demselben wieder versinkt; die
Infusorien, die auf dieser Blase wohnen, leben und sterben, haben sich
nicht darum zu bekümmern, ob das Absolute öfter oder nur einmal
solche Blasen treibt, sie sind ausschliesslich auf diese eine ganz
*) Vgl. „Gesammelte Studien und Aufsätze", S. 629—634.
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246 B- n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
reale Blase als den Schauplatz ihrer Lebensthätigkeit angewiesen,
innerhalb dessen ihr Gesichtskreis schon beschränkt genug ist. Was
Gott thun oder nicht thun mag, nachdem er diese Welt in sich
zurückgenommen, können wir getrost Gott überlassen; es kann auf
unser Verhalten zu dieser Welt und den in ihr realisirten und zu
realisirenden Zwecken jedenfalls keinen Einfluss haben. — *)
Im Naturalismus und in dem Dualismus von Weltbildner und
Weltstoff ist die Welt ebenfalls substantiell wie im Theismus; aber
der Unterschied besteht darin, dass es im Naturalismus die Substanz
Gottes ist, welche zur Weltsubstanz wird, dass es dagegen im Dualis-
mus eine mit Gott gleich ewige und nicht von ihm gesetzte Substanz
ist, woraus er die Welt formt. Im Naturalismus ist Gott Grund
sowohl für die Form als für die Substanz der Welt, aber dies wird
dadurch erkauft, dass das Hervorgehen der Welt aus Gott selbst als
Naturprocess gedacht wird, gleichviel ob unorganisch als Ausströmung
(Emanation), oder organisch als Einheit von Zeugung und Geburt
durch die mann-weibliche Gottheit. Im aristotelischen Dualismus wird
der Fehler, Gott als unter den natürlichen Kategorien stehend zu
denken, vermieden, und an Stelle des stofflichen oder geschlechtlichen
Gottes tritt der geistige, der nicht mehr mit blinder Natumoth-
wendigkeit, sondern mit bewusster Absicht wirkt; aber diese Abstreifung
der Natürlichkeit wird mit der Preisgebung der Absolutheit bezahlt,
und die Substanz der Welt als nicht mehr aus Gott entspringende
neben ihn gestellt. Der abstrakte Monismus und der Theismus suchen
beide Fehler zu vermeiden und die Welt als eine in jeder Hinsicht
von Gott abhängige aufzufassen, ohne Gott zu naturalisiren oder
*) Gegenwäiüg ist die Wahrscheinliclikeit, dass Gott sich in Aktualität befinde,
gleich Gewissheit, d. h. = 1; nach etwaiger Rückkehr zur Potenzialität ist die
Walirscheinlichkeit, dass er sich noch einmal zur Aktualität erheben werde = ^.
Es ist praktisch gleichgültig für das Verhalten der Menschen, ob durch Rückkehr
Gottes von der jetzigen Aktualität zur Potenzialität die WahrscheiDlichkeit des
Leidens von 1 auf oder von l auf ^ gebracht wird; zunächst kommt es auf Er-
lösung von dem jetzigen Zustand der Aktualität an, und kann es füglich Gott an-
hoim gestellt bleiben, etwaige neu eintretende Aktualitäten in gleicher Weise, wie
den gegenwärtigen Anfall zu heilen. Dass beliebige viele solche Aktualitätsperioden
(buddhistische Kalpa's) in Gottes ewigem Sein auf einander folgen sollten, dafür
ist die Wahrscheinlichkeit sehi* gering (für ?^ Perioden = -). Vgl. „Philosophie
des Unbewussten", Bd. II, S. 437—439 und 495—496, deren bezügliche Sätze m
geradezu unglaublicher Weiso missveretanden, verdreht und entstellt worden sind.
(Vgl. auch „Gesammelte Studien und Aufsätze*^ 8. 699—702 und 713—715.)
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2. Die religic^e Kosmologie. 247
seiner Absolutheit zu berauben. Der abstrakte Monismus erreicht
dies ganz richtig dadurch, dass er die Substanzialität der Welt leugnet,
aber er schiesst über das Ziel hinaus, indem er die Verneinung der
Weltsubstanzialität nicht anders als durch Leugnung der Weltwirk-
lichkeit zu gewinnen weiss. Der Theismus hält mit Recht an der
Weltwirklichkeit fest, glaubt aber darum auch an der Weltsubstanzialität
festhalten zu müssen ; indem er nun die Weltsubstanz nicht als einen
Theil der Gottessubstanz denken mag und doch schlechthin von Gott
abhängig haben will, setzt er sie als eine durch Gottes Wuudermacht
aus dem Nichts hervorgerufene, d. h. geschaffene Substanz. Das Ver-
hältoiss von Gott und Welt ist also im Naturalismus dasjenige von
Quelle und Bach oder Erzeuger-Gebärer und Erzeugtem-Geborenen,
im Dualismus das von Werkmeister und Artefakt, im abstrakten
Monismus das von Sein und Schein, im Theismus das von Schöpfer
und Geschöpf,
Der theistische Begriff der Schöpfung fordert mit Nothwendigkeit
sowohl die Schöpfung aus Nichts im strengsten Sinne des Wortes
als auch die Zeitlichkeit des Schöpfungsaktes; wenn man von einer
«ewigen Schöpfung» spricht, so hebt man damit den Begriff der
Schöpfung ebenso gut auf, als wenn man sagt, dass der Schöpfer bei
der Erschaffung der Welt zwar aus «nichts» ausser ihm, nicht aber
aus «Nichts» schlechthin, sondern aus seinem eigenen schöpferischen
Vermögen geschöpft habe. Eine «ewige» Schöpfung besagt, dass Gott
in jedem Zeitmoment des unendlichen Weltprocesses schon eine Welt
vor sich gehabt, also niemals nöthig gehabt habe, aus Nichts zu
schaffen, sondern höchstens, sie in ihrem Bestand zu erhalten; die
ewige Schöpfung beseitigt also den Begriff der creatio originaria
zu Gunsten desjenigen der conservatio, die Erhaltung aber ist bei
einer wahrhaften Subsistenz überflüssig und kann sich nur auf ihre
Existenzform beziehen. Gott als «ewiger» Schöpfer sinkt also zum
Weltbildner am ewigen Weltstoff heb, und das alles bloss, weil es
niemals ein Nichts gab, aus dem er die Weltsubstanz hätte schaffen
können.
Wenn nun dem gegenüber die heterodoxen Vertreter des Theis-
mus behaupten, dass die Schöpfung aus Nichts bloss eine negative
Bedeutung habe, positiv genommen aber die Schöpfung aus sich
selbst bedeute, und dass die ewige Schöpfung in diesem Sinne eine
ewige Produktion der Welt_aus dem Wesen Gottes selbst bedeute,
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248 B- n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
SO vermeiden sie zwar die Scylla, fallen aber in die Charybdis. Denn
wenn die Weltsubstanz von Gott aus ihm selbst geschöpft ist, so ist
sie ein Theil der göttlichen Substanz, und Schöpfung bedeutet dann
nur noch das Hervorziehen oder Herausstellen des betreffenden Thdles
der göttlichen Substanz zu einer in sich abgeschlossenen kosmischen
Existenzform. Dieses wäre aber ein krasser Rückfall m den Naturalis-
mus, denn theilbar kann nur etwas sein, was unter den natürlichen
Daseinsformen der Räumlichkeit und Zeitlichkeit, Materialität und
Mobilität steht; die ewige Schöpfung als ewige Produktion wäre also
Emanation, wenn nicht gar Genese (etwa als organische Abschnürung
von Diminutivgöttem zu denken nach Analogie der Produktion und
Abschnürung von jungen Polypen an den alten). Eine ewige, un-
räumliche, in sich seiende, immaterielle Substanz steht aber schlecht-
hin über jeder Möglichkeit einer Theilung, Selbstzersplitterung oder
Selbstvervielfältigung ; sie ist als Substanz das Individuum xot i^oyjqv,
d. h. das seinem Wesen nach üntheilbare , das sich wohl in ver-
schiedenen Existenzformen manifestiren, aber niemals seine substantielle
Einheit und Ganzheit aufgeben kann.
So lange also unter Schöpfung die Schöpfung aus Nichts ver-
standen wird, ersetzt die «ewige Schöpfung» den Begriff der Schöpftmg
durch den der Erhaltung der Existenzform; sobald unter Schöpfung
die Weltproduktion Gottes aus ihm selbst verstanden wird, fällt die
ewige Schöpfung mit ewiger Emanation oder Genese zusammen. Im
ersteren Falle sinkt der Theismus auf den Dualismus, im letzteren
auf den Naturalismus zurück. Der echte Theismus ist nur der ortho-
doxe, welcher an der zeitlichen Schöpfung aus Nichts festhält. Aber
auch dieser bleibt nicht sich selber treu, weil er doch merkt, dass
die wahre, d. h. in sich selbst subsistirende Substantialität der ge-
schaffenen Weltsubtanz eine Beschränkung der aktuellen Absolutheit
Gottes ist; um diese Beschränkung zu vertuschen, stellt er neben
den Begriff der Schöpfung den der Erhaltung, d. h. er nimmt an,
dass die Weltsubstanz nicht einen Augenblick fortsubsistiren könnte,
wenn Gott seine erhaltende Hand von ihr abzöge. Dieser Begriff der
Erhaltung thut dem religiösen Bewusstsein zwar Genüge, indem er
die stetige absolute Abhängigkeit der Welt sowohl nach ihrem «Dass»
wie nach ihrem «Was» zum Ausdruck bringt; aber in dieser Kor-
rektur des Schöpfungsbegriffes liegt eben zugleich die totale Aufhebung
desselben und das unwillkürliehe Eingeständniss, dass der Standpunkt
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2. Die religiöse Kosmologie. 249
des Theismus als solcher dem religiösen Bevnisstsein eben nicht zu
genügen im Stande ist.
Wenn die Welt wirklich eine, obzwar nur geschaffene, Sub-
stanziaiität besitzt, so muss schlechterdings die Weltsubstanz so lange
durch sich selbt fortsubsistiren, bis Gott sie durch einen umgekehrten
Schopfungsakt wieder in das Nichts zurückschlcudert, aus dem er sie
geschaffen ; die Annahme, dass die Weltsubstanz in dem Augenblick
von selbt in ihr Nichts zurücksinken würde, wo Gott aufhörte, sie
stetig von neuem zu schaffen, hebt eben den Begriff der Substanz
auf, und besagt, dass die Welt eine an und für sich substanzlose
Existenz führt, die nur so lange dauert wie die stetige Schöpfer-
thMigkeit Gottes. Dann war die Schöpfung nicht bloss eine Schöpfung
aus Nichts, sondern sie ist es noch in jedem Augenblick; dann
schafft Gott stetig die Welt aus dem Nichts, in das sie ohne diesen
jetzt hinzutretenden Schöpferakt schon jetzt zurückgesunken wäre.
Was der Weltexistenz subsistirt, ist dann also nicht das verharrende
Besiduum früher Schöpferthätigkeit, das man allein als «geschaffene
Substanz» bezeichnen könnte, sondern Gott selbst in seiner gegen-
wärtigen Schöpferthätigkeit ; abgesehen von dieser gegenwärtigen
Aktion Gottes wäre die Welt Nichts. Man könnte höchstens das
Nichts die Substanz der Welt nennen, wenn man darauf bestehen
wollte, ihr eine andere Substanz zuzuschreiben als die Gottes; da
aber das Nichts wieder keine geschaffene Substanz wäre, so hülfe das
auch nichts.
Es bleibt dabei: der Begriff der Erhaltung auf die Subsistenz
bezogen, ist nichts anderes als stetige Schöpfung, und der Begriff der
stetigen Schöpfung negirt die geschaffene Substanz und lässt Gott
als das einzige der existirenden Welt Subsistirende erscheinen; ist es
aber Gott selbst, der durch seine Funktion die Welt stetig setzt, so
ist die Welt nur eine Existenzform der göttlichen Substanz, eine
Manifestation der göttlichen Mächt und Weisheit, eine objektive Er-
scheinung des göttlichen Wesens, d. h. der Theismus ist in konkreten
Monismus umgeschlagen. Wird hingegen dieser Umschlag abgewiesen,
so darf die Erhaltung nicht auf die Subsistenz der Welt bezogen
werden, sondern höchstens auf ihre Existenzform, so ist das Fort-
bestehen der Welt in gleichviel welcher Gestalt nicht mehr positiv
abhängig von Gott. Versteht man die Schöpfung als eine solche,
welche eine geschaffene Substanz hervorbringt, so ist die Erhaltung
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250 B. n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
dieser Substanz als solchen eine unstatthafte und überflussige Zuth^;
versteht man dagegen die Schöpfung als eine stetige dann ist eben
diese stetige Schöpfung selbst die Erhaltung, aber der Begriff der
Schöpfung im eigentlichen Sione, als einer Produktion von wahrhafter
Substanz, ist damit aufgehoben. In beiden Fällen ist eine Erhaltung
neben der Schöpfang unzulässig.
Die Erhaltung der Welt hinsichtlich ihrer Existenzform hat nur
dann einen Sinn, wenn man annimmt, dass die Welt ohne Gottes
erhaltende Thätigkeit qualitativ zu Grunde gehen, d. h. in Unordnung
gerathen, ja wohl gar in das Chaos zurücksinken würde. Diese An-
nahme setzt voraus, dass es dem Weltstoff und den Weltkräften an
einer immanenten Gesetzmässigkeit, an einer natürlichen Weltordnung
gebricht, kraft deren sie ihre natürliche Entwickelung ohne Gottes
Nachhilfe vollziehen können. Diese Vorstellung ist also gleich-
bedeutend mit der Leugnung von Naturgesetzen und stammt aus
einer Zeit, wo der Begriff der Naturgesetzlichkeit noch nicht erfasst
war. Wenn Gott den erschaffenen Kräften gleich die zugehörigen
Gesetze eingepflanzt hat, ohne welche die Kräfte selbst als Kräfte
nicht zu denken wären, so ist seine Nachhilfe für gewöhnlich über-
flüssig, um die natürliche Entwickelung sicher zu stellen; ausnaluns-
weise kann sie nur unter der Voraussetzung eintreten, dass der
Weltmechanismus ein unzulängliches Pfuschwerk ist, das gelegentlicher
Nachbesserung durch äussere Eingriffe bedarf. Die Erhaltung iu
Bezug auf die Existenzform der Welt hebt somit die AUweisheit
Gottes auf und ist deshalb dem religiösen Bewusstsein unannehmbar.
Nur dann, wenn die Welt für sich substanzlos und blosse Existenz-
form oder objektive Erscheinung der göttlichen Substanz ist, nur
dann ist die stetige Schöpferthätigkeit Gottes eine solche, welche
nicht bloss das Dass der Welt, sondern auch zugleich ihr Was be-
stimmt, also die naturgesetzliche Beschaffenheit der Existenz ebenso
wie ihre Fortdauer selbst verbürgt.
Wenn man die Erhaltung nicht auf die Subsistenz der Welt,
sondern auf ihren Inhalt, nicht auf ihr Dass, sondern auf ihr Was
bezieht, so fällt sie ebenso mit der sogenannten Regierung der
Welt zusammen, wie sie in Bezug auf das Dass der Welt mit der
Schöpfung identisch ist. Die Regierung Gottes erstreckt sich auf alles
Einzelne, und nichts ist so geringfügig], dass es sich ihr entzöge;
nur so ist die absolute Abhängigkeit der Welt von Gott aufrecht zu
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2. Die religiöse Kosmologie. 251
erhalten. Aber wenn die Begiernng auf alles Einzelne geht, so ist
doch der Irrthmn zu vermeiden, als ob sie das Einzelne auch für
das Einzelne regulirte, und nicht fttr das Ganze ; der Glaube an eine
göttliche Weltregierung, die sich zum Helfershelfer der subjektiven
Wiönsche, der individuellen Sonderzwecke, kurz des geschöpflichen
Egoismus hergäbe, ist eine principielle Verfälschung des religiös-
sittlichen Bewusstseins, eine pseudoreligiöse Hätschelung des vorsitt-
liehen naiven, oder des unsittlichen raffinirten Egoismus, eine Unter-
ordnung der objektiven Teleologie der Weltregierung unter die
subjektive der Selbstsucht. Hierunter föllt z. B. die Einbildung, dass
Gott die Frommen besonders vor Unglück behüte, für ihre Frömmig-
keit im Diesseits oder Jenseits durch ein reichlicheres Maass von
Glück oder Seligkeit "belohne und die Anschläge ihrer Widersacher
zu Schanden mache. Wenn Gott die Einzelnen erhält und fördert,
so doch niemals zur Mehrung des Einzelwohls als Selbstzweck, sondern
zur Förderung der objektiven Zwecke durch das individuelle Werkzeug
und nicht ausserhalb, sondern innerhalb und vermittelst der natür-
lichen Weltordnung.
Erhaltung und Begierung könnte man höchstens so unterscheiden,
dass erstere sich auf die natürliche Weltordnung, letztere auf die
teleologische Weltordnung bezöge; aber einerseits würde damit um
so sicherer die Erhaltung durch den Begriff einer der Welt inne-
wohenden Naturgesetzlichkeit beseitigt^ und andererseits fällt doch die
natürliche Weltordnung, sammt ihren Gesetzen mit unter den Begriff
der teleologischen Weltordnung, insofern sie als Mittel zur Verwirk-
lichung dieser gesetzt ist. Demnach bleibt auf alle Fälle der Begriff
der Erhaltung neben dem der Regierung unzulässig. Schöpfung und
Regierung erschöpfen vollständig die Beziehungen zwischen Gott und
Welt für den konsequenten Theismus, die Schöpfung als Urposition
der Weltsubstanz sammt allen ihren Eigenschaften, Kräften und (Je-
setzen, und die Regierung als die Summe der magisch-supranaturalisti-
schen Eingriffe in den selbstständigen gesetzmässigen Ablauf des
Weltprocesses zu providentiellen Zwecken. Dass der gesetzmässige
Weltverlauf als solcher nicht im Stande ist, den providentiellen
Zwecken zu genügen, sondern gesetzwidriger Nachhilfen bedarf, ist
ein allerdings anstösssiger Umstand, den aber das religiöse Bewusst-
sein auf theistischem Standpunkt geduldig ertragen muss, wenn es
nicht durch Ausscheidung dieser Eingriffe die regierende Thätigkeit
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252 B« ^- I^i® Metaphysik des religiösen Subjekts.
Grottes beseitigen und dadurch in den reinen Deismus gerathen will.
Der gegen das Wunder sich sträubende Rationalismus muss, um die
Gesetzlichkeit des Weltprocesses zu retten, alle Thätigkeit Gottes in
den einmaligen Schöpfungsakt koncentriren, während das religiöse
Bewusstsein zu seiner Selbstbehauptung die Gesetzlichkeit des Welt-
laufs preisgeben muss, so lange es auf dem Boden des Theismus
stehen bleibt. Der Rationalismus und das religiöse Bewusstsein sind
hier beide in ihrem Recht; nur auf dem Standpunkt des Theismus
erscheinen sie als unversöhnUche Gegegensätze, finden aber sofort beide
ihre Befriedigung, sobald der theistische Standpunkt durch immanente
Kritik in den konkretmonistischen umschlägt. Wie dieser Umschlag
beim Begriff der Schöpfung durch die Vertauschung einer einmaligen
mit einer stetigen Produktion der Welt erfolgte, so beim Begriff der
Regierung durch die Ausbildung des Begriffes der göttlichen Mit-
wirkung oder des concursus divinus.
Bei jedem einzelnen Vorgang in der Welt verlangt das religiöse
Bewusstsein einerseits die absolute unmittelbare Abhängigkeit des-
selben von Gott, andererseits aber auch die relative Abhängigkeit
desselben von den weltlichen Ursachen oder geschöpflichen Individuen,
welche bei demselben betheiligt sind; es giebt sich weder damit
zufrieden, wenn alles Geschehen abstraktmonistisch oder fatalistisch
lediglich auf Gott abgewälzt, noch wenn -es deistisch ledigüeh der
Kreatur zugeschrieben wird. Anstatt nun gleich auf die innere Syn-
these zu verfallen, dass die geschöpflichen Individuen nur Funktionen-
gruppen innerhalb der stetigen absoluten Schöpfungsfunktion sind,
sucht der Theismus die Schwierigkeit durch eine äussere Synthese
zu beseitigen, nämlich durch die Annahme, dass in jedem Vorgang
ein Zusammenwirken der unmittelbaren göttlichen Thätigkeit mit den
Thätigkeiten der Geschöpfe oder weltlichen Ursachen stattfinde.
Damit ist die Gesammtursache des Vorgangs halbirt; für die eine
Hälfte ist die abstraktmonistische oder fatalistische Lösung, für die
andere Hälfte die deistische Lösung acceptirt. Aber damit ist doch
nur scheinbar etwas gewonnen und in Wahrheit ist die Schwierigkeit
nur verdoppelt. Das religiöse Bewusstsein muss für denjenigen Theil der
Ursache des Vorgangs, der auf unmittelbare Thätigkeit Gottes zurück-
gefujirii wird, auf die gesetzmässige Selbstthätigkeit der Geschöpfe und
weltlichen Ursachen verzichten, für den andern auf die Geschöpfe
zurückgeführten Theil der Ursache muss es dagegen auf die absolute
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2. Die religiöse Kosmologie. 253
uDDiittelbare Abhängigkeit von Gott verzichten. Gerade soweit als
die eine Seite der Ursache zur Erklärung herangezogen werden darf,
ist die andere ausgeschlossen, und umgekehrt. Bei menschlichen
Handlungen z. B. ist der Mensch gerade nur soweit für sein Thun
verantwortlich, als dasselbe nicht von Gott abhängig ist; so weit
aber die Abhängigkeit von Gott reicht, ist er als Mensch von der
Verantwortlickheit befreit.
Diese äussere Verknüpfung beider Lösungen vereinigt also bloss
die Fehler beider und lässt das religiöse Bewusstsein doppelt un-
befriedigt; dasselbe sieht sich genöthigt einzugestehen, dass ihm nur
dann Genüge geschieht, wenn jeder weltliche Vorgang ganz und gar
auf unmittelbarer Thätigkeit Gottes und ganz und gar auf Selbst-
thätigkeit der Geschöpfe oder gesetzlicher Funktionsweise der welt-
lichen Ursachen beruht. Dies wird aber nur dann erreicht, wenn
erstens jede Thätigkeit Gottes wegfällt, welche nicht geschöpfliche
Thätigkeit ist, und wenn zweitens alle geschöpfliche Thätigkeit als
solche zugleich unmittelbare göttliche Thätigkeit ist. Die erstere
Bedingung allein führt zum Deismus, die letztere, wenn die Thätigkeit
real verstanden wird, zum konkreten Monismus; der Theismus stellt
die unmögliche, weil widerspruchsvolle Schwebe zwischen beiden dar.
Seine Furcht vor Rückfall in Deismus ist religiös begründet, seine
Furcht vor dem Uebergang in konkreten Monismus ist dagegen religiös
und wissenschaftlich gleich unbegi'ündet, und beruht lediglich auf
Unkenntniss des konkreten Monismus und auf Verwechselung des-
selben mit dem abstrakten Monismus. Die geschöpfliche Thätigkeit
kann nur dann unmittelbare Thätigkeit Gottes sein, wenn das Geschöpf
ein stetiges Produkt Gottes ist, und alle geschöpflichen Funktionen-
gruppen nur Partialfunktionen innerhalb der absoluten Funktion
Gottes sind. Sobald dies zugestanden wird, hört der Begriflf des
concursus auf, indem die Mitwirkung Gottes zu einem unmittelbaren
Wirken in dem Geschöpf und durch dasselbe wird ; denn damit wird
eben ein Wirken Gottes auf den Weltprocess neben und ausser den
Geschöpfen überflüssig. Um aber diesen Standpunkt, wie die reformirte
Lehre ihn bereits erreicht hat, konsequent durchzubilden, muss man
sich zunächst klar machen, dass er eine stetige Schöpfung voraussetzt,
also die Substantialität der Kreatur negirt, und das «Geschöpfe zur
«Erscheinung des göttlichen Wesens» erhöht.
Damit hört denn das Wort Kegierung ebenso wie das Wort
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254 ^- n* ^^ Metaphysik des religiösen Subjekts.
Schöpfung auf, dem zu bezeichnenden Begriffe angemessen zu sein.
Regierung ist ein Bild, das dem Verhältniss von Fürst und ünterthan
entnommen ist, also der theistischen Vorstellung eines neben der
geschafifenen Welt stehenden und dieselbe durch Wundereingriffe
lenkenden Herrgotts entspricht. Wie die Schöpfung sich in eine
stetige Erscheinung des göttlichen Wesens aufgelöst hat, so die Re-
gierung in die stetige logische Determination des Erscheinungsinhalts,
oder kurz in die dem Weltprocess immanente teleologische Welt-
ordnung. Was der Theismus die stetige Einheit von schöpferischer
und regierender Thätigkeit nennt, das erweist sich genauer besehen
als die stetige Einheit von Wille und Idee in der göttlichen Punktion,
kraft welcher aller aktuelle Inhalt der göttlichen Idee eo ipso von
der Allmacht des Willens realisirt wird, und alles vom Willen Reali-
sirte inhaltlich von der Allweisheit der logischen Idee determinirt ist
Dass dabei die Persönlichkeit Gottes schlechterdings ausgeschlossen
bleiben muss, bedarf keines besonderen Hinweises mehr; auch haben
wir oben zur Genüge auf den Irrthum hingewiesen, die Persönlichkeit
Gottes für ein Postulat des religiösen Bewusstseins zu halten. Es
ist aber nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass an jeder Stelle der
religiösen Weltanschauung sich neue Gründe zur Ausschliessung der
Persönlichkeit Gottes ergeben.
Wenn die Welt die stetige Erscheinung des göttlichen Wesens ist,
so ist damit schon gesagt, dass das göttliche Wesen das in ihr Erschei-
nende, also ihr immanent ist. Nicht das Wirken, sondern das Wesen
Gottes ist der Welt immanent, denn das Wirken Gottes ist die Welt
selbst, und nur insofern kann man von einem immanenten Wirken Gottes
in der Welt reden, als man die positive eminentgöttliche Wirksamkeit
von der untergöttlichen oder widergöttlichen unterscheidet und als die
spccielle Manifestation Gottes in der Summe seiner gesammten Mani-
festationen betrachtet. Das Wesen Gottes ist aber nicht in dem Sinne
der Welt immanent, dass es in ihr als Erscheinung aufginge oder sich
erschöpfte ; dies wäre nur in einem räumlich und zeitlich unendlichen
Weltprocess der Fall, wie er an sich unmöglich ist, wogegen in einer
endlichen Welt das unendliche Vermögen des Willens und die unend-
liche Möglichkeit der Idee die zur Erscheinungswelt aktualisirten Willen
und Idee unendlich überragt. Das Wesen in seiner unendlichen Poten-
zialität und potenziellen Unendlichkeit bleibt der endlichen Erscheinungs-
wclt ewig transcendent, obzwar das Wesen als Producent und Träger der
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2. Dio religiöfie Kosmologie. 255
Aktualität ihr ohne Best immanent ist. Immanent ist das Wesen
gerade insoweit, als es sich bethätigt; transcendent ist es dagegen,
insoweit das Vermögen und die Möglichkeit seiner Bethätigung sich
niemals in der Welt erschöpfen können. «Gott» freilich ist das Wesen
unmittelbar genommen nur insoweit zu nennen, als es immanent ist,
wahrend das Wesen als transcendentes unmittelbar genommen nicht
mehr Objekt des religiösen, sondern bloss noch des wissenschaftlichen
Bewusstseins ist; mittelbar genommen kann aber auch das trans-
scendente Wesen wegen seiner wesentlichen Identität mit dem im-
manenten von dem Begriff Gott mit umfasst werden, ja sogar es
kann nur in dem Zustand Gottes als transcendenten der Grund für
die Aktualisirung und Erscheinung Gottes in Gestalt der Welt ge-
sucht werden.
b) Die Welt in ihrer Erlösungsbedürftigkelt und
Erlösungsfälligkeit.
Die Welt ist dasjenige, wovon jeder Einzelne erlöst werden will,
zugleich aber auch die Summe der Erlösung suchenden Individuen,
also dasjenige was erlöst werden will und soll; in dieser Doppel-
stellung ist die Welt dasjenige, was von nichts anderem als von sich
selbst erlöst werden will und soll. Der Einzelne wird zwar durch
die Freiheit in Gott von seiner relativen Abhängigkeit von der Welt
ideaUter erlöst, bleibt aber realiter unter der Macht der aus der Welt
entspringenden Unlust und Leiden, obzwar dieselbe nun als eine den
Weltzweck nicht mehr aufhebende mittelbare Abhängigkeit von Gott
gewusst wird. So lange das Individuum als Glied der Welt lebt,
muss es die aus dem Widerstände der Welt und aus seiner eigenen
Natürlichkeit nothwendig folgenden Leiden tragen und wird erst
durch den Tod realiter als Individuum erlöst. So lange also der
Einzelne Werkzeug des göttlichen Willens und thätiges Mittel zur
Verwirklichung der göttlichen Zwecke ist, so lange muss er leiden;
er überwindet die Welt zwar ideaUter durch sein religiöses Verhält-
niss, aber realiter erst durch seinen Untergang als lebendes Individuum.
Die Idee, welcher sein Leben dient, triumphirt über das Leid der
Welt endgültig erst im Tode; der Gotteskämpfer findet die reale
Erlösung vom Uebel erst in dem Augenblick, wo er ausgekämpft und
ausgerungen hat und aufhört, für Gott zu wirken. Als Sieger stirbt
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256 ^- n. Die Metaphysik des religiosea Subjekts.
er, indem er die seinen Händen entsinkende Fahne dem Nebenmann
überreicht. So lange er lebte und kämpfte, waren ihm auch Wunden
und gelegentliche Niederlagen unentrinnbar; dem sterbenden Sieger
ziert unverwelklicher Lorbeer die Schläfe, wenn er auch mit dem
Trossbuben in dieselbe Grube gescharrt wird.
Das ist die Tragik des Lebens, dass der definitive Triumph der
Idee, 80^ weit sie sich in einem Einzelnen zur Darstellung bringt,
immer nur im Untergang ihres Trägers sich vollzieht; diese Tragik
ist herbe und schmerzlich, aber auch erhebend und versöhnend für
jeden, dem nicht am Gedeihen des Einzelnen, sondern an der fort-
schreitenden Verwirklichung der Idee gelegen ist. UeberaJl besteht
der reale Gottesdienst des Einzelnen darin, dass er sich opfert, und
das Maass seiner Leistungen ist proportional dem Maasse der von
ihm dargebrachten Opfer; schliesslich aber ist das Leben alles Indi-
viduellen in seiner Gesammtheit nur ein auf dem Altar der Idee
niedergelegtes Opfer, das durch den Tod besiegelt wird. In diesem
letzteren Sinne muss das Leben des Bösewichts ^vie das des Helden
als Opfer an den Weltprocess betrachtet werden, nur dass in ersterem
sich die Nichtigkeit des gottwidrigen Strebens, im letzteren sich der
Triumph der Idee im Untergang ihres Trägers offenbart Diese Tragik
des Weltdaseins umspannt die Individuen der verschiedensten Ord-
nungen; sie trifft ebenso gut zu auf Bienen, die sieh opfern zum
Schutz ihres Stockes, wie auf Stämme und Völker, Städte und Beiche,
die dem Untergang geweiht sind, nachdem sie ihre individuelle Mission
in der Geschichte erfüllt haben.
Sollte dieses Gesetz des Tragischen nur da ausser Kraft treten, wo
es sich um das Schicksal des Universums handelt, welches doch nur
das Individuum höchster Ordnung darstellt? Die Menschheit mag,
wenn sie durch geologische Veränderungen an das Ende ihrer Lebens-
dauer gelangt ist, die Fahne des Fortschritts an einen andern Planeten
übergeben ; aber der Makrokosmos kann nicht zwecklos fortleben, nach-
dem seine Entwickelung zum Ziele gelangt ist. Dieses Ziel, welches,
wenn es nicht überhaupt unerreichbar sein soll, in endlicher Zeitfeme
erreicht werden muss, kann für das religiöse Bewusstsein kein anderes
sein, als die Erlösung der Welt von sich selbst, als der Triumph der
Idee im Untergang des Universums. Nur in der Uebertragung des
Tragischen auf das Leben des Kosmos ist eine reale Erlösung vom
Uebel erreichbar, die mehr als bloss palliativ ist; denn die Erlösung
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2. Dia religiöse Kosmologie. 257
der Individuell niederer Ordnung durch den Tod ist doch für das
Umyersum als Ganzes bloss eine Erleichterung des Uebels, nicht eine
Befreiung von demselben.
So lange der Einzelne noch im Egoismus befangen ist, mag er
sich mit dem Gedanken an den Tod als seine Individualerlösung
begnügen; sobald er seinen Willen in den Dienst der objektiven
Zwecke gestellt hat, besitzt die Erlösung seiner Person nur noch
untergeordnete Bedeutung gegenüber der Frage nach der Universal-
erlösung, koncentrirt sich das religiöse Interesse auf die Erlösung der
Welt von sich selbst als auf die allein ernstlich in Betracht kommende
reale Erlösung vom Uebel. So lange die Welt existirt, muss sie als
erlösungsbedürftige existiren, wenn nicht die Religion als Erlösungs-
religion und damit als Beligion überhaupt aufhören soll ; so lange das
religiöse Bewusstsein an sich als an das Centrum der Bewusstseins-
welt glaubt, kann es nicht darein willigen, sich zu einer zur Ueber-
windung bestimmten Vorstufe zu degradiren, wie dies die Annahme
eines künftigen nicht mehr erlösungsbedürftigen Weltzustandes zur
Folge haben würde. Wenn aber sowohl die universelle Erlösung vom
Hebel wie die Erlösungsbedürftigkeit der Welt für die ganze Dauer
ihres Bestehens Postulate des religiösen Bewusstseins sind, so ist auch
das Zusanmienfellen der universalen Erlösung mit der Weltvernichtung
ein solches, d. h. die Universalerlösung muss als Zurücknahme der
räumlich-zeitlichen Erscheinung in das ewige Wesen gedacht werden.
Nur dann wird Gott im eminenten Sinne alles in allem sein,
wenn nicht mehr wie jetzt in Gott das Wesen Gottes und die Er-
scheinung Gottes von einander unterschieden werden können, sondern
Gott als Gott, d. h. als Wesen an sich und nicht als erscheinendes
Wesen, alles in allem ist. Insofern die Welt nichts ist als Er-
scheinung Gottes als immanenten Wesens, so ist auch die Erlösung
der Welt von sich zugleich Erlösung Gottes von seiner Immanenz, in
Folge deren er als das in allen eingeschränkten Subjekten identische
absolute Subjekt das Leid der Welt trägt. Fällt so die Erlösung der
Welt von sich selbst und die Erlösung Gottes von den Leiden der
Immanenz in Eins, so ist in der Universalerlösung ein Ziel gefunden,
das ebensosehr Ziel Gottes als Ziel der Welt genannt werden muss;
es ist dieses aber auch das einzige angebbare Ziel, das diese Be-
dingung erfuUt und damit jede Möglichkeit eines Interessengegen-
satzes zwischen Gott und Welt aufhebt. Für das religiöse Bewusst*
▼. Hartmann, Die Beligion des Gkistes. 17
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258 B. n. Die Mebm^hyBik des leUgiösen Subjekts.
sein ist der Weltprocess eine einsige grosse Tragödie, in der eil
Schauspieler alle Bollen spielt, Helden und BOsewichter, Statisten und
Chor, aber so, dass er in jeder Rolle die dargestellten Leiden wirklich
durchlebt und fühlt; nachdem der Schauspieler in jeder einzelnen
Rolle sein tragisches Ende gefunden, schliesst endlich das ganze
Stück als Tragödie, und er begiebt sich, erlöst von den Leiden des
Spiels, zur Ruhe. Bei jeder individuellen Partialerlösung triumphirt
die Idee nur partiell und provisorisch im Untergänge ihres Trägers,
in der üniversalerlösung universell und definitiv; bei der ersteren
fällt das Ziel der Idee nicht mit dem Untergang ihres Tragers un-
mittelbar zusammen, wohl aber bei der letzteren. Aus beiden Gründen
ist die Versöhnung bei der individuellen Tragik unvollkommoi, bei
der universellen vollkommen, welche zugleich die absolute Tragik und
der absolute Triumph der ihren Endzweck ohne Best verwirklichenden
Idee ist.*)
Hieraus geht hervor, dass nur die in Eins fallende Universalerlösung
Gottes und der Welt Endzweck des Weltprocesses sein kann, dass
aber alle sonstigen objektiven Zwecke, z. B. die möglichst voUkommwe
Verwirklichung des religiösen Verhältnisses in der Menschheit, nur
Mittelzwecke zu diesem Endzweck sein können. Solche Mittelzwecke
fordert das religiöse Bewusstsein ebenso gebieterisch, wie es die üniversal-
erlösung als Endzweck verlangt. Die Welt muss nicht bloss, so lange
sie besteht, erlösungsbedürftig sein, sondern sie muss auch erlösungs-
fähig, d. h. so beschaffen sein, dass das Ziel der Universalerlösung
durch sie für sie erreicht wird. Als erlösungsbedürftige muss die
Welt, so lange sie besteht, vom Uebel sein, d. h. nicht etwa eine
solche, in der nur Uebel und Unlust ist, sondern eine solche, in der
überwiegend Uebel und Unlust, oder deren eud&monistischer Werth
negativ ist; als erlösungsfthige muss die Welt gut zur Erfttllung
ihres Zweckes sein oder einen positiven teleologischen Werth haben.
Das religiöse Bewusstsein postulirt also ebensosehr den eudämono-
logischen Malismus (ungenau, aber herkömmlich, als Pessimismus be-
zeichnet) wie den teleologischen Bonismus, welcher mit Rücksicht
auf die ebenfalls postulirte Allweisheit Gottes sich superlativisch zum
*) Vgl. „Phänomenologie des sitü. Bewnsstseins", Schlusskapitel, S. 840—819,
863—871 ; „Das religiöse Bewusstsein der Menschheit im Stufengang seiner Ent-
wickelung*', S. 165—181, 197—198, 288—293, 318—320, 331—337, 414—423,
356—461, 582—585, 614—618.
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2. Die rallgi56e Kosmologie. 259
Optimismas steigert; eudftmonologischer Pessimismus und teleologischer
Optimitoraö decken sich in der religiösen Weltanschauung haarscharf
mit der Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungsfahigkeit der Welt.
Der Mangel an eud&monologischem Pessimismus und teleologischem
Optiinismus ist in gleichet Weise nicht nur ein Mangel, sondern eine
Störung und Untergrabung des religiösen Bewusstseins, das sich nur im
Widöfsprudi gegen eine mit solchen Mängeln behaftete Weltanschauung
behaupiten kann. Diese Mängel sind wiederum gleichmässig vertheilt
auf den abstrakten Monismus und Theismus; ersterer besitzt den
eudämonologisoben Pessimismus, letzterer den teleologischen Optimis-
mus und jeder negirt prinoipiell die andere Seite, obschon nicht ohne
ihr im Widerspruch mit dieser principiellen Negation einen gewissen
Platz in seiner religiösen Weltanschauung einzuräumen. So statuirt
sowohl der Brahmanismus wie der Buddhismus eine Universalerlösung,
ersterer in der allmählichen Rückkehr aller Geschöpfe durch das
Brahmanenthum hindurch zu Brahma im Wege der Seelenwanderung,
letzterefr in der Medlichen Bekehrung aller Völker zum Buddhismus
und der EJrlösung durch diesen ; diese Hoffnung auf Universalerlösung
gewirint sogar in der sitttichen Weltordnung des Buddhismus eine
bestimmte Unterlage und Norm fär ihre Verwirklichung. Trotzdem
wird sie in beiden Religionen durch den Mangel eines realen, teleo-
logisch geleiteten Weltproeesses illusorisch gemacht, was sich für
die 'Vorstellung darin ausdrückt, dass das erhoffte Ziel in unendliche
Feme gerückt wird, also thatsächlich nichts als der zwecklose Kreis-
lauf der niusion um sieh selbst übrig bleibt.
Der Theismus hingegen statuirt einen eudämonologischen Pessi-
mismus, aber nur far die Welt in ihrer gegenwärtigen Phase, welche
eberi'duröh den teleologischen Optimismus überwunden werden soll;
diese Arinahme ist indess für den schlechten Zustand der Welt in der
Gegenwart ein schreiender Widerspruch gegen die allweise, allmächtige
und allgütige Person des selbstbewussten Schöpfers, für den zukünf-
tigen glückseligen Phantasiezustand der Welt ein krasser Rückfall
aus der Erlösungsreligion in die eudämonistische Pseudoreligion. Indem
der Theismus den positiven Glückseligkeitszustand der erlösten Welt
in ein der Erfahrung und Begreiflichkeit gleichermassen entrücktes
Jenseits hinausprojicirt, vertuscht er für das religiöse Bewusstsein den
piinoiiüellen Mangel, dass die Religion dann aufhört, Bedürfiiiss zu
sein, wenn die Erlösungsbedürftigkeit aufgehört hat, und ködert den
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260 B. n. Die Metaphyfik das roligidBen Subjekts.
irreligiösen eudämonisüschen Egoismus mit der Yorspiegelong eiuer
positiven Seligkeit, der er ein pseudo*religiöses Mäntelchen umzuhängen
weiss. In Bezug auf den gegenwärtigen üblen Zustand ergiebt sicln
für den Theismus die unlösbare, weil in sich widerspruchsvolle Auf-
gabe, den persönlichen selbstbewussten Schöpfer wegen seiner Schöpfang
zu rechtfertigen, d. h. das Problem der Theodicee.
Nicht dämm handelt es sich bei der Theodicee, naehzuweisen,
warum das Uebel überhaupt unvermeidlich in der Welt ist, soodezn
darum, warum eine Welt mit überwiegendem üebel, also eine
Welt, die im Ganzen vom Uebel ist, geschaffen werden musste; nicht
darum, nachzuweisen, warum, wenn eine Welt geschaffen, werden
musste, eine überwiegend üble Welt herauskommen musste, sondern
darum, weshalb der allwissende und allgütige Schöpfer nicht eine
Schöpfung unterliess, von der er wissen musste, dass sie, sei es
durch innere Nothwendigkeit des weltlichen Daseins überhaupt, sei
es durch einen geschöpflichen Missbrauch der verliehenen Freiheit
übel ausfallen oder übel werden musste. Wenn die Welt ursprüng-
lich gut geschaffen war, aber durch den geschöpflichen Missbrauch
der Freiheit sich verschlechterte, so ist erstens unverständlich, warum
dem widergöttlichen Freiheitsgebrauch gewisser Geschöpfe eine Ver-
schlechterung der gesammten Schöpfung, sei es als natürliche Folge,
sei es als göttliche Strafe, nachfolgen musste ; zweitens aber wird entr
weder durch Annahme der Unkenntniss Gottes über den geschöpf-
lichen Freiheitsgebraueh seine Allwissenheit oder durch Annahme
seiner Schöpfungsthat trotz dieser Kenntniss seine Allgüte aufgehoben.
Denn die Auskunft, dass der allgütige Gott den Geschöpfen den
Missbrauch der Freiheit gestatte, um sie erst durch Strafen zu quälen
und . dann zu erlösen, kann so wenig ernsthaft genommen werden,
wie die Güte eines Menschen, der einen andern erst in einen Sumpf
spazieren lässt, bloss um ihm nachher heraus zu helfen. Es ist ja
richtig, dass Gott das Leid für die Erziehung der Menschen zur
Sittlichkeit ausdrücklich hätte erfinden müssen, wenn es nicht schon
eo ipso in jeder Welt der Individuation mitgesetzt wäre;*) aber wenn
ohne Leid die Individualgeister nicht von der Selbstsucht und dem
Bösen zu heilen sind, und andere als selbstsüchtige und dem Bösen
*) Vgl. meine Schrift: „Zur Geschichte und Begründung des PeBSimisDias'S
Nr. IV: ^Die Bedeutung des Loids*^
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2. Die religi()8e Kosmologie. 261
verfallene Individualgeister nicht erschaffbar sind, warum denn über-
haupt solche schaffen? Producirt man denn Zöglinge, bloss um die
Erziehungsanstalten damit zu füllen, oder plagt man nicht vielmehr
die Zöglinge erst darum mit Zucht, weil sie ohnehin schon einmal
da sind ? Der Einzelne, der das Leben als gegebene Thatsache vor-
fiodet, hat freilich das Leid in demselben nach Kräften zu seiner
sittlichen Veredelung und Stählung zu werwerthen; giebt dies aber
eine Entschuldigung Gottes für die Erschaffung einer Welt, in der
man sich durch Leiden stark macht zur Selbstverleugnung und Selbst-
aufopferung P
Alle Versuche, die wesentliche und unabänderliche üble Beschaffen-
heit eines aus natürlichen Individuen bestehenden Universums zu
Gunsten einer bloss aufgepfropften bei Seite zu schieben, verfehlen
gänzlich ihren Zweck, schon dadurch, dass sie durch Entlastung
Gottes von der Verantwortlichkeit für das Uebel seine Absolutheit
aufheben ; so kommt denn der Theismus schliesslich doch wieder auf
das Eingeständniss zurück, dass das Uebel unvermeidlich war, wenn
eine Welt geschaffen werden sollte, unbeschadet dessen, dass in der
einmal geschaffenen Welt auch das unvermeidliche Uebel seine
teleologische Verwerthung findet. Denn ohne natürliche Weltordnung
als Basis ist keine gesetzmässige Selbstbestimmung der Individuen,
also keine sittliche Weltordnung, und ohne die Grundlage der Natür-
lichkeit ist keine Individuation, also auch kein Individualgeist möglich;
die Basis der Natürlichkeit und Naturgesetzmässigkeit belastet aber
jedes Geschöpf von aussen und innen mit überwiegendem Leid, von
aussen durch die seinem beschränkten Willen gegenüberstehende
Macht der widerstrebenden Welt, von innen durch die Unersättlichkeit
des Wollens, das nach jeder Befriedigung sich neue und weitere
Ziele steckt.
Dies ist nun ganz richtig; aber eben weil es richtig ist, bleibt
es auch richtig für jeden möglichen Weltzustand, für jede mögliche
aus Individuen bestehende Welt, macht also den geträumten Glück-
seligkeitszustand einer erlösten Welt illusorisch, d. h. den eudämono-
logischen Pessimismus zu einem endgültigen und unaufhebbaren
Bestandtheil der religiösen Weltanschauung. Andererseits aber macht
diese Wahrheit von der Unvermeidlichkeit des überwiegenden Uebels
in jeder möglichen Welt jede Theodicee auf theistischer Basis erst
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262 B. IL Die Metaphysik des reKgiosen Subjekts.
recht unmöglich ; *) denn sie stellt den Mensehen vor die AItefn»övie,
entweder Gottes stetige Schöpfung als unter dem Zwange elöertm-
ausweichlichen inneren Nothwendigkeit stehend, also Gottes ^rsönliche
Freiheit als aufgehoben zu denken, oder aber den von seiner fteiheit
gemachten Gebrauch als einen diabolischen zu verurth!eilen. Im
ersteren Falle geht die KoUe des Absoluten von dem persönMien
Gott auf dasjenige hinter ihm liegende Moment über, desaen Nötti-
wendigkeit über seinen Willen herrscht; der persönliche Gott" bliebe
zwar Gott, hörte aber auf, absolut zu sein. Im anderen Falle bliebe
er zwar absolut, hörte aber auf, Gott zu sein; denn ein Gbtt, der
gezwungen wäre, wie ein Teufel zu handeln, obwohl er als allgütiger
Gott das Umgekehrte wollen' müsste, wäre so wenig noch ein Qott
zu nennen, wie Satan selbst. Teuflisch grausam wäre es in der That,
mit bewusster Willkür Geschöpfe ungefragt ans dem Frieden des
Nichts hervorzurufen, um sie zu Trägern des Weltleides zu machen.
Im abstrakten wie im konkreten Monismus ist es letzten Indes
Gott selbst, der als absolutes Subjekt in den eingißschTänkten Sub-
jekten das Weltleid trägt, wobei er sich dann auf den Satz berufen
kann: volenti non fit injuria; aber im Theismus erscheint er hart
und lieblos genug, das Weltleid von sich abzuwälzen auf unschuldige,
dd hoc geschaflfene Substanzen, und dies gerade ist es, was den
Monotheismus zum Monosatanismus umprägt.
Dieses Ende der Versuche einer Theodicee zeigt am deutlichsten,
dass die Stellung der Aufgabe irrthümlich sein muss, d. h. auf
falschen Voraussetzungen beruht. Ist die Welt vom'TJebel, so kann
sie schlechterdings auf keine Weise das Werk eines persönlichen
Gottes sein; ist aber Gott weder selbstbewusst noch persönlich, so
bedarf er für die Weltschöpfung einer Eechtfertigung im gewöhn-
lichen Sinne überhaupt nicht mehr, um so weniger, wenn die Welt
nicht mehr eine geschaflfene Substanz ausser Gott, sondern die Er-
scheinung des göttlichen Wesens selbst ist. Dann gewinnt die Auf-
gabe eine ganz andere Gestalt; es handelt sich nicht mehr darum,
den als persönlich vorausgesetzten Gott zu rechtfertigen, sondern zu
untersuchen, ob die für das religiöse Bewusstsein bereits feststehenden
Bestimmungen Gottes ausreichen, um seine leidvolle Welterscheinung
zu erklären, oder ob und welche Modifikationen oder neue Be-
*) Vgl. „Biedermanns Dogmatik", § 649—651.
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2. Die religiöse Kosmologie. 263
stinumu^en hinzugefugt werden müssen, um die Existenz der Welt
trotz ihrer ühlen Beschaffenheit erklärlich zu machen.
Soviel aber geht mit Bestimmtheit aus allen Versuchen einer
Thieodicee hervor, dass der eudämonologische Pessimismus und teleo-
logische Optimismus nur dann ohne Widerspruch zu vereinigen sind,
wenn beide gleich unbedingte Geltung haben, d. h. für die ganze
Dauer des Weltprocesses in Kraft bleiben. Das Endziel des teleo-
logischen Optimismus bleibt auch hier die Aufhebung des eudämono-
logischen Pessimismus, aber nicht mehr durch Aenderung des Welt-
znstandes, sondern durch Aufhebung des Weltdaseins, d. h. durch
eine absolut versöhnende absolute Erlösungs-Tragik. In dieser Ver-
einigung des eudämonologischen Pessimismus und teleologischen Optimis-
mus, wie nur der konkrete Monismus sie zu bieten vermag, erweist
der letztere sich abermals als die höhere Synthese von abstraktem
Monismus und Theismus, welche die gedanklich berechtigten und
religiös werthvollen Seiten beider konservirt und die aus ihrer Ein-
seitigkeit entspringenden Unzulänglichkeiten und Widersprüche über-
windet.
Die Allmacht Gottes, wie wir sie oben als Postulat des religiösen
Bewusstseins. abgeleitet haben, besagt, dass Gott Alles machen kann,
was er will, oder Alles verwirklichen kann, was er denkt; aber sie
besagt nicht, dass Gott auch unmittelbar machen könne, dass er
nicht wolle. Ob auch dieser letztere Fall mit unter den Begriff der
Allmacht einzubeziehen sei, bleibt näherer Untersuchung vorbehalten.
Wäre es der Fall, so bliebe es schlechthin unbegreiflich, warum Gott
mit der Universalerlösung auch nur einen Augenblick zögert, da er
nur zu machen braucht, dass er nicht wolle, damit die Welt aufhöre,
dazusein; die Thatsache, dass die Welt mit ihrem Leide fortbesteht,
und die Universalerlösung in eine, wenn auch endliche, so doch
relativ ferne Zukunft gerückt bleibt, macht es unbedingt zu einem
Postulat des religiösen Bewusstseins, obige Frage zu verneinen. Der
Begriff der Allmacht, wie er vom religiösen Bewusstsein vorher
postulirt war, bleibt von dieser Verneinung unberührt, ja er erfährt
sogar noch eine Bereicherung; denn indem an der Erlösungsfähigkeit
der Welt festgehalten wird, und die Universalerlösung nur durch das
Aufhören des göttlichen Wollens erreichbar ist, muss das religiöse
Bewusstsein Gott die Möglichkeit zuschreiben, mittelbar, nämlich durch
Vermittelung des Weltprocesses, zu machen, dass er nicht wolle.
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264 B- n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
Die für heute geltende Erwägung, dass es Gott ummöglich sein
müsse, unmittelbar zu machen, dass er nicht wolle, gilt natflrlidi för
jeden Zeitpunkt während der Dauer der göttlichen Willensaktualität
oder für jeden Augenblick des Weltprocesses ; also gilt sie auch für
den ersten Augenblick des Weltprocesses, für den Moment der Schöpfung.
Wenn Gott einmal wollte, so konnte er nicht unmittelbar machen,
dass er nicht wollte ; das Anheben seines WoUens setzte in ihm einen
Zustand, den er nicht unmittelbar, sondern nur durch Vermittelung
des Weltprocesses rückgängig machen konnte. Alles stellt unmittelbar
in Gottes Macht — nur nicht seine Macht selbst; alles hängt von
seinem Willen ab, nur nicht ohne Weiteres sein Wille selbst Das sind
streng genommen tautologische Sätze, aber es ist nöthig, dieselben
ausdrücklich zum Bewusstsein zu bringen, weil ia ihnen der Schlüssel
zum Verständniss dafür liegt, weshalb die Vermittelimg der Universal-
erlösung durch einen umständlichen leidvollen Weltprocess noth-
wendig sei.
Wir sahen oben, dass das Weltdasein «ammt dem Weltprocess
in einer endlichen Zeitferne begonnen haben muss, und dass vor dem-
selben keine Zeit und keine Thätigkeit in Gott gewesen sein kann.
Es liegt da die Frage nahe, auf welches der uns bekannten göttlichen
Attribute der Anstoss zur Vertauschung der ewigen Euhe nüt der
zeitlichen Thätigkeit zurückzuführen sei, oder ob zur Erklärung des-
selben ein drittes angenommen werden müsse. Die Allweisheit der
logischen Idee kann es nicht sein ; denn dieselbe entfaltet sich erstens
nicht spontan und bedingungslos, sondern erst aulf gegebenen Anlass,
d. h. konditional, und zweitens ist die Entfaltung der Allweisheit
gerade auf die Universalerlösung, also auf die Äückgängigmachnng
und Negation jener Vertauschung gerichtet, kann also nimmennehr
ihr positiver Grund sein. Das andere Attribut, die Allmacht oder
der Wille, entspricht hingegen ganz und gar den Ansprüchen, welche
das Denken an das Moment der Initiative zu stellen hat. Gebührt
dem Willen die Initiative, so ist damit ausgesprochen, dass er aus
der Potenz in den Aktus trat, ohne dass die Weisheit der logischen
Idee bei diesem üebergang betheiligt und mitthätig war; diese Er-
hebung des Willens aus der Potenz in den Aktus, welche zugleich
die unbestimmte Zeit als Form dieses Aktus setzte, musste aber auch
schon in demselben Moment, wo sie vor sich ging, also ohne irgend
welche zeitliche Pause für die Allweisheit der logischen Idee zum
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2. Die religiöse Kosmologie. 265
Anlass ihrer Entfaltung werden, und diese Entfaltung konnte sich nur
auf die absolute Erlösung, und bei Ausschluss ihrer unmittelbaren
Verwirklichung auf ihre mittelbare Herbeiführung richten.
Es könnte nun zunächst scheinen, als ob der Wille, als Moment
der Initiative das «Bass» der Welt ausreichend bestimmt und der
Idee nur die nähere Bestimmung des «Was und Wie» übrig gelassen
h&tfee; das ist auch in gewissem Sinne ganz richtig, nämlich wenn
man die auf Erlösung gerichtete Thätigkeit als selbstverständlich schon
voraussetzt, ohne sie weiter zu erwähnen, aber es ist nicht richtig,
80 lange man von derselben noch abstrahirt, oder sie selbst für
erklänmgsbedürftig ansieht. Denn der Wille allein ohne die entfaltete
Idee ist noch ein schlechthin unbestimmter leerer Drang, ein Sehnen
nach wirklichem erfüllten Wollen, das sich zu letzterem wie Potenz
zum Aktus verhält, obwohl es sich zum ruhenden Willen wie Aktus
zur Potenz verhält. Die Welt ist als «Welt» schon «Was», gleich-
viel welcher besonderen Beschaffenheit sie sein mag; das noch un-
bestimmte Wollen will nur überhaupt, ohne schon etwas Bestinmites
zu wollen, kann also auch nicht schon wollen, dass eine «Welt» sei.
Wäre dieser Zustand für Gott erträglich, so brauchte die Weisheit
nicht in's Spiel zu treten, um ihn zu beseitigen; dass die Weisheit
dem leeren Willensdrang zum wirklichen Wollen verhilft, indem sie
ihm die Weltidee als Inhalt giebt, das erst macht, dass eine Welt
ist. Darum ist auch die Weltexistenz, abgesehen von ihrer Beschaffen-
heit erst dadurch erklärbar, dass sie ein von der Weisheit teleologisch
gesetztes Mittel zu einem nicht in ihr selbst liegenden Zweck ist ; zur
Produktion einer «Welt» kann der leere WoUensdrang nur dann der
Weisheit Anlass geben, wenn er ein grösseres Uebel ist als dasjenige,
was durch die Weltproduktion gesetzt wird.
Hieraus geht hervor, dass Gott erst durch seinen Zustand als
transcendenter Gott dazu kommt, immanenter Gott zu werden, dass
er als transcendenter Gott in noch höherem Grade erlösungsbedürftig
ist, wie als immanenter, und dass er das immanente Weltleid über
sich nimmt, um durch die Universalerlösung sich nicht bloss von der
immanenten, sondern auch von der trauscendenten TJnseligkeit zu
befreien. Die transcendente TJnseligkeit Gottes, oder die TJnseligkeit
Gottes als trauscendenten, liegt eben in der unendlichen Nichtbefrie-
digung eines unendlichen, und darum unmöglich zu befriedigenden,
Wollensdranges; und die Erlösung Gottes liegt in der durch die
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266 B. n. Die Metaphysik des religiösen Subjekts.
Welterlösung zu erzielenden üniversalwillensvemeinung, d. h. in der
Rückkehr des Willens aus dem Zustande der Aktualität in den der
Potenzialität. So ist die Welterlösung Mittel zur Gotteserlösung
und das Weltleid Mittel zur Wclterlösung; die Welterscheinung des
göttlichen Wesens aber ist die teleologische Steigerung der trans-
scendenten ünseligkeit um den Betrag der immanenten für die end^
liehe Dauer des Weltprocesses, um dadurch einer unendlich«! Dauer
der trajiscendenten ünseligkeit vorzubeugen.
Hierdurch erhält die absolute Tragik des religiösen Bewusstseins
ihre letzte Vertiefung; die Endlichkeit des Weltschmerzes erhebt sich
zur Unendlichkeit des Gottesschmerzes, und Gott, der bereits als
Träger des endlichen immanenten Weltleides erkannt war, wird nun
zum Träger der endlichen immanenten und der unendlichen trans^
scendenten ünseligkeit. Das religiöse Bewusstsein aber nimmt mit
seinem individuellen Mitgefühl an diesem unendlichen Gottessehmerz
Theil, vor dem aller endlicher Schmerz in das Nichts relativer
Bedeutungslosigkeit versinkt, und der Mensch, der sich mit diesran
Träger der absoluten Tragik wesenseins weiss, streift - in dem Mit-
gefühl mit dem unendlichen Gottesschmerz die letzten Schlacken
egoistischer Feigheit und Trägheit ab, und giebt sich mit seinem
ganzen Wollen und Vermögen dem teleologischen Erlösungsprooess
hin. Mag auch seinem beschränkten Blick das Wann und Wie der
Universalerlösung vorläufig unerkennbar sein, er lässt sich nicht irre
machen an den Postulaten seines rehgiösen Bewusstseins, der Eriösungs-
bedürftigkeit und Erlösungsfähigkeit der Welt, und hält fest an der
vertrauenden Zuversicht, dass die göttliche Allweisheit durch ihre
teleologische Weltordnung den Weltprocess zu dem religiös gefor-
derten Ziele führen werde.
Die Welt ist einerseits ein Nichtseinsollendes, insofern das eigent-
lich Nichtseinsollende, das Wollen, sich in ihr kontinuirt, und sie
nicht wäre, wenn alles so wäre, wie es sein sollte, d. h. wenn da*
Wille in seiner ursprünglichen Potenzialität verblieben wäre. Als
Konsequenz des ursprünglich Nichtseinsollenden ist auch sie absolut
genommen mit dem Charakter* des NichtseinsoUens behaftet ; als Mittel
zur Redressirung des ursprünglichen Nichtseinsollenden ist sie ein
relativ oder konditional Seinsollendes, nämlich unter Voraussetzung
des ersteren Seinsollendes. Als absolut Nichtseinsollendes ist sie selbst
erlösungsbedürftig, als relativ SeinsoUendes ist sie erlösungs&hig nicht
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2. Die religiöse Kosmologie. 267
nur far sidh, d. h. för Gott ak immanenten, sondern far das Nicht-
seinsollende überhaupt, d. h. Gott als transcendenten in seinem WoUens-
dsasg. An sich ist sie vom TJebel, für Gott ist sie gut und darum
aaeh für sich, insofern ihr Wesen Gottes Wesen ist ; vom Uebel ist
«ev itodem sie zu Gottes transcendenter Unseligkeit einen zeitlichen
Zuwachs bildet, aber zum Frommen, indem sie die ewige Aufhebung
derselben vorbereitet und herbeiführt
Diese Unterscheidungen sind darum noch nirgends durchgeführt,
weil der abstrakte Monismus keine Unterscheidung zwischen Gott als
transoendentem und Gott als immanenten kennt, weil dagegen der
Theismus zwar diese Unterscheidung kennt, aber ein Nichtseinsollendes
in Gott als transcendentem leugnet. Der abstrakte Monismus, der,
wie wir oben sahen, jede individuelle Schuld in der Welt illusorisch
macht, legt desto mehr Gewicht auf das Nichtseinsollende der Welt
im absoluten Sinne ; wahrend ihm das Uebel unter der Hand zerrinnt,
indem es zum Inhalt des Scheins herabgesetzt wird, bleibt die That-
sache des Scheins das unlösbare Urproblem und zugleich das gegen-
über der ruhenden Einheit des bestimmungslosen Seins schlechthin
Nichtseinsollende. Nicht das Was der Scheinwelt, sondern ihr Dass,
zdeht der Inhalt des Scheins, sondern sein Vorhandensein als Schein
wird nun der Punkt, auf welchen das Schuldbewusstsein sich heftet
und zusammenzieht; je gleichgültiger der Inhalt des Scheins, desto
tiefer wird das Nichtseinsollen seines Scheindaseins empfunden, und
sein schmerzlicher Scheininhalt als Strafe dieser Schuld vorgestellt,
welche zugleich bestimmt ist, sie zu sühnen, d. h. das Nichtsein-
sollende aufzuheben. Nun ist allerdings diese Uebertragung des
Schuldbegriflfes auf das Absolute nicht mehr als eine vage Analogie,
weil alle Vorbedingungen einer Schuld (die sittliche Weltordnung,
das Bewusstsein, die Verantwortlichkeit u. s. w.) im Absoluten fehlen ;
aber es soll diese Uebertragung auch nur ein anthropopathisches
Gleichniss fttr den Begriff des Nichtseinsollenden darstellen, der als
letzter und tiefster Kern auch dem Schuldbegriff zu Grunde liegt.
Im Menschen ist die sittliche Weltordnung die Norm, nach welcher
das Nichtseinsollende bestimmt wird; im Absoluten ist es die Weis-
heit oder der vernünftige Charakter der Idee, welche das Wider-
vernünftige, wie der erhobene Wille es ist, als nicht sein sollend
charakterisirt.
Im abstrakt-monistischen Begriff der absoluten Schuld and Sühne
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268 B. n. Die Metaphysik des religidsen Subjekts.
findet alsp die tiefsinnige Wahrheit ihren bildlichen Ausdruck, dass
die Welt einem Nichtseinsollenden in Gott ihren Ursprung verdankt,
und dass das diesem Nichtseinsollenden gegenüber relativ nichtige
Leid der Welt den Weg zur Aufhebung desselben bildet. Diese tief-
sinnige Wahrheit fehlt dem Theismus gänzlich; dagegen hat dieser
vor dem abstrakten Monismus wiederum die Realität des Weltleids
und des zur Erlösung dienenden Weltprocesses voraus, deren Mangel
die an und fQr sich tiefere Wahrheit des abstrakten Monismus vOUig
entwerthet. . Der konkrete Monismus liefert auch hier die Synthese
der einseitigen Wahrheiten beider Standpunkte, indem es den un-
bestimmten Wollensdrang in Gott als das Nichtseinsollende sowohl
für die Idee als für die Empfindung Gottes als transcendenten auf-
zeigt; ersteres entspricht der transcendenten Schuld, letzteres dem
transcendenten üebel, und die Universalerlösung durch den Welt-
process ist somit auch- für Gott eine zweiseitige, die der zweiseitigen
Individualerlösung von Schuld und Uebel korrespondirt.
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C. Religionsethik.
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I. Der subjektive Heilsprocess.
1. Die Erweckimg der Gnade.
Der Heilsprocess ist der Process, durch welchen das Heil ver-
wirklicht wird; das Heil aber ist nicht etwa als positive Seligkeit
oder Olückseligkeit zu verstehen, sondern es ist der Zustand des
normalen Seins gegenüber einem abnormen, oder der seinsollende
Zustand gegenüber dem nichtseinsollenden. Der Heilsprocess ist dem-
nach der Process der restitutio in integrum, die Aufhebung des Nicht-
seinsollenden oder Abnormen und die Herstellung des Seinsollenden
oder des normalen Zustandes ; in negativer Hinsicht ist dieser Process
Heilung, in positiver Heiligung. Je nachdem das absolute Subjekt
als individuell eingeschränktes Subjekt oder als universell immanenter
Gott in's Auge gefasst wird, ist der Heilsprocess ein subjektiver oder
objektiver Process ; im ersteren Falle ist die Heilung oder Erlösung
das Mittel zur Heiligung, während die Summe aller subjektiven
Heiligungsprocesse doch wieder in letzter Instanz nur Mittel zur
universellen Erlösung ist
In der Religionspsychologie hatten wir gesehen, dass die religiöse
Funktion zugleich göttliche und menschliche Funktion, Gnade und
Glaube sein muss, und dass sie nur als numerisch identische, aber
doppelseitige Funktion das Band eines wahrhaft religiösen Verhält-
nisses, d. h. eines solchen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott
sein kann, welches das Ziel der religiösen Sehnsucht, die reale Einheit
des Menschen mit Gott, erfüllt. In der Theologie haben wir femer
gesehen, dass Gott, um mit dem Menschen eine und dieselbe iden-
tische Funktion produciren zu können, als unbewusster und unpersön-
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272 CJ. L Der salqektiTe Heikpiooesg.
lieber absoluter Geist gedacbt werden miiss, der dem Weltprocess
immaneDt ist und in seiner Identität mit der dem Weltprocess imma-
nenten absoluten sittlichen Weltordnung zugleich Geist der Heiligkeit
und Heiligung, oder beiliger Geist, ist. In der religiösen Anthropologie
endlich haben wir gesehen, dass die funktionelle Identität von Gnade
und Glaube nur möglich ist auf Grund einer substantiellen Identität
von Gott und Mensch, welche den existentiellen Unterschied beider
in voller Schärfe und Gegensätzlichkeit bestehen lässt, und dass die
Gnade, oder die Immanenz Gottes als des heiligen Geistes, sich als
positiv göttliche oder eminent göttliche Funktion von allen unter-
göttlichen (natürlichen) und widergöttlichen (bösen) Funktionen inner-
halb der den Menschen konstituirenden Funktionengruppe unterscheidet.
Ohne die Voraussetzung der substantiellen oder ontologischen Wesens-
identität von Gott und Mensch kommt es zu keiner realen Einheit
beider und wird die Immanenz Gottes im Menschen aus dem natür-
lichen und wesenhaften Grundverhältniss beider zu einem magisch-
supranaturalistischen Wundereingriff entstellt; ohne Unterscheidung
der positiv göttlichen Sphäre von der widergöttlichen und untergött-
lichen innerhalb der teleologischen Weltordnung bleibt die Wesens-
identität von Gott und Mensch ein bloss natürliches Verhältniss, ohne
zu einem religiösen und sittlichen Verhältniss zu werden. Indem aber
die Gnade nur die positiv-göttlichen Funktionen im Gegensatz zu den
widergöttlichen und untergöttlichen befasst, schliesst sie diese Unteiv
Scheidung ebensosehr in sich, wie sie implicite in der funktionellen
Identität mit dem Glauben die Wesensidentität von Gott und Mensch
in sich schliesst; darum ist die Gnade an und für sich das religiöse
Heilsprincip, welches ausreicht, um das vollkommene religiöse Ver-
hältniss zu verwirklichen, und welches in dieser Leistungsföhigkeit
schlechterdings durch nichts anderes ersetzt oder ergänzt werden kann.
Die Gnade ist unverdient vom Menschen als natürlichen empfangen,
denn sie ist gerade dasjenige, was ihn über seine untergöttliche
Natürlichkeit zur positiven Gottgemässheit hinaushebt. Soweit die
aktuelle Gnade durch prädispositionelle Erbgnade vorbereitet und be-
günstigt ist, hat der Mensch sicherlich keinen Grund, sich an dem
Besitz derselben ein persönliches Verdienst zuzuschreiben; er kann so
wenig etwas für deren Besitz wie für den Besitz von Schönheit, Ver-
stand und künstlerischen Talenten. Soweit die Gnade als aktuelle
auf Grund der Erbgnade unwillkürlich hervortritt und ungesucht wie
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1. Die Erweokmig der Gnade. 273
eine Erleuchtung über ihn kommt, kann der Mensch sich ebensowenig
eines Verdienstes an derselben rühmen ; sie kommt und ist da wie
ein von den Göttern geschenkter Augenblick des Glückes, wie ein
sinnreicher Einfall, eine plötzliche Entdeckung, eine weittragende Idee,
eine werthvolle künstlerische Konception, von deren Entstehung der
Mensch sich keine Bechenschafk zu geben weiss.
Freilich ist es auch in Kunst und Wissenschaft Aufgabe des
Menschen, sich durch unablässiges Eingen und unermüdlichen Fleiss
zum Meister zu entwickeln und so sich seiner Begnadigung würdig
zu machen; in demselben Sinne ist es auch Pflicht des Menschen,
durch beständige Aufinerksamkeit sich gegen die ringsum lauernden
Versuchungen zu wafl&ien, durch unablässige sittliche Selbstzucht die
eigene Widerstandsfllhigkeit zu steigern, durch Versenkung in das
religiöse Verhältniss immer neue Kraft zum Kampfe für die göttlichen
Ziele zu schöpfen, und so sich des Besitzes der geschenkten Gnade
immer würdiger zu machen. Wie der Forscher und Künstler immer
mehr seine Gedanken und Konceptionen beherrschen lernt und immer
sicherer wird, dass der gesuchte Einfall zur rechten Zeit sich ein-
stellt, so wird auch der religiös-sittliche Mensch durch fortgesetzte
Arbeit an sich selbst inmier sicherer, dass die erhoffte Aktualisirung
der Gnade im erforderlichen Augenblick nicht ausbleibt, und der so
erzielte Gewinn an Gnade kann wohl ein vom Menschen selbst ver-
dienter genannt werden.
Nur ist dabei zu berücksichtigen, dass der Mensch gerade nur
insoweit fähig ist, sich selbst im Stande der Gnade zu fördern, als
er auf vorgefundener unverdienter Gnade fiisst, also nicht natürlicher
Mensch ist; nur die schon vorhandene Gnade ist es, vermittelst deren
er sich einen Zuwachs an Gnade verdient. Insofern nun der natür-
liche Mensch als solcher eine unwirkliche Abstraktion und die Gnade
selbst ein integrirender Bestandtheil der menschlichen Persönlichkeit
ist, insofern ist in der That alle Gnade menschliches Verdienst zu
nennen, da ja auch die Erbgnade nur durch Kumulation früherer
Gnadenzuwachse zu Stande kommt; insofern es aber bei jedem ein-
zelnen Schritt doch nur die positiv göttliche Funktion innerhalb der
den Menschen konstituirenden Funktionengruppe ist, welche die Er-
hebung über die jeweilig gegebene Mischung von Natürlichkeit und
Begnadetheit herbeiführt, ist die gesammte bisher stattgefundene
Hebung des Niveaus über die abstrakte Natürlichkeit doch ganz und
V. Hart manu, Die BeUgion des Geistes. 13
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274 C. L Ber subjektive Heilsptocöss.
gar göttliches Gnadengeschenk. Praktisch stellt sich die Sache so, dass
der Mensch das Vorgefundene als persönlich unverdient in Bescheiden-
heit hinzunehmen hat, dafür aber desto eifriger an die Arbeit heran-
gehen muss, den vorgefundenen Besitz ebenso wie dessen erstrebte
Mehrung durch eigenste Anstrengung auf Grund des ererbten und
geschenkten Grundvermögens zu verdienen.
Bei der Identität von Gnade und Glaube ist es selbstverständ-
licher Weise gleichgültig, ob man sagt, dass allein durch die Gnade
oder allein durch den Glauben das religiöse Heil komme; das «allein
durch den Glauben» hat aber auch nur dann seine Berechtigung,
wenn es als WechselbegriflF für das «allein durch die Gnade» ver-
standen und gewusst wird, ist also überall da falsch, wo der Glaube
noch nicht als funktionell identisch mit der Gnade begriffen
ist und ihm ein anderer Inhalt zugeschrieben wird als der Funktion
der Gnade. Insbesondere ist das «allein durch den Glauben» überall
da unwahr, wo angebliche oder wirkliche historische Thatsachen als
Glaubensinhalt fungiren, mit denen selbstverständlich die Gnade nichts
zu schaffen haben kann, da sie eine schlechthin gegenwärtige und
inmianente Funktion Gottes ist, also nur durch den gegenwärtigen
inneren Geisteszustand dieses jetzt lebenden Menschen bedingt sein
kann. Jede anderweitige Bedingtheit des religiösen Heils dieses
Menschen durch irgend welche ausserhalb seines gegenwärtigen Geistes-
lebens gelegenen Thatsachen oder Umstände würde das «allein durch
die Gnade» zu nichte machen.
Wo eine bestimmte Religion zu dem «allein durch die Gnade»
oder «allein durch den Glauben» noch andere Bedingungen oder mit-
wirkende Ursachen des religiösen Heils hinzufügt (z. B. : «und durch
das Verdienst Jesu Christi» oder «und durch den von der Kirche
verwalteten Schatz der guten Werke der Heiligen»), da liegt nach der
Seite Gottes eine seine Absolutheit aufhebende Beschränkung seiner
Freiheit in der Gnade vor, nach der Seite des Menschen aber eine
Erschwerung des religiösen Processes durch nicht bloss unnützen,
sondern geradezu störenden Ballast.*) Im günstigsten Falle über-
windet das religiöse Bewusstsein diese erschwerenden Hindemisse und
dringt durch diese unverdaulichen Hülsen zum Kern des wahren, d. h.
*) Vgl- vl^as religiöse Bewusstsein der Menschlieit'', S. 609—614, auch 557— 574
und 585—597 ; „Die Krisis des Christenthums in der modemen Theologie, Abschn. I.
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1. bie firwecküng der Önade. S'fä
mit der Gnade identischen Glanbens hindurch, erreicht also doch nur
das, was es ohne diese sachwidrigen Umhüllungen weit leichter erreicht
hätte ; im ungünstigen Falle nimmt es die Schalen für den Kern und
giebt sich mit der Hoffnung auf zukünftige jenseitige Erreichung des
Zieles über seine diesseitige Unerreichbarkeit zufrieden. Gerade soweit
reicht der religiöse Werth jeder bestimmten Keligion, als sie durch
ihren Glaubensinhalt die Sehnsucht nach dem einzig wahren Heils-
prmcip, der immanenten Gnade, zu wecken, beziehungsweise zu be-
friedigen versteht; die inadäquaten und widerspruchsvollen Vorstellungs-
formen der verschiedenen Religionen haben alle nur den Zweck, auf
verschiedenen Wegen dem allein wahren Heilsprincip näher zu kommen,
und durch die in die Seele geworfenen Funken jene immanente Gnade
im Menschen zu wecken, deren Idee sie in adäquater Gestalt noch
nicht auszudrücken vermögen. Wo aber doch eine bestimmte reli-
giöse Weltanschauung dieser Idee im Ausdruck sehr nahe kommt
(wie z. B. die lutherische Theologie im Begriff der unio mystica),
da erschrickt sie gleichsam selbst vor dem unverhüllten Ausdruck der
Wahrheit, der die ganzen Umhüllungen als Spreu zu verzehren droht;
dann wird solcher der Wahrheit nahe kommender Ausdruck möglichst
rasch wieder verschleiert und für besonders Eingeweihte zurückgestellt,
das Volk aber nach wie vor mit den Schalen anstatt des Kernes ab-
gefüttert.
Welche Vorstellungen auch der Mensch über das religiöse Heils-
princip haben möge, immer wird der subjektive Heilsprocess gerade
nur insoweit realiter angeregt, als durch diese Vorstellungen die
immanente Gnade geweckt und aktualisirt wird, und diese Wahrheit
gilt in gleicher Weise, sei es, dass die Idee der immanenten Gnade
als des Heilsprincips dem religiösen Bewusstsein explicite aufgegangen
ist, oder in anschaulichen Sinnbildern und vorstellungsmässigen Ver-
hüllungen ahnungsvoll implicite erfasst wird, — sei es, dass sie im
ersteren Falle als alleiniges Heilsprincip erkannt ist oder sich mit
anderweitigen Vorstellungen in die Würde des Heilsprincips theilen
muss. Der Entwickelungsgang des religiösen Bewusstseins kann nur
der sein, dass aus allen Sinnbildern und vorstellungsmässigen Ver-
hüllungen mehr und mehr die Idee der Gnade als der ihnen zu Grunde
liegende religiöse Wahrheitskem herausgeschält und die Gnade mehr und
mehr als das allein wirksame Heilsprincip, was sie ist, auch erkannt
und von allen begleitenden Nebenvorstellungen gereinigt wird.
18*
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276 ^' I* ^T^ sabjelctiye Heilsprocess.
Dieser Entwickelungsgang des religiösen Bewnsstseins ist, wie
wir oben gesehen haben, als die objektive Gnade zu bezeichnen, indem
er in der Summe aller subjektiven Gnadenakte eine Objektivität höherer
Ordnung, d. h. eine die Subjektivität nicht mehr ausschliessende, son-
dern einschliessende Objektivität darstellt. Wie die teleologische Welt-
ordnung im Lichte des sittlichen Bewnsstseins als sittliche Weltordnung
erscheint, so erscheint die sittliche Weltordnung im Lichte des reli-
giösen Bewnsstseins als die Heilsordnung der objektiven Gnade. Die
Stelle der objektiven Heilsordnung, an welche der einzelne Mensch
sich gestellt findet, ist entscheidend für seine Erweckung, und diese
Stelle ist in zwiefacher Weise markirt: erstens objektiv durch die in
seinem Volk zu seiner Zeit herrschende Entwickelungsstufe des religiösen
Bewusstseins und die ihm persönlich nahe tretenden Vorbilder des
Glaubens, und zweitens subjektiv durch die persönliche Mitgift an
Erbgnade und deren Verhältniss zu den ererbten bösen Anlagen. Wie
ersteres das objektive Ergebniss der Entwickelung des religiösen
Bewusstseins in der direkten Ahnenreihe seines Volkes darstellt, so
repräsentirt letzteres den subjektiven Niederschlag der Entwickelung
des religiösen Bewusstseins in der direkten Vorfahrenreihe seiner
Person. Zu diesen beiden Resultaten einer ethnischen und fami-
liären phylogenetischen Entwickelungsreihe gesellt sich dann als dritte
mitwirkende Bedingung der Verlauf des individuellen oder ontogene-
tischen Entwickelungsganges ; dieser ist theilweise selbst wieder von
den beiden vorgenannten Bedingungen abhängig, theilweise aber auch
von äusseren Umständen, Schicksalen und Erlebnissen, welche mit
jenen in keinem direkten Zusammenhang stehen.
Man kann auch beide Entwickelungsreihen, insofern sie von der
teleologischen Weltordnung befasst sind, also einen providentiellen
Charakter haben, unter den Begriff der Erziehung subsumiren; die
phylogenetische Entwickelungsreihe wäre dann als göttliche Erziehung
des menschlichen Geschlechts, die ontogenetische als Erziehung des
Einzelnen zu bezeichnen. Das Ergebniss der ersteren tritt dem Men-
schen von aussen als Volksgeist und Zeitgeist gegenüber und wohnt
in seinem Innern als Summe der ererbten Anlagen ; in der Atmosphäre
des Volksgeistes und Zeitgeistes vollzieht sich auf Grund der ererbten
Anlagen die providentielle Erziehung des Einzelnen, theils durch Schick-
sale, theils durch erziehlich einwirkende Personen. Wie die Ontogenese
eine abgekürzte und modificirte Rekapitulation der Phylogenese dar-
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1. Die Erweokung der Gnade. 277
stellt, so bildet auch die Erziehung des Einzelnen eine Wiederholung
der Hauptstufen, in denen das religiös-sittliche Bewusstsein der Mensch-
heit sich entwickelt hat.
Anfangs hat der Erzieher keine Wahl, er muss das Kind als
natürlichen Menschen, d. h. als naiven Egoisten und geborenen Eudäl-
monisten behandeln und durch Furcht und Hoffnung regieren ; er hat
dabei nur dafür zu sorgen, dass nicht aus dem naiven Egoisten ein
raffinirter und principieller werde, dass die moralischen Instinkte
innerhalb des naiven Egoismus gepflegt und gestärkt werden, und
dass das Kind mehr und mehr lerne, den Willen des Erziehers auch
abgesehen von Furcht und Hoffnung aus blosser Pietät vor seiner
Autorität zu erfüllen. Damit ist dann die Stufe der Heteronomie er-
reicht, auf welcher das noch unreife und unmündige Kind sich vor
dem reifen und mündigen sittlichen Willen des Erziehers beugt ; wenn
es auf der eudämonistischen Stufe gelernt hatte, seine anschaulichen
sümlichen Motive den abstrakten, ebenfalls egoistischen Motiven unter-
zuordnen, so lernt es nunmehr seine gesammte egoistische Motivation
sittlichen Zwecken unterordnen, die sich ihm zunächst noch durch
äussere Autorität aufdrängen. Aber der Erzieher bleibt hierbei nicht
stehen, sondern sucht die sittliche Autonomie des Zöghngs zu wecken
und ihn an den Gedanken zu gewöhnen, dass er nur das heteronom
soll, was er autonom wollen würde, wenn seine sittliche Autonomie
schon zur Eeife gediehen wäre ; so lernt der Zögling auf der dritten
Stufe allmählich die pädagogische Autorität durch die Stimme des
eigenen Gewissens ersetzen und seinen natürlichen Menschen in den
Dienst und die Zucht des eigenen sittlichen Willens nehmen. Erst
mit Abschluss dieses Processes ist der Mensch zur sittlichen Keife
und Mündigkeit gediehen, und die Aufgabe der Erziehung beendet.
Wenn der Erzieher auf der ersten Stufe durch Lohn und Strafe,
auf der zweiten durch die Autorität seines befehlenden Willens, auf
der dritten durch die Berufung auf die Uebereinstimmung des Gebots
mit der sittlichen Autonomie des Zöglings regiert, so ist das in der
Ordnung; der Erzieher repräsentirt eben die lohnende und strafende,
befehlende und endlich an das Gewissen appellirende höhere Macht
für den zu erziehenden Einzelnen, welche für die zu erziehende Mensch-
heit durch die Vorstellungen entsprechender Götter repräsentirt werden
musste, weil eine andere Vertretung dieser Ideen nicht möglich war.
Daraus folgt aber auch, das es gänzlich überflüssig wäre, neben der
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278 C. I. Der subjektive Heilsprocess.
Rekapitulation der Phylogenese durch die Person des Erziehers noch
eine zweite Rekapitnlation der Phylogenese im Religionsunterricht
einherlaufen zu lassen, indem man dem kleineren Kinde Gott als
lohnende und strafende Macht, dem mittleren als gebietende Autorität,
und dem reiferen als metaphysischen Grund der sitthchen Autonomie
erklärte. Ein solches Verfahren wäre nicht bloss überflüssig, sondern
geradezu schädlich, weil durch dasselbe die Lüge in den heiligsten
Dingen zum Erziehungsgrundsatz proklamirt würde.
Die unreife Menschheit musste unreife Religionen haben, weil sie
sonst gar nichts gehabt hätte ; der unreife Mensch aber, der statt der
unreifen Religionen den reifen Erzieher hat, braucht solche nicht. Die
Menschheit streift erst unter schweren Kämpfen in langen Geschlechter-
folgen die Irrthümer ihrer Kindheit und Jugend ab; der Einzelne
bleibt in seinem kurzen Leben mehr oder minder in den Lnrthümern
seiner Kindheit und Jugend befangen. Der Erzieher hat sich kein
Dementi zu geben, wenn er mit wachsender Reife des Zöglings sein
erziehliches Verfahren modificirt; wohl aber müsste er sich mehr als
einmal ein Dementi geben, wenn er mit wachsender Reife des Zöglings
die ihm gelehrte religiöse Weltanschauung nach Maassgabe der Ent-
wickelungsstufen des religiösen Menschheitsbewusstseins modificiren
wollte. So wenig wir darum, weil dies der Anfang aller Religion
war, unsere Kinder lehren, dass Gott eine Naturmacht oder ein
zoomorphisches oder anthropomorphisches Einzelwesen sei, so wenig
dürfen wir sie lehren, dass Gott lohne und strafe; denn wenn der
Erzieher diese Lehre später dementiren muss, so wird der ZögUng
mit Recht auch in alles Uebrige das Vertrauen verlieren, was er einst
von ihm gelernt hat oder noch lernt. Ebensowenig dürfen wir unsere
Kinder lehren, dass Gott eine für sich bestehende Persönli<5hkeit sei,
welche nach seinem Ermessen den Menschen heteronome Gebote imd
Verbote vorschreibe und die Beachtung derselben kraft seiner persön-
lichen Autorität berechtigt sei, zu fordern und zu erwarten; auch
diese Lehre müsste später wieder desavouirt werden, und dabei könnte
nur zu leicht der sittliche Inhalt der heteronomen Gebote sammt ihrer
autoritativen Form in die Brüche gehen. Thatsächlich unterrichtet
auch jedes Volk seine Kinder nur in der von ihm zuhöchst errreichten
religiösen Weltanschauung, welche es für absolute Wahrheit hält.
Es ist selbstverständlich, dass mit wachsender Reife des rehgiösen
Menschheitsbewusstseins auch ein höherer Grad von Geistesreife des
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1. Die Erweckung der Gnade. 279
Einzelnen erforderlich ist, um sich die herrschende religiöse Welt-
anschauung anzueignen, d. h. dass mit weiterem Fortschritt der
Religion der Religionsunterricht der Jugend inuner später beginnen
muss, dann aber auch gleich mit der letzterreichten Entwickelungs-
stufe beginnen darf und soll. Insbesondere da, wo die Religion die
Vorstufen des Eudämonismus und der Heteronomie überschritten hat
und auf der Basis der Autonomie ruht, muss unbedingt die Entfaltung
einer gewissen sittlichen Reife bei der Jugend abgewartet werden,
bevor die errungene sittüche Autonomie an die reügiösen Grundideen
angeknüpft und mit religiöser Weihe sanktionirt wird. Darin liegt
keinerlei Gefahr, denn je reifer und mündiger ein Volk ist, desto
besser veranlagte Kinder wird es erzeugen und desto besser wird es
dieselben erziehen. Die Unterweisung in der Religion ersetzt selten
oder nie den Mangel an guten Anlagen und Erziehung, sondern sie
giebt nur der angeborenen und erworbenen sittlichen Gesinnung jene
tiefere Sanktion und höhere Weihe, welche sie vor der Abschleifang
und Zermüxbung im harten Kampf des Lebens schützt; deshalb kommt
sie früh genug, wenn sie erheblich später beginnt, als gegenwärtig
unter den christlichen Völkern üblich ist, welche freilich in der Haupt-
sache noch immer auf der Stufe einer mit Eudämonismus gemengten
Heteronomie stehen. Auf der Stufe der Heteronomie ist der frühe
Beginn der religiösen Belehrung darum ganz folgerichtig, weil es auf
dieser Stufe vor allem auf Einpflanzung einer unbegrenzten Ehrfurcht
vor der göttlichen Autorität ankommt, und eine solche sich in der
That am besten in der frühen gedankenlosen Kindheit erzielen lässt;
aber auf der Stufe der Autonomie, wo es sich nicht mehr um An-
erkennung äusserer Autoritäten handelt, fallt dieser Grund weg, und
statt dessen gewinnt das Bedenken um so grössere Kraft, dass die zu
früh gedankenlos erlernten reügiösen Vorstellungen einen erheblichen
Theü der Motivationskraft einbüssen, welche sie für den Menschen
besessen haben würden, wenn sie nicht schon in früher Jugend zweck-
los abgenutzt wären.
Die Belehrimg über eine religiöse Weltanschauung liefert näm-
üch an und für sich nichts weiter als ein todtes Wissen, das erst
dann im Belehrten religiös lebendig wird, wenn es zum Motiv für
die Anknüpfung eines religiösen Verhältnisses wird; nur dann, wenn
die überlieferten religiösen Vorstellungen zur subjektiven Offenbarung
werden, nur dann lösen sie eben damit die aktuelle Gnade aus, welche
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280 C. L Der subjektive Heilsprocess.
das alleinige Princip zur Hervorbringung des religiösen Heilsprocesses
ist. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die überlieferten religiösen
Vorstellungen hierzu um so geeigneter sein werden, je mehr sie sich
der religiösen Weltanschauung des konkreten Monismus nähern, und
um so weniger geeignet, je ferner sie derselben stehen. Da sich bis-
her keine positive Religion auf der Grundlage des konkreten Monismus
entfaltet hat, so werden alle überlieferten Vorstellungen der gegebenen
Religionen die ihnen zukommende Aufgabe nur unvollkommen erfüllen;
aber man wird von keiner, auch nicht von der relativ niedrigsten
Stufe des Verfalls, sagen können, dass sie absolut unbrauchbar zur
Erweckung der Gnade sei, wenn man sich nur immer gegenwärtig
hält, dass der unbewusste religiöse Trieb in seinem sehnsuchtsvollen
Ahnen über den unvollkommenen und widerspruchsvollen Anschauungs-
und Vorstellungsgehalt des Bewusstseins praktisch hinauszugreifen ver-
mag. So fehlt es nirgends ganz an der nothwendigsten äusseren Be-
dingung zur Erweckung der Gnade, und das Gleiche kann man von
der nothwendigen inneren Bedingung sagen: überall findet sich in
höherem oder geringerem Grade die Erbgnade vor, welche als psycho-
logische Prädisposition für die Aktualisirung der Gnade wirkt. Will
man diese äussere und innere Bedingung als Berufung und Erwählung
bezeichnen, so ist zu behaupten, dass jeder Mensch, sofern er Mensch
ist und unter Menschen lebt, auch berufen und erwählt ist, freilich
in einem ethnologisch und charakterologisch sehr verschiedenen Grade.
Ob dieser Grad der Berufung und Erwählung für ein bestinuntes
Individuum ausreichend sei, um die objektive Macht des Bösen und
die subjektive böse Erbanlage zu überwinden, kann niemand a priori
feststellen; da somit niemand ein Recht hat zu der Annahme, dass
er nicht ausreichend dazu sein werde, so hat er auch keine* Entschul-
digung, wenn er diejenige Anspannung seiner Kräfte versäumt, von
welcher das Gelingen zu erhoffen ist
Denken wir uns nun einen Menschen, der mit der Erbgnade aus-
gerüstet, durch Erziehung zur Reife einer sittlichen Autonomie heran-
gebildet und mit der religiösen Weltanschauung durch Lehre bekannt
gemacht ist, so sind in einem solchen zwar alle Bedingungen zur
Aktualisirung der Gnade gegeben; aber immerhin bedarf es noch be-
stimmter Gelegenheitsanlässe, um den subjektiven Heilsprocess ein-
zuleiten, um die aktuelle Gnade aus ihren psychologischen Vor-
bedingungen hervorspringen zu lassen. Diese Gelegenheitsanlässe zur
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1. Die Erwectong der Gnade. 281
Brweckung der Gnade sind in Erlebnissen zu suchen, welche das
Erlösungsbedürfniss wach rufen, also in schweren liebeln und noch
mehr in dem Gefahl der Schuld. So lange der Mensch als unmündiger
dem Erzieher und dessen heterdnomen Geboten, gegenüberstand, hat
er sein Schuldgefühl durch die Absolution des Erziehers tilgen lassen ;
in dem Maasse aber, als die Heteronomie durch die erwachende
Autonomie ersetzt wird, schwindet auch diese äussere Instanz für die
Tilgung des Schuldgefühls und erwacht das Bedürfhiss nach einer
inneren Befreiung von diesem inneren Zwiespalt mit dem Gewissen.
Wird nun gar der innere Zwiespalt des Menschen mit seinem Gewissen
auf Grund der religiösen Lehren als Zwiespalt des Menschen mit
Gott empfanden (nämlich als Zwiespalt mit der mit Gott zusammen-
fallenden absoluten sittlichen Weltordnung), dann ist der Anlass zum
Beginn des subjektiven Heilsprocesses, nämlich das Erlösungsbedürfiiiss,
da, und dann kann der Moment eintreten, wo das todte Wissen der
überlieferten religiösen Vorstellungen zur lebendigen, selbsterfahrenen
Offenbarung wird. Insofern dieser Moment der Erweckung der Gnade
— denn die Offenbarung ist ja selbst schon Gnade — trotz aller
psychologischen Vorbereitungen plötzlich über den Menschen kommt
und durch eine blitzartige Intuition seinen bisherigen Bewusstseins-
inhalt in eine neue, nämlich religiöse, Beleuchtung rückt, kann man
ihn auch den Augenblick der Erleuchtung (illuminatio) nennen,
oder sagen, dass der Eintritt der Gnade als aktueller bewusster Macht
mit der Erleuchtung anhebe.
XJebrigens ist bei der ganzen Auffassung des subjektiven Heils-
processes der Irrthum fern zu halten, als ob es sich um ein ein-
maliges Geschehen im Menschenleben handele, das in bestimmten
typischen Schritten verläuft und durch seinen Ablauf den Menschen
in den ruhenden unthätigen Besitz des Heils versetze. Hiermit würde
die Erlösungsbedürftigkeit für die Dauer des errungenen Heilszustandes
aufgehoben, was schlechthin unstatthaft ist. Der subjektive Heils-
process ist vielmehr ein stetiger Process, der sich vom Erwachen
des individuellen religiösen Bewusstseins bis zum Tode hinzieht, also
nicht ein einmaliges Geschehen, sondern ein solches, das sich täglich
und stündlich bei jedem Gelegenheitsanlass zu wiederholen hat. Wenn
zum Zweck des vollen Verständnisses dieser sich stetig wiederholende
Heilsprocess in seine einzelnen Momente zerlegt wird und diese in
einer Beihenfolge dargestellt werden, welche das begriffliche posterius
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282 C. I. Der subjektive Heilsprocess.
dem begrifflichen pritcs folgen lässt, so ist doch damit keineswegs
gemeint, dass auch in jedem einzelnen Falle die ideale Beihenfolge
dieser Momente sich anch realiter als zeitliche Folge von Mten oder
Vorgängen darstellt; eine solche reale Auseinanderlegung ist möglich
aber nicht nothwendig, weil je nach den Umstanden verschiedene
dieser Momente bloss implicite gegeben sein können, und sie kann
eine andere ßeihenfolge als die begrifflich entwickelte zeigen, weil
jedes der verschiedenen sich gegenseitig bedingenden Momente das
Ganze repräsentiren und die übrigen Momente ganz oder theilweise
in's Bewusstsein rufen kann.
2. Die Entfaltung der Gnade.
a) Die negative Seite an der Umwandelung der
Gesinnung.
Der psychologische Ausgangspunkt für die Entfaltung der Gnade
ist das Bewusstsein der Schuld. Dieses genügt für sich allein, um
das ErlosungsbedürMss lebendig zu machen, denn es selbst ist be-
kanntlich «der üebel grösstes» ; dagegen ist das Uebel für sich allein
nicht im Stande, ein wahrhaftes, d. h. über die eudämonistisohe Pseudo-
religion hinausgehendes religiöses Yerhältniss einzuleiten, und seine
Hauptleistung besteht darin, die Erkenntniss der Schuld zu befördern
und zu verschärfen.
Das erste psychologische Moment im Schuldbewusstsein ist auch
hier das intellektuelle, oder die Erkenntniss der Schuld, Die Er-
kenntniss der Schuld schliesst implicite die Erkenntniss der eigenen
bösen That und die Erkenntniss der persönlichen Verantwortlichkeit für
dieselbe in sich; in der Erkenntniss, dass das eigene Verhalten böse
war, liegt schon die Anerkennung irgend welcher sittlichen Welt-
ordnung, in Bezug auf welche es böse war. Bei der Entstehung jeder
Schuld ist femer zu unterscheiden die unverantwortliche böse Anlage
des Menschen, oder das radikal Böse, welches ihn principiell dazu
drängt, sich mit der sittlichen Weltordnung in Widerspruch zu setzen,
und die verantwortliche Fahrlässigkeit des Willens, welche der bösen
Anlage in diesem Falle den Zügel schiessen liess; in ersterer Hin-
sicht ist die That principiell böse oder gottwidrig («Todsünde»), in
letzterer Hinsicht ist sie fahrlässig böse («lässliche Sünde»). An
jeder Schuld ohne Ausnahme sind diese beiden Seiten zu unter-
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2. Die Entfaltung der Gnade. 283
scheiden; so weit sie principiell gottwidiig ist, ist sie unverantwortr
liches Produkt des natürlichea Menschen, so weit sie fahrlässige
Verschuldung ist, ist sie verantwortliche That des ganzen Menschen.
Verantwortlich auch in Hinsicht ihrer principiellen bOsen Beschaffen-
heit würde die Schuld nur dann, wenn der ganze Mensch mit voller
Einsicht in die göttliche Weltordnung die widergöttliche Selbst-
bestimmung seines Willens zum Princip erhöbe aus keinem anderen
Motiv als aus Opposition gegen die heilige Weltordnung des absoluten
Geistes; diese Art verstockter Rebellion («Sünde gegen den heiligen
Geist») ist aber in ihrer principiellen Schärfe für psychologisch un-
möglich zu erklären, und wo sie vorhanden zu sein scheint, liegen
ihr immer Irrthümer oder Meinungsverschiedenheit über das Wesen
oder die Existenz Gottes und der sittlichen Weltordnung zu Grunde,
welche bei der Beurtheilung derselben nicht gehörig in Betracht
gezogen worden sind.
Die Erkenntniss der Schuld schliesst also die Erkenntniss ein,
dass man ein solcher war, die Schuld auf sich zu laden, d. h. dass
man einerseits eine principiell böse Natur in sich hat, die zum Bösen
drängte, und dass man andererseits ein so unachtsamer und lässiger
Mensch ist, dieselbe gewähren zu lassen. Dadurch greift die Er-
kenntniss der Schuld über die vereinzelte That hinaus, an welche sie
sich knüpft, und erstreckt sich auf die böse Beschaffenheit der eigenen
Person. Fühlt man sich auch direkt nicht verantwortlich für die
nicht selbst gesetzte böse Natur, so erkennt man in derselben doch
das grösste Uebel, weil dieselbe geeignet ist, den Menschen in immer
neue böse Thaten zu verstricken, für deren jede er, wegen Hinzutritts
der fahrlässigen Verschuldung, sich persönlich verantwortlich weiss.
Der Einblick in die psychologische Determination der einzelnen bösen
That eröffnet ihm somit die Perspektive auf eine ganze Eeihe ähn-
licher böser Thaten und damit auf eine ganze Eeihe von Schuld-
gefühlen gleich dem gegenwärtigen. Wäre die gegenwärtige Schuld
ein zufälliges vereinzeltes Faktum, so könnte der Mensch bei einiger
Leichtherzigkeit sich eher über dieselbe hinwegsetzen; indem er aber
die Einzelschuld durch den Rückgang auf ihre Quelle, seine eigene
böse Natur, als Glied in einer ganzen Kette begreifen lernt, erhält
dieselbe eine wesentlich veränderte typische Bedeutung und ein
drohendes Gewicht, wie ihr solches in ihrer Isolirung niemals hätte
beigemessen werden können.
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284 C. I. Der subjektive Heiißprocess.
Wendet nun der Mensch seinen Blick zurück auf die Einzelheit
der gegenwärtigen Schuld, als auf den zunächst gegebenen Punkt der
Bethätigung, so erwacht in ihm der Wunsch, anders gehandelt zu
haben, als er gehandelt hat, weil er sich dann nicht in dem ihn jetzt
drückenden Zwiespalt des Schuldbewusstseins befinden würde. Dieser
Wunsch ist aber den Thatsachen widersprechend, also nicht zu be-
friedigen, und diese Nichtbefriedigung tritt als Gtefuhl der Unlust in's
Bewusstsein, als die erste Gefühlsaffektion, welche im Sehuldbewusst-
sein konkrete Oestalt gewinnt. Es ist dies die auf die einzelne That
gerichtete schlechthin unfruchtbare Reue, welche zwar ein natürliches
psychologisches Faktum, aber eben darum nicht ein zu konservirendes
und zu pflegendes, sondern ein zu überwindendes, möglichst zu unter-
drückendes Moment ist. Nur in einer Richtung hat der Wunsch,
die That ungeschehen zu machen, eine praktisch werthvoUe Bedeutung,
nämlich, insofern er die Konsequenz aus sich hervortreibt, dass man
mit der That auch deren weitere Polgen ungeschehen wünscht; denn
von diesen Folgen lässt sich in der That nicht selten wenigstens ein
Theil beseitigen oder doch vergüten, d. h. nach Uebereinkonmien mit
dem Beschädigten in äquivalenten Werthen kompensiren. Soweit dies
thunlich ist, ist es selbstverständlich eine Forderung des sittlichen
Bewusstseins, jedoch, ohne dass selbst bei vollständiger Redressirung
der Folgen damit auch die That selbst als sittliche, ja auch nur als
juridische Schuld redressirt wäre.
Indem der Mensch seine That als Verletzung der objektiven sitt-
lichen Weltordnung empfindet, fühlt er sich weiterhin gedrungen, zur
Wiederherstellung der von ihm verletzten objektiven sittlichen Welt-
ordnung, und sei es auch mit Aufopferung seiner Person, beizutragen,
d. h. er stellt sich selbst den Gerichten, um durch Abbüssung der
gesetzlichen Strafe den übrigen Menschen an sich selbst ein vor der
Gesetzesverletzung warnendes Beispiel zu statuiren. Diese äussere
Bekundung der willigen Unterwerfung unter die objektive sittliche
Weltordnung ist gerade insoweit moralisch berechtigt und geboten,
als der Betreffende die bestehende objektive sittliche Weltordnung als
treues Gegenbild seiner subjektiven sittlichen Weltordnung anerkennt;
denn an und für sich ist mit der juridischen Strafverbüssung keinerlei
Aufhebung der sittlichen Schuld verbunden. Der civile Schadenersatz
wie die kriminelle Selbstanklage und Strafabbüssung sind an und für
sich beides nur äusserliche Busswerke, die allerdings nebenherlaufenden
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2. Die fintEaltimg der Gnade. 265
Pordenmgen des Schuldbewussteeins entspringen und durch ErfQllung
derselben das Schuldgefühl auf seinen eigentlichen reügiös-sittlichen
Kern zurückfuhren; aber diesen Kern, mit dem wir es hier doch
eigentlich allein zu thun haben, lassen sie ganz unberührt, und dienen
höchstens dazu, das religiös-sittliche Problem der Schulderlösung in
seiner Seinheit herauszustellen.
Das Schuldgefühl in seiner Reinheit ist das Gefühl von dem
Widerspruch sowohl der einzelnen That als auch der ihr zu Grunde
hegenden Willensbeschaffenheit mit dem autonomen Gesetz des Ge-
wissens oder der subjektiven sittlichen Weltordnung; insofern aber
die subjektive sittüche Weltordnung als subjektiver Ausdruck der dem
Menschen immanenten absoluten sittlichen Weltordnung oder des
heiligen göttlichen Geistes gewusst wird, ist das Schuldgefühl das
Gefahl von dem Widerspruch zwischen dem menschlichen Eigenwillen
und dem heiligen oder positiv göttlichen Willen Gottes. Das sittliche
Schuldgefühl in seiner Abstraktion von metaphysischen oder reügiösen
Moralprincipien ist das Gefühl von dem Zerfallensein des Menschen
mit sich selbst; das religiös-sittliche Schuldgefühl ist das Gefühl von
dem Zerfallensein des Menschen mit Gott als dem heiligen Geiste.
Dieses Schuldgefühl ist wie jedes Gefühl des Widerspruchs, insbeson-
dere eines Widerspruchs des Menschen mit seiner wesentlichen mensch-
lichen oder göttlichen Bestimmung, Unlust ; es ist eine psychologische
Unmöglichkeit, dass das Bewusstsein dieses Widerspruchs wahrhaft
lebendig sein könne, ohne lebhaftes ünlustgefühl hervorzurufen, welches
sich etwa als schmerzliche Bekümmemiss über die widerspruchsvolle
Vergangenheit und Gegenwart bezeichnen liesse, und welches durch
die Verbindung mit der Furcht und Angst vor den künftigen schuld-
vollen Folgen der eigenen bösen Beschaffenheit noch verschärft wird.
Wie die Erkenntniss der Schuld das erste, nämlich intellektuelle, unter
den psychologischen Momenten des Schuldbewusstseins ist, so ist das
Schuldgefühl das zweite.
Will man dieses Schuldgefühl Reue nennen, und zwar die wahre
gottgemässe Reue im Gegensatz zu der auf die Einzelthat gerichteten
unfruchtbaren Reue, und zu den verschiedenen Formen der weltlichen
natürlichen Reue,*) so ist dagegen nur das zu bemerken, dass man
dann zwei Worte für denselben Begriff hat, von denen das eine (Schuld-
*) Vgl. „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins'', S. 182—196.
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Ö8g C. I. Der subjektive äeilspirooesö.
gefttU) eine präcise und eindeutige Bezeichnung giebt, das andere
aber (Rene) einen höchst vieldeutigen und darum leicht Missverständ-
nisse anrichtenden Ausdruck repräsentirt. Gäbe es das Wort Schuld-
geftthl "nicht, so mtlsste man sich trotz der ihm anhaftenden XJebel-
stände des Wortes Reue bedienen; da aber ersteres zur Hand ist,
wird man letzteres als überflüssig und irreleitend besser ganz ver-
meiden.
Das Schuldgefühl soll möglichst vertieft werden, und der ganze
Entwickelungsgang des religiösen Bewusstseins deutet auf die all-
mähUche Vertiefung des Schuldgefühls als auf eines seiner wichtigsten
Ziele hin; insbesondere dienen die heteronomen und heterosoterischen
Religionen des Theismus wesentlich diesem Zwecke, die Vertiefung
des Schuldgeftthls zu steigern, und liegt hierin ein grosser Theil ihrer
kulturgeöchichtlichen Wichtigkeit für die Menschheit. Aber Vertiefung
des Schuldgefühls ist nicht gleichbedeutend mit Verbreiterung des-
selben, d. h. mit der Einräumung einer breiten Stätte zu seiner Ent-
faltung; was zu überwindendes Moment ist, kann zwar nicht über-
sprungen werden, darf aber auch nicht einen möglichst breiten Raum
zum Verweilen bei sich selbst beanspruchen, sondern ist nur dazu
da, um die höheren Momente des Processes hervorzutreiben, welche
es aufheben und zu nichte machen. Ein Versenken des Gefühls in
den Zwiespalt des Schuldbewusstseins, das bei sich selbst beharrt,
sich zum Selbstzweck macht und in der Zerrissenheit des eigenen
Herzens wohl gar wollüstig schwelgt, ist deshalb vom Standpunkt der
Erlösungsreligion gänzlich verwerflich. Vom Standpunkt der Erlösungs-
religion ist das Schuldgefühl gerade nur soweit erforderlich, als es
unerlässliche Vorbedingung für die Erweckung der Gnade ist; jeder
Ueberschuss über dieses Maass hinaus ist vom Uebel, weil er die
wahre Aufgabe der Erlösungsreligion verdunkelt und erschwert. Je
zerknirschter ein Herz ist, desto weiter ist es noch von der Gnade
der Erlösung ab; je voller es hingegen der Gnade ist, desto rascher
folgt in jedem Falle auf das auftauchende Schuldgefühl die Erlösung,
welche den Zwiespalt aufhebt. Nur im Vergleich zu dem Zustande
des verhärteten und verstockten Bösewichts ist die Zerknirschung des
Herzens ein Fortschritt, weil bei einem solchen die stärksten Gemüths-
erschütterungen nöthig sind, um das Eis seiner Verstocktheit zu brechen;
aber solche Erscheinungen bilden doch nicht die Regel, sondern mehr
oder minder pathologische Ausnahmen.
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Ö. t)ie Entfaltung der Önade. 287
Ganz verkehrt ist es darum, aus der Breite, Dauer und patho-
logischen Intensität des Reueschmerzes einen objektiven Maassstab
für die Nähe eines Menschen zum Durchbruch der Gnade im Ver-
gleich zu anderen Menschen entnehmen zu wollen; noch verkehrter
aber ist es, das Ausspinnen des ßeueschmerzes als freiwillige Selbst-
kasteiung oder als inneres Busswerk zu empfehlen, durch welches ein
Verdienst vor Gott erworben und die Schuld in seinen Augen durch
Kompensation mit diesem Verdienste getilgt werden könne. Solche
Anschauungen haben selbst in dem recht verstandenen heterosoterischen
Theismus keinen Boden mehr, geschweige denn im konkreten Monis-
mus ; sie gehören lediglich in die heteronome Gesetzesreligion und zwar
in demselben Sinne in die Beligionsstufe der inneren Gesetzesgerechtig-
keit (Judenthum) wie der Glaube an die Verdienstlichkeit und schuld-
aufhebende Kraft der äusseren Busswerke in die Religionsstufe der
äusseren Gesetzesgerechtigkeit (Mosaismus und Katholicismus).
Gegenüber allen solchen unvoUkonmienen Vorstufen des wahrhaft
religiösen Heilsprocesses ist daran festzuhalten, dass, ebenso wie das
objektive Böse nur da ist, um vom Guten überwunden zu werden, so
auch das Schuldgefühl nur da ist, um im Gefühl der Versöhnung
überwunden zu werden, und zwar sobald als möglich, dass also das
Schuldgefühl auf den möglichst engen Raum und die möglichst kurze
Dauer zusammengedrängt werden muss, um der Erlösungsgnade so
rasch als möglich Platz zu machen. In der theistischen Gesetzes-
religion gewinnt allerdings das Schuldgefühl um so grössere Aus-
dehnung, je frommer der Mensch wird und je peinlicher er das
heteronome Gesetz zu erfüllen trachtet; in der Erlösungsreligion des
inmianenten Geistes schrumpft dagegen mit wachsender Fertigkeit im
subjektiven Heilsprocess das Schuldgeftthl auf inmier engere Dimensionen
zusammen und nähert sich mehr und mehr der Null an, wenn auch
dieses die Erlösungsbedürftigkeit aufhebende Ideal nie völlig er-
reicht wird.
Eine aus Gesetzesreligion und Erlösungsreligion gemischte Religion,
wie das Christenthum, muss auch in der Lehre von der Reue alle
möglichen Uebergangsstufen zeigen, von einer nachdrücklichen Betonung
des Werthes der Reue bis zum gänzlichen Verschwinden ihrer Be-
deutung in dem heilbringenden Glauben; je mehr sich die christliche
Erlösungsreligion aus der Verquickung mit der Heteronomie losringt,
desto bedeutungsloser wird die dem Standpmikt der Heteronomie an-
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288 ^* I- ^^ subjeldive Heilsprocess.
gehörende Beue, und desto mehr tritt die Nothwendigkeit in den
Vordergrund, einerseits auch auf dem Standpunkt der evangelischen
Autonomie noch einen gewissen Schmerz des Schuldgefühls anzu-
erkennen, andererseits aber die Aufgabe der möglichst baldigen Ueber-
windung dieses Schmerzes durch das Heilsprincip des Glaubens oder
der Gnade zu betonen. Bei der unlösbaren Yerquickung des theistir
sehen Standpunktes mit Heteronomie und Heterosotene kann aber
im Christenthum dieser Läuterungsprocess des Begriffes der Beue
oder des Schuldgefühls nicht rein durchgeführt werden und gelangt
zu seinem konsequenten Abschluss erst auf dem Boden des konkreten
Monismus.
Dasjenige psychologische Moment am Schuldbewusstsein, welches
demselben seine praktische Bedeutung verleiht, liegt weder in der
intellektuellen Erkenntniss des Widerspruchs zwischen dem thatsäch-
liehen Verhalten imd der teleologischen Bestinunung des Menschen,
noch in der durch diesen Widerspruch hervorgerufenen Gefühlsresonanz,
sondern hier wie überall in der Willensreaktion, welche auf die Er-
kenntniss und das Gefühl der Schuld folgt. In dem Maasse, als die
TJebung im Guten wächst, wächst auch die Schnelligkeit dieser Willens-
reaktion auf die Einsicht von der Schuld, und vermindert sieh die
Zwischenstufe des Gefühls in ihrer Dauer und Intensität; sie darf
sich in dieser Weise verringern, weil sie eben keine selbstständige
Bedeutung hat und in. demselben Maasse teleologisch überflüssig wird,
als die ihr auf unvollkommenen Stufen des religiösen Bewusstseins
zufallende Aufgabe schon durch die blosse Erkenntniss der Schuld
gelöst wird. Die Willensreaktion aber, in welcher allein die unmittel-
bare praktische Bedeutung des Schuldbewusstseins ruht, ist das Er-
wachen eines aktuellen Widerwillens gegen das Böse, welches den
Zwiespalt des Bewusstseins herbeigeführt hat; dieses ursächliche Böse
ist, wie schon oben bemerkt, einerseits das radikal Böse in der eigenen
menschlichen Natur, andererseits die fahrlässige Beschaffenheit des
Willens, welche es versäumte, gegen den Sieg des Bösen besser auf
der Hut zu sein.
Der Widerwille gegen das Böse, soweit er selbst noch den Charakter
eines inaktiven gefühlsmässigen Affektes hat, ist als Hass oder Absehen
gegen das Böse zu bezeichnen ; soweit er aber aus dieser ünproduktivitat
des Hassgefühls zur Aktivität heraustritt, wird er zum sehnsücht^en
Verlangen, das radikal Böse und die Fahrlässigkeit in der eigenen^
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2. Die Entfaltung der Gnade. 289
Natur zu überwinden, den Eigenwillen als bösen auszurotten oder
todt zu machen, den principiell bösen Egoismus abzutödten, den
^natürlichen Menschen — d. h. den selbstsüchtigen Eigenwillen, sofern
er nicht unter der Herrschaft und Leitung der Gnade steht — zu
mortificiren. Die Abkehr des Willens vom egoistischen Prinoip ist
dasjenige, was im konkreten Monismus an Stelle der Reue zu treten
hat; das Verlangen nach Mortifikation des selbstsüchtigen Eigenwillens
oder das Ringen voller Selbstverleugnung im Dienste der Idee ist
dasjenige, was die Busse zu ersetzen hat. Es wäre ungerechtfertigt
und irreleitend, diesen Parallelismus der Begriffe in eine Identität
umdeuten zu wollen, und die Abkehr vom Bösen als die wahre Reue,
sowie das Verlangen nach Mortifikation als die wahre Busse zu be-
zeichnen.
Von den beiden Seiten, welche wir an dem Willensmoment des
Schuldbewusstseins unterschieden haben, ist nicht der Hass gegen
das Böse, sondern nur das Verlangen nach Mortifikation die unmittel-
bar praktische, weil aktive. Insoweit diese Aktivität sich als Ringen
nach immer vollkommenerer Selbstverleugnung entfaltet, gehört sie
bereits zur Besserung, also zu den Früchten der Gnade; denn die Ver-
vollkommnung in der Selbstverleugnung ist ja selbst nur zu denken als
eine durch üebung und Gewöhnung den Charakter modificirende sitir
liche Selbstzucht, als eine Vervollkommnung der Herrschaft der positiv
sittlichen Gesinnung über den natürlichen Menschen. Augenblicklich
aber haben wir es noch mit einer Phase des religiösen Bewusstseins
zu thun, wo die Gnade als solche noch nicht als immanenter Bestand-
theil der eigenen geistigen Persönlichkeit bewusst geworden ist, wo
die Negativität des Schuldbewusstseins sich noch mit der Orientirung
über sich selbst beschäftigt und erst nach dem Positiven sucht, durch
das sie überwunden werden könnte. In dieser Phase müssen wir an-
erkennen, dass das Verlangen nach Mortifikation des bösen Eigen-
willens eine blosse Sehnsucht ist, welche der Mittel zu ihrer Erfüllung
entbehrt; es ist ein unbefriedigtes Verlangen, womit zweierlei gesagt
ist: erstens, dass es trotz seiner Aktivität praktisch nichts leistet und
für sich allein unfruchtbar bleiben würde, und zweitens, dass es eine
neue Unlust setzt, also den Zwiespalt des Schuldbewusstseins erst recht
auf seinen gefühlsmässigen Gipfel hebt. Das Schuldgeftlhl, oder der
empfundene Zwiespalt des Bewusstseins, steigert sich hier zu der
Angst, dass dieser Zwiespalt trotz des sehnlichsten Verlangens nach
V. Hartznaun, Die Beligion des Geistes. 19
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290 C. L Der subjektive HeiteprooeRR.
seiner Ueberwindung fOr den Mensohea wegen der UmübänderlicUln^it
seiner bösen Natur unüberwindlioh sei, dass man trotz, allen iSasscs
und Abschenes gegen das Böse dennoch der Macht desselben unter-
worfen bleibe und sich mit immer neuer Schuld und mit stets er-
neuten Qualen eines unversöhnlichen Schuldgefühls beladen müsse.
Diese Gewissensangst ist die äusserste unüberschreitbare Grenze der
Zerrissenheit des religiösen Bewusstseins, und in ihr steigert sich
deshalb das Erlösungsbedürfniss zu seinem denkbar höchsten Grade.
Wenn nicht schon früher, so muss der Mensch hier darüber mr
Besinnung kommen, dass in der Schulderkenntniss, dem Scboldgefobl
und der Willensabkehr vom Bösen selbst sehjon die negatire Seite
eines ümwandelungsprocesses oder Umkehrungsprocesses gegeben ist,
in welchem sich die Gesinnung, aus der die böse That entsprangt in
ihr Gegentheil verkehrt hat (jueravoea, conversio). Hätte; der Mensch
dasjenige, wonach er sich sehnt, nämlich dm positiv sittiiohe Ge-
sinnung oder die Gnade, nicht schon in sich, so wftre er ja ga^^iniaht
im Stande, die drei psychologischen Momente des Schnldbewusstseins
aus «lieh zu produciren; denn der natürlidie Menseh als solcher
würde, wie oben gezeigt, gar keiner Schuld und keines Sohmldbewnsstr
seins fähig sein. Der Mensch braucht sich nur darüber klar zu werden,
dass die Energie des Schuldbewusstseins und namentlich seines; idritten
praktischen Moments in genauer Proportion zum Be$itz der Gnade
stehen muss, um sich zu vergewissem, dass er das ersebmte Heiki-
princip wirklich schon in sich trägt, und dass er bloss nöthig hM,
dasselbe ebenso in seine positiven Eonsequenzen sich ent£alten zu
lassen, wie es im Schul^bewusstsein in seine negativen Konsequensen
sich entfaltet hat. Sobald ihm diese Einsicht aufgeht, erkennt er,
dass er in der Durchmessung der Tiefen des Schuldbewusstseins sein
Stehen in der Gnade oder sein Stehen in einem religiösen Verhältil?ss
thatsächUch bereits bewährt hat, dass er nicht mehr erst neu in ein
solches religiöses Verhältniss einzutreten nöthig hat, sondern 4ass er
das Gesuchte bereits besitzt und sich dieses Besitzes bloss zu ver-
sichern braucht, um dadurch aus allen Nöthen kommen zu können.
Das Aufgehen dieser Einsicht ist der Punkt, wo die in der Entfaltimg
des Schuldbewusstseins bisher unbewusst wirksame Gnade , als Gnade
in's Bewusstsein tritt, und von wo an sie auch als bewusste PoteBz
(neben ihrem unbewussten Wirken) fortwirkt; hier zeigt sich, wie die
Versenkung in das Schuldbewusstsein den Boden bereitet und den
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2. Die Entfaltung der Gnade. 291
OeüegenheitBanlass zu dem Eintritt jener Erleuchtung bietet, welche
ak Offenbarung der erste Akt des religiösen Verhältnisses (beziehungs-
ve»e einer Steigerung desselben) bildet.
.b) Die positive Seite an der Umwandelung der
Gesinnung.
Was Ton seiner göttlichen Seite gesehen Eintritt der Gnade in's
Bewußtsein heisst, dasselbe heisst von seiner menschlichen Seite
betrachtet Erwachen, beziehungsweise Vei^ewisserung, Kräftigung oder
Neubdcbung des Glaubens. Glauben ist hier genau in dem oben
definirten Sinne zu verstehen; alles, was nicht eine mit der Gnade
identische Funktion am Glauben ist, also insbesondere aller etwaige
historische Inhalt des intellektuellen Glaubens, fällt unter die vor-
stellnngsrnftssigen Umhüllungen und Zuthaten zum wahren Glauben.
Wahrer Glaube im religiösen Sinn« ist ein Glaube gerade insoweit,
als er religiöses Heilsprincip oder heilbringender Glaube (fides salvifica)
ist; Heilsprincip oder heilbringender Glaube kann wiederum nur der-
jenige Glaube sein, welcher identisch ist mit der Gnade, denn es
giebt kein anderes Heilsprincip als allein die Gnade.
Mit dem Einsatz des Glaubens in diesem Sinne beginnt also in
der That die positive Seite der Sinnesumwandelung ; die Erleuchtung,
welche den Wendepunkt zwischen der negativen und positiven Seite
dcsrselben bezeichnet, ist genau ebensosehr Glaubensakt wie Offen-
barungsakt und stellt den Punkt dar, in welchem der Glaube, und
zwar zunächst der Offenbarung entsprechend, d. h. als intellektueller
Glaube, erwacht, beziehungsweise sich neu belebt. Als Belebung des
Glaubens bildet sie den Gegensatz zur Abtodtung des natürlichen
Menschen; wie diese Mortifikation als Schlussglied und Gipfel der
negativen Seite der Sinnesumwandelung für diese selbst stehen kann,
so kann die Vivifikation des Glaubens für die ganze positive Seite
derselben als Bezeichnung dienen, von welcher die Belebung des
infkellektuellen Glaubens ja nur das erste Moment bildet. Auf die
Belebung des intellektuellen Glaubens muss mit psychologischer Noth-
wendigkeit die Belebung des Gemüthsglaubens in seiner dreifachen
Gestalt als Hingebung, Versöhnung und Friede, und endlich die Be-
lebung des praktischen Glaubens als Heiligung folgen. Da der Glaube
in seiner einheitlichen Totalität mit der religiös-sittlichen Gesinnung
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292 CJ. I. Der subjektive Heilsprooess.
gleichzusetzen ist, so kann man statt von einer Neubelebung des
Glaubens auch von wner Neubelebung oder Erneuerung der rdigiös-
sittlichen Gesinnung, oder kurzer von einer Gesinnungserneueruug
(renavatio) sprechen, welche eben die positive Seite der Gesinnnngß-
umwandelung (fAerdvoux^ conversiq) darstellt.
Die Erneuerung der Gesinnung giebt sich, w^il sie das bestimmende
Princip im Menschen betrifft, als Erneuerung des ganzen Menschen
kund, die im Dienste einßs neuen oder neu belebten Frincips eine
ganz andere Verwendung aller seiner Kräfte und Fähigkeiten zeigt
als vorher im Dienste des Egoismus; die von innen heraus auf dem
gesetzm&ssigen psychologischen Wege organischer Entwickelung er-
folgende Erneuerung des ganzen Menschen kann bezeichnet werden
als das organische Wachsen und Werden eines neuen Menschen in
und aus dem absterbenden alten, oder als Regeneration. Der deutsche
Ausdruck Wiedergeburt hat den üebelstand, dass man dabei unwill-
kürlich an einen einmaligen Vorgang nach Analogie des Geburtsaktes
denkt, während es sich doch bei der religiös-sittlichen Degeneration
des Menschen ebenso wie bei der Regeneration von Völkern oder der
physiologischen Regeneration eines erkrankten Organismus um einen
allmählichen Process, um ein tägliches und stündliches Sterben des
natürlichen und Neugeborenwerden des begnadeten Menschen handelt,
das vom Beginn der sittlichen Reife bis zum Ende des Lebens
andauert.
Die Neubelebung, Erneuerung oder Regeneration beginnt bereits
mit dem intellektuellen Glauben, in welchem der Mensch sich des
Besitzes des immanenteji Heilsprincips vergewissert, sie findet aber
ihren Abschluss erst mit dem Entfalten der im Heilsprinoip implioite
enthaltenen positiven Momente des Heilsprocesses ; das Bewusstwerden
des Heilsprincips ist selbst nichts anderes als das Bewusstwer4en der
im Princip gesetzten substantiellen und ideellen, oder ontologischen
und teleologische» Einheit mit Gott, und die positive Seite des Heils-
processes hat nichts zu thun, als sich in der Durcharbeitung der im
ersten Glaubensakt schon im Princip oder an sich gesetzten Momente
auch als expücite oder für sich gesetzter zu vergewissem, oder mit
anderen Worten: bei dem vollen Bewusstsein der realen (d. h. nicht
bloss ontologischen, sondern auch realisirten teleologischen) Einheit
mit Gott zu münden.
Wäre die Erleuchtung das Ergebniss rein theoretischer Er-
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2. Die Entfaltung der Gnade. 293
Wägungen, so hätte man keinerlei Anhalt, oh im gegebenen Falle aus
ihr ein Gemüthsglanbe , also zunächst eine Hingebung an Gottes
Willen, entspiingcn würde ; hier aber, wo die Erleuchtung als religiöser
Glaubensakt aus der negativen Seite der Sinnesumwandelung hervor-
gegangen ist, hat sie weiter nichts zu thun, als dem Bewusstsein
die bisher im Dunkel der Unbewusstheit gelegene Bedeutung des
Schuldbewusstseins als Gnade zu erhellen, um dadurch eo ipso auch
die zu dieser negativen Bethatigung der Gnade zugehörige positive
Seite als selbstverständliches Kevers erkennen zu lassen. Wer die
drei Momente des Schuldbewusstseins in sich trägt, der hat eben
damit schon den Thatsachenbeweis geliefert, dass die Hingebung an
die sittliche Weltordnung das bestimmende Princip seiner nunmehrigen
Qeistesthätigkeit ist, und braucht nur noch zu dem bewussten Ver-
ständniss davon zu gelangen, um die Hingebung auch als bewussten
Glaubensakt in sich zu spüren. Sobald aber diese Vergewisserung
des Gemüthsglaubens durch den intellektuellen Glaubensakt erreicht
ist, tritt nothwendig eine von der vorherigen ganz abweichende Be-
urtheihmg des begangenen Bösen und der eigenen bösen Natur ein,
welche ihrerseits zur Erlösung- Versöhnung führt.
So lange nämlich der Mensch sich des immanenten Heilsprincips
Dicht bewusst ist, oder an dessen hinlängliche Kraft nicht glaubt,
muss er sich als hoffiiungslos der Sünde verfallen betrachten; sobald
er sich aber in dem Schuldbewusstsein einer (gerade durch die Auf-
rüttelung der bösen That erfolgten) Kräftigung der sittlichen Gesinnung
bewusst wird, darf er sich auch der Zuversicht hingeben, dass dieses
höhere Maass von Lebendigkeit der sittlichen Gesinnung hingereicht
haben würde, trotz seiner bösen Natur der bösen That vorzubeugen,
und unter Ausschluss fahrlässiger Trägheit und Wiedererlahmung
auch künftig ausreichen werde, um ähnliche Versuchungen zu über-
winden. In diesem Bewusstsein weiss sich aber der Mensch that- \
sächlich ein anderer geworden, als der er vor der That war, weiss er
sich als nicht mehr psychologisch identisch mit dem Thäter jener
That und darum auch nicht mehr als sittlich verantwortlich für die
That, die er nicht mehr als «seine» That im Sinne seiner gegen-
wärtigen geistig-sittlichen Persönlichkeit anzuerkennen vermag. Mit
dieser Aufhebung der sittlichen Verantwortlichkeit ist zwar nicht das
objektiv Böse aufgehoben, und darum bleibt auch die juridische Ver-
antwortlichkeit selbstverständlitjh bestehen ; aber es ist doch die
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294 ^- ' ^ ^^ subjektive Heilsprooess.
Sobald als subjektive Thatsaohe des sittlichen Bewnsstseins aufgehoben,
weil die Schuld das Bestehen beider Faktoren, des objektiv Bösen
und der subjektiven sittlichen Verantwortlichkeit vorausseftzi Der im
Glauben erstarkte und in der sittlichen (Besinnung erneuerte Mensch
muss vor dem inneren Forum seines Gewissens sich als ernenertea
Menschen frei sprechen von der Schuld des alten Menschm, der er
vor der That war; so wird durch den Glauben die Schuld ausgeUseht
und getilgt, und der Mensch, von seinem Schuldbewusstsein durch
die mit dem Glauben identische Gnade erlöst, fohlt sich über den
Zwiespalt des durch die Schuld mit Gott iserfallenen Bewusstsems
hinweggehoben und mit Gott wieder versöhnt.
Insofern die Schuldtilgung vor dem Forum des Gewissens ledig*-
lich auf Grund der durch die Gnade bewirkten Sinnesemeuerung
erfolgt, kann man diese Freisprechung ein Verdikt Gottes nennen,
das Gott in den Menschen hineinspricht, aber vor dessen immanentes
Gewissensforum, also zugleich doch ebensosehr aus dem Menschen
heraus spricht. Als immanentes Verdikt Gottes ist diese Freisprechung
ein gerechtes ürtheil, in welchem sich die subjektive Gerechtigkdt
Gottes offenbart; als transcendentes Verdikt eines theistischen Gottes
gedacht, wäre hingegen diese Freisprechung (oder nach der Termino-
logie der Gesetzesreligion: Gerechtsprechung) ein ungerechtes, den
Thatsachen Hohn sprechendes Urtheil, das nur errielt wird durch
eine menschlicherseits unverdiente Sündenvergebung aus Gnaden, also
unter Aufhebung der göttlichen Gerechtigkeit zu Gunsten der trans-
scendenten Gnade. Der Theismus kann nur eine unwahre, ungerechte
Gerechtsprechung aus Gnaden anerkennen, ebenso wie er nur eine
magisch-supranaturalistische Gerechtmachung des Gcrechtgesprochenen
durch wunderbaren transcendenten Gnadenzauber kennt; die Aner-
kennung eines immanenten Forums an Stelle des transcendenten hebt
eben alle Voraussetzungen des Theismus auf und hat nur auf der
Basis des konkreten Monismus einen Sinn.
Der von der Schuld erlöste und mit Gott versöhnte Mensch weiss
eben dadurch die vorher durch die Schuld gestörte teleologische Ein-
heit mit Gott auf der Grundlage seiner unverlierbaren ontologischen
Einheit mit Gott wiederhergestellt, und damit sich im Besitz der
ganzen realen Einheit mit Gott; in ihr besitzt er nicht nur die Ver-
söhnung mit Gott in Betreff der Schuld, sondern, wie oben gezeigt,
zugleich auch die ideale Erlösung von dem Üebel, und geniesst in
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2, Die Entfaltung der Gnade. 295
ihr nach der yorübergehenden Eontrastbeseligung den daTiernden
Frieden in Gott. Die reale Einheit mit Gott ist der adäquate Aus-
dmok für das voUkommene religiöse Verhältniss, welches durch die
Bezieiohnungen «Eindschaft (oder Sohnschaft) Gottes» und «ewiges
Leben») nur in unangemessenai Bildern umschrieben wird. Kindsohaft
oderSohnscbaft des Mensehen ist der Korrelatbegriflf zur Vaterschaft
Qottös; das Gleiohniss der Beziehungen von Vater und Sohn verliert
dber.im konkreten Monismus, wo Gott aufgehört hat, gemuthliche
Persönlichkeit zu sein, jeden Boden. Ewiges Leben enthält schon im
Ausdruck einen Widerspruch; denn Leben ist ein Process, also nur
zeitlich zu denken, also als ewiges, d. h. unzeitliches, unmöglich.
Ewigies Leben soll bedeuten «Leben im Ewigen» und zwar «zeitliches
Leben im Ewigen»; dabei schleicht sich aber gar leicht der Gedanke
mki dass das Wesentliche und Wichtige an dem Leben im Ewigen
diiQ* Stlrgschalt der Ewigkeitsgrundlage für eine endlose Dauer des
zeitlichen Lebens sei, womit der wahre religiöse Begriff im Interesse
eines eiudäimonologischen Optimismus und verblendeten Egoismus
iormmpirt ist. Beseitigt man diesen Nebengedanken, so besagt
«Leben im Ewigen» nichts weiter als «Leben in Gott», nur ds^ss
Gott, durch eine seiner abstraktesten Wesensbestimmungen ersetzt
ist ; was ■ dann das überaus vieldeutige «Leben in Gott» bedeute, be-
darf selbst erst der näheren Bestimmung, welche in erschöpfender
Weise eben nur im Begriff der realen Einheit mit Gott gefunden
werden kann.
Diese reale Einheit des Menschen mit Gott erkennt auch die
lutherische Theologie unter dem etwas schiefen, weil auf den abstrakten
Monismus zurückweisenden Namen der unio mystica an, und beschreibt
sie als eine gegenseitige Immanenz, als wahrhafte, reale, innerliche
und unmittelbare Einheit der menschlichen und göttlichen Substanz,
als substantielle Einwohnung und Durchdringung unter Ausschluss
einer bloss moralischen Wechselbeziehung oder dynamischen Wechsel-
wirkung. Weil bei dieser realen Einheit des Menschen mit Gott
doch die den Unterschied zwischen beiden aufhebende Vergottung des
Mefnschen abgewehrt werden muss, darum ist die kirchliche Idee des
öottmenschen Christus kein adäquater Typus der vom Menschen als
solchen zu realisirenden Einheit mit Gott und kann deshalb auch
nicht als adäquate symbolische Personifikation des im Menschen
wirkenden religiösen Heilsprincips gelten. Es ist klar, dass diese Idee
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296 ^- ^' ^^ subjektive Heilsprocess.
der unio mystica selbst die adäquate Idee des religiösen Heilsprincips,
welche in der Christusidee eben nicht zu finden ist, darstellt und
zwar ebensosehr in Gestalt der principiellen treibenden Kraft des
Heilsprocesses wie als letztes und höchstes Ergebniss desselben für's
Bewusstsein ; es ist aber ebenso klar, dass die mm mystioa in ihrem
eingestandenen wesentlichen Unterschiede von der Ohristusidee ni<M
bloss einen Bruch mit der heterosoterischen Ghristusreligion, sondern
zugleich einen völligen Bruch mit deren theistischer Basis darstellt,
und nur auf dem Boden des konkreten Monismus ohne Widerspruch
ihre Stätte findet.
Die praktisch wichtigste Seite an der wiederhei^estellten teleo«
logischen Einheit des Menschen mit Gott ist endlich die Heiligung
des Willens; indem der menschliche Wille die Gnade oder die sitb-
liche Gesinnung zur bestimmenden Norm seines Verhaltens gewinnt,
gelangt er zur Uebereinstimmung seines Inhalts mit der positiv gott»
liehen Sphäre der Weltordnung, welche als solche die Heiligkeit Oottes
darstellt. Dieses Moment der Heiligung ist selbst eine wesentUehe
und unabtrennbare Seite der Kegeneration ; sie gehört noch nicht zu
den Früchten der Gnade, sondern zu der unmittelbaren Entfaltung
der Gnade selbst, deren auf den Willen gerichtete Seite sie darstellt
Der wesentliche Inhalt der Heiligung ist ebenso schon in dem Glaubens-
äkt der Hingebung gesetzt, wie der Inhalt der realen Einheit mit
Gott in dem durch den Glauben ergriffenen religiösen Heilsprincip;
aber was in der Hingebung noch Gefühlsakt, gleichsam ein tastendes
Probiren des Willens innerhalb der eigenen Gemüthssphäre ist, das
tritt in der Heiligung als wirklicher aktionsbereiter Wille hervor, der
sich seines Inhalts im Heilsprocess vergewissert hat. Insofern aber
auch die Heiligung immer noch den Willen als solchen, nicht die
That, sondern die sie erzeugende Gesinnung betrifft, insofern haben
wir es auch in ihr noch mit einem Moment der Gnadenentfaltung
selbst, nicht mit deren Früchten zu thun. Andererseits ist ansu-
erkennen, dass die Heiligung den Punkt des Heilsprocesses darstellt^
welcher von der Gnade selbst zu ihren Früchten hinüberleitet, ebenso
wie die Erleuchtung den Punkt bildete, der von der Erweckung der
Gnade in ihre Entfaltung einführt.
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3. Die Erüohte der Gnade. 297
3. Die Früchte der Gnade.
a) Die- Besserung.
Da der Heilsprocess nicht ein einmaliger Vorgang, sondern eine
stetig fortschreitende Entwickelung ist, so kann nicht davon die Bede
sein, dass der Mensch durch einen einmaligen Vorgang der Gesinnungs-
omwattdeliHig in den dauernden Besitz des Heils gelange, das er nun
trage und unthätig geniessen könne. Eine solche Auffassung wäre
überhaupt mit dem Begrifif des geistigen Lebens unvereinbar, welches
niemals StiUstand, sondern immer nur Fortschritt oder Rückschritt
kennt Unverlierbar ist jeder Gewinn an Gnade allerdings, wie über-
haupt die Wirkung keiner Ursache in der Welt sich verliert; wohl
aber ist ihre Kraft kompensirbar durch die fortwirkende Macht des
Bösen, und sind Bückschritte in der Entfaltung der Gnade um so
eher zu befürchten, je mehr der Mensch im unverständigen fata-
listischen Vertrauen auf ihre Unverlierbarkeit sich sittlicher Trägheit
hingiebt. Mit dem erreichten Fortschritt in der Entwickelung der
Gnade ist allerdings für den Menschen eine günstigere Position im
Kampf mit dem Bösen erreicht, als er vorher besass ; aber kein Fort-
schritt dieser Art ist gross genug, um dem Menschen auch dann den
Sieg zu sichern, wenn er die Wachsamkeit und den Kampf einstellt.
Jeder Fortschritt in der Entwickelung der Gnade gleicht einer auf
dem Schlachtfeld eroberten neuen Position ; es ist nicht genug, die-
selbe erobert zu haben, sie muss auch befestigt werden, damit man
nicht wieder hinausgeworfen wird, und muss zum Stützpunkt neuer
offensiver Verstösse gemacht werden, um den Feind immer vollständiger
zu schlagen. Thut man nichts, um den jüngsten Fortschritt in der
Gnade nachtraglich zu verdienen und durch Ausnutzung seiner Früchte
die Erbgnade zu steigern, so bleibt schliesshch von dem ganzen
Qlaubensakt nichts übrig, als eine flüchtig vorübergehende psycho-
logische Aufwallung, die man nicht zu verwerthen und dadurch zu
fixiren verstanden hat. Dieser Process der Befestigung der bisher
gewonnenen Fortschitte in der Entwickelung der Gnade ist eine psycho-
logische Aufgabe technischer Art, welche vermittelst der Technik der
sittlichen Selbstzucht gelöst wird; im Unterschied von der Heiligung
als dem Gewinnen des Fortschritts durch Schöpfen aus dem Heilsprtncip
ist diese Befestigung des Gewonnenen «Besserung» zu nennen.
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208 C. L Der subjektive Heüsprocess.
Die durch die sittliche Selbstzucht zu erzielende BesserajQg iat
Selbstmodifikatiou des Ghaxakters durch Uebung und GewObnimg;
sie ist in negativer Hinsicht AbschwÄchung und Unterdrückung der
Selbstsucht und der bösen Erbanlagen durch Entwöhnung \m ihrer
Bethätigung und in positirer Hin^sicht Kräftigung, feinere Durph*
bildung und tiefere Eingravirung der guten Aiüagen, die in ihrer
Gesammtheit die Erbgnade darstellen. Bei der Beaserung • kosuQt
also die Bethfttigung des Glaubens nur als Mittel zur Selbabaodifibatioti
des Charakters in Betracht, nicht nach ihrean objektiven Werth lur
den Weltproeess, sondern lediglich nach ihrem subjektiven Wertto als
Hilfsmittel zur SelbstvervoUkomnmung; dabei ist natärlich nitdit< ans*
geschlossen, dass sie gleichzeitig auch noch eine andere Biedeiibtung
haben, die vielleicht ihre rückwirkende subjektive Bedeutung noch
überragt. Die Technik der sittlichea Selbstzucht näher zu ei^rt^oi,
ist Aufgabe der Individualethik ; hier ist nur soviel zu beäaer&ieD,
dass dieselbe, wie sie aus der Heiligung der Gesinnung ihren Ursprung
nimmt, so auch als ein das ganze Leben hindurch fort^foufendet
Process sich mit den Phasen des fortlaufenden Heüsprocesses^ auf
das Mannichfachste verschlingt und durchkreuzt. Indem nämlich ider
natürliche Mensch trotz der Heiligung fortbesteht, entspricht' die
Bethätigung des Glaubens doch niemals völlig dem id«alcfil Maassstab
der sittlichen Autonomie; jede solche Differenz wird aber in höherem
oder geringerem Grade als ein sittlicher Mangel, als eine Schuld
empfunden, welche von Neuem der Aufhebung durch den . Heila-
process bedarf. So sind die Handlungen des regenerirten Menschen
nach ihrer positiven Seite, d. h. sofern sie Früchte des Glauibenfi
oder Früchte der Heiligungsgnade sind, Moment des» Bessfirungs-
processes; nach ihrer negativen Seite aber, d. h. soweit .sie no6h
Wirkungen des natürlichen Menschen sind, werden sie zu Anlftss^
für erneuerten Einsatz und Fortgang des Heilsprocesses.
In dem Process der Besserung sammt seinen Verschlingungen nüt
dem Heilsprocess macht der Mensch sich auf Grund der empfangenen
Gnade nachträglich des Besitzes dieser Gnade würdig und zu neuen
Fortschritten in der Entwickelung der Gnade fähig ; an dem Gelialgen
oder Misshngen seiner Besserungsbestrebungen besitzt er das Kriterium
zur Beantwortung der Frage, ob er in der Gnade vorawschreitet oder
zurückschreitet. Die Wahrnehmung des Fortschreitens soll zu in^mer
neuen Anstrengungen im Besserungsprocess anspornen, um dem Ideal
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3. Die Früchte der Gnade. 299
der Tugend oder Heiligkeit immer näher zu kommen; die Wahr-
nehmung zeitweiligen Zurüokschreitens aber darf nicht entmuthigen,
weil ein Besitz der Erbgnade in irgend welchem Maasse jedem Men-
schen, auch dem Verworfensten, sicher ist. Wie aller Anfang schwer
ist, so auch der in der Besserung; alle TJebung und Gewöhnung
braucht eine gewisse Zeit, um ihre Macht zu entfalten, und darum
muss man mit Geduld an die sittliche Selbstzucht gehen und mit
deiö Bewus^eiD, dass diese Arbeit bei hinlftnglicher Ausdauer nie-
mals rerloren sein kann, mag auch ihr Erfolg länger als gewünscht
ausbWben. Zeigt sich ein Zurückschreiten, so ist entweder irrthüm-
licher Weise eine zufiQlige äusserlich bedingte Phase des Lebens für
einen typischen Abschnitt desselben gehalten worden, oder man hat
^s mit inveterirten Lastern zu thun, die sich in sich selber steigern
und medicinische oder psychiatrische Behandlung erfordern, oder es
sind Fehler in der Technik der sittlichen Selbstzucht begangen
worden, welche eine sorgsame Beobachtung entdecken und abstellen
kann. Will aber die Kraft zum Kampfe mit dem Bösen und zur
Besserungsarbeit an sich selbst erlahmen, so hat man nur nöthig,
sich in das religiöse Yerhältniss oder in die reale Einheit mit Gott
KU y^senken, um aus diesem unerschöpflichen Born der Gnade neue
Kraft zur Fortsetzung des begonnenen Werkes zu schöpfen.
Es giebt keine Tiefe des sittlichen Falles, aus welcher der Glaube
als Versenkung in das Heilsprincip nicht wieder zu erheben ver-
möchte, ebenso wie es keine Höhe der Tugend und Heiligkeit giebt,
von welcher der Mensch nicht durch Lässigkeit und Trägheit wieder
herabsinken könnte; denn es giebt keine absolute Verwerfung oder
absolute Erwählung, sondern nur Mischungen von mehr oder minder
Bösem und Gnade, und es giebt keine fatalistische Prädestination,
sondern nur eine gesetzmässige psychologische Determination durch
die gegebenen Bedingungen, zu denen auch die Trägheit oder der
Eifer in der sittlichen Selbstzucht gehört. Darum darf keiner am
Heil verzweifeln, aber auch keiner auf den Besitz des Heiles pochen;
jeder darf und soll sich der immanenten Gnade in einem Grade ver-
sichert halten, welcher bei eifriger sittlicher Selbstzucht zur Erlangung
des Heiles ausreicht, bei Trägheit und Lässigkeit aber allerdings nicht
ausreicht. Das Bewusstsein der Gnade darf und soll eben kein sitt-
liches Faulbett sein, auf das der Mensch sich hinstreckt, um das Heil
zu gemessen, das ihm der heilige Geist im Schlafe eingiebt; das Be-
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300 C. I. Der subjektive lleilsprocess.
wusstsein der Gnade soll dem Menschen die in ihm als natürlichen
nicht vorhandene Basis gewähren, um sich über seine üntergöttlich-
keit und Widergöttlichkeit mehr und mehr zur positiven Qottgemass-
heit zu erheben, aber es soll ihm die Arbeit der Selbsterhebung nicht
ersparen, sondern bloss ermöglichen.
Hierin liegt der Grund für die sonst auffallende Erscheinung,
dass bei manchen Individuen das Bewusstsein der Gnade und seine
Entfaltung in den verschiedenen Momenten des religiösen Verhältnisses
sehr lebhaft sein kann, ohne bei mangelndem Geschick und Eifer
in der sittlichen Selbstzucht entsprechende Früchte der Besserung zu
zeitigen, während es andererseits zahlreiche Individuen von unent-
wickeltem religiösen Bewusstsein giebt, welche trotz des Unbewusst-
bleibens der Gnade oder der religiösen Grundlage der Sittlichkeit
doch in rein sittlicher Sphäre mit Eifer und Geschick Selbstzucht
üben und besser und besser werden. Der Heiligungsmlle ist bei der
ersteren Klasse, sofern sie nicht in der blossen religiösen Gefühls-
schwelgerei stecken bleibt, zwar vorhanden, aber er ist dazu ver-
urtheilt, blosse Velleität zu bleiben (einer der guten Vorsätze, mit
denen der Weg zur Hölle gepflastert ist), weil die Arbeit der Aus-
nutzung und Verwerthung dieser Willensregung zur bessernden Modi-
fikation des Charakters aus Unverstand, Ungeschick oder Trägheit
unterlassen oder unzulänglich geleistet wird. Die letztere Klasse
dagegen schliesst diejenigen Menschen von höchst achtungswerther
Sittlichkeit in sich, welche auf der Erbgnade fussen, ohne es zu wissen,
und sich einbilden, dass die Sittlichkeit ohne festen Ankergrund im
Verhältniss des Menschen zum absoluten metaphysischen Grund seiner
selbst und der Welt bestehen könne, weil sie in ihnen vermeintlich
ohne denselben besteht.
Die wahre Erfüllung ihrer teleologischen Aufgabe findet die
Heiligung nach subjektiver Richtung erst in der Besserung, ebenso
wie die Besserung des Charakters nur in der Heiligung der Willens-
gesinnung ihre dauernde Garantie findet; darum wird das volle Ideal
des Menschen erst da verwirklicht, wo der specifisch religiöse ßegene-
rationsprocess der Gesinnung mit dem religiös-sittlichen (wenn auch
vielleicht krypto-religiösen) Besserungsprocess des Charakters Hand in
Hand geht. Wo die Ernte verabsäumt wird, war auch die Düngung
und Aussaat vergebens ; wer aber immer nur erntet, ohne zu düngen
und zu säen, weil die Furcht ihm von selbst zuwächst, der vergisst,
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3. Die Flüchte der Gnade. 301
sein Acker doch nur von der Düngung und Aussaat seiner Vor-
fahren Frucht trägt, und sie über kurz oder lang ihm oder seinen
Nachkonunen versagen muss, wenn er es versäumt, auch seinerseits
zu düngen und zu säen. Die Heiligung ist eine konkrete Aktualiairung
der Gnade auf Basis der Erbgnade, aber wo möglich über das in
dieser prädispositioneUen charakterologischen Basis verzeichnete Maass
hinaus; die Besserung dagegen ist die Befestigung und Steigerung
der prädispositionellen Erbgnade auf Grund der ihr vorgefundenes
Maass überschreitenden aktuellen Gnade. Beide Seiten des Heils-
processes sind gleich unentbehrlich zu einer fortschreitenden Ent>-
wiekelung, denn nur auf Grund der Heiligung ist eine Besserung, und
nur im gebesserten Menschen ist ein neuer Fortschritt in der Heili-
gungsgnade möglich.
b) Die Mitarbeit am objektiven Heilsprocess.
Wie die Besserung die subjektive Frucht der Gnade darstellt, so
die Mitarbeit am objektiven Heilsprocess die objektive. Wenn im
Interesse der Besserung die objektive Bethätigung des geheiligten
Willens als Mittel zur Modifikation des eigenen Charakters durch
Hebung und Gewöhnung erschien, so zeigt sie sich nunmehr als un-
mittelbarer Ausfluss des mit dem göttlichen Willen realiter geeinten
menschlichen. Indem der menschliche Wille sich mit dem göttüohen
versöhnt und einig weiss, setzt er eben die göttlichen Ziele oder den
positiv göttlichen Inhalt des absoluten Willens zu subjektiven Zielen
seines Willens, stempelt er die Zwecke des unbewussten Geistes zu
seinen Bewusstseinszwecken und vollzieht damit jene sittliche Autonomie,
welche das objektive Telog zum subjektiven vof^og erhebt. Der mit
Gottes Willen oder der sittüchen Weltordnung teleologisch geeinte
menschliche Wille würde sich selbst widersprechen, wenn er etwas
anderes wollte als die Verwirklichung der sittlichen Weltordnung,
oder etwas anderes thäte als an ihr mitwirken; in diesem Thun
bekommt ja der geheiligte Wille erst seinen Willen, in ihr allein
findet er die Befriedigung seines Strebens, und darum ist dieses gott;
gemässe Thun ein selbstverständlicher Ausfluss des gottgemässen
Willens, dessen Ausbleiben oder Fehlen ein Widerspruch gegen die
gemachte Voraussetzung wäre.
Freihch kann auch der geheiligte Mensch noch zu widergöttlicher
Selbstbestimmung des Willens gelangen, insofern eben nicht der
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302 C I. Der sabjektive HdlsprocesB.
geheiligte Wille^ sondern der Wille des natorlicfaen Ifensehen zsr
Geltimg kemmt; ein solcher Fall ist eben dadurch möglich, dass di^
Gesinnnngsiunwandlnng oder Grnadenentfaltnng nicht ein einmaliges
Geschehen, sondern ein dauernder Frocess ist, nnd er spricht moht
gegen das Vorhandensein eines geheiligten Willens, sondern nur filr
eme unzulängliche, durch Fortsetzung des Heilsprocesses zu steigernde
Enei^e desselben, beziehungsweise fttr Lässigkeit und Trägheit der
Aufmerksamkeit Insoweit ein geheiligter Wille vorhanden ist, insoweit
ist es auch logisch und psychologisch unmOghch, dass er sich aieiit
als Kraft geltend mache; nur das bleibt fraglich, ob die Kraft in
innerlichen Vorgängen der psychischen Mechanik yerzehrt und gebunden
wird, oder ob sie sich nach aussen in Thaten. entiadet. Mau kann
also sagen: unter übrigens gleichen Umständen, d. h. bei gleicher
Beschaffenheit des natürlichen Menschen muss die Entladung in
Thaten proportional sein der Energie des geheiligten Willens. Weil
diese Umstände, die individuelle Beschaffenheit des natürliche
Menschen, niemandem ganz durchsichtig sind, weder dem eigenisn
Sdbstbewusstsein noch der unbefangenen Schätzung eines Dritten,
darum ist auch in den Thaten kein sicheres Merkmal für ä^m vor-
handenen Grad religiös-sittlicher Gesinnung zu finden; destailb ist
auch das Richten über den inneren Menschen und den Stand seines
Heils keinem Dritten zu gestatten, und muss das eigene Gewissen
sich nicht sowohl an die Thaten als solche halten als an das Maass
von Besserung oder sittlichem Bückschritty der sich in ihnen bekundet.
Die religiös-sittliche Gesinnung, oder der durch die Gnade ge-
heiligte Wüle fällt nun, wie wir oben gesehen haben, zusammen nüt der
dritten und wichtigsten Seite des Glaubens, dem praktischai Glaubet^ ;
also gilt alles soeben von ersterem Gesagte zugleich far den praktischen
Glauben, d. h. die Thaten, welche auf Verwirklichung der sittlichen
Weltordnung gerichtet sind, sind selbstverständliche Früchte des
Glaubens, ohne welche der Glaube sich selbst widersprechen würde,
und das Maass der sittlichen Bethätigung ist, wohlgemeikt unter
sonst gleichen Umständen, der Energie des praktischen Glaubens
proportional. Alle Streitigkeiten, welche über Glauben und Werke
bisher geführt worden sind, entspringen lediglich aus einem unvoll-
ständigen Begriff des Glaubens, welcher den praktischen Glauben
nicht ein-, sondern ausschliesst ; die katholische Betonung der Werke
beruht auf einem rein intellektualistischen Glaubensbegriff, und behalt
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3. Die Früchte der Gnade. 303
aeme BadßcitiiDg gegenüber einem fast ebenso intellektualistischen
GUa^ibeiBsbegriff der altprotestantischen Orthodoxie, wie nicht minder
gegeoinber :äam Gefühlsglauben des Pietismus^ yerüert aber jeden
Sinn gegenüber dem echten Begriff des Glaubens, in welchem der
pcaktisehe Glaube gerade das höchste und wichtigste Moment darstellt.
Siin' Werk als solches mag nach dem Maasse seiner üebereinstimmung
nät den Erfordernissen der sittlichen Weltordnung objektiv werthvoll
für den. Fortgang des teleologischen Weltprocesses sein, kann aber
niemals anders einen subjektiven religiösen Werth beanspruchen, als
wenn es aus einer religiös-sittlichen Gesinnung entspringt; jede Ab-
weü^hong von diesem Grundsatz wäre ein krasser Bückfall in eine
rein Siiusserlidie Gesetzesreligion, die noch nicht einmal, wie doch
schon das Judenthujn, zum Begriff der inneren Gesinnungsgerechtigkeit
gelangt wäce. Für das reUgiöse Subjekt kommt immittelbar immer
nuir der praktische Glaube in Betracht, die Bethätigung desselben
ab^r niemals unmittelbar, sondern bloss mittelbar, und zwar erstens
als selbstverständliche Folge des Glaubens, ohne die er mit sich
selbst in Widerspruch gerathen würde,, zweitens als technisches Hilfs-
mittel für die sitüiehe Selbstzucht oder den Besserungsprocess, und
dritteos als die Skala, au welcher der Mensch die Grösse seiner
Fortachiitte oder Bückschritte im Besserungsprocesse ablesen kann.
Aber über den Kampfplatz hmaus, auf welchem alle bisherigen
Streitigkeiten über Glauben und Werke geführt worden sind, bleibt
ein in denselben bisher kaum berührtes Problem übrig, das sich so
fonnuüren lässt: ist in letzter Instanz der subjektive Heilsprocess
der. Zweck, des objektiven, oder umgekehrt der objektive Heilsprocess
Zweck des subjektiven? Mit anderen Worten: dient der objektive
Heilsprocess bloss dazu, eine Summe von subjektiven Heilsprocessen
zu Stande zu bringen, welche ausschliesslich Selbstzweck sind, ohne
nocli einen objektiven Zweck ausser sich zu haben, oder dienen alle
Sttlgektiven Heilsprocesse, abgesehen von ihrem Zweck individueller
Srlösung, in letzter und höchster Instanz einem objektiven Zweck,
welcher dann nur in dem objektiven Heilsprocess gesucht werden
kaam? Im ersteoren Fall ist die Summe aller individuellen Bethätigungen
im realen Weltprocess nur Mittel für die Summe von inneren Glaubens-
akten und Heilszuständen, welche mit ihrer Hilfe zu Stande kommt
und in ihr den Tummelplatz zur an und für sich gleichgiltigen
Bewährung findet; im letzteren Falle ist die in der Menschheit zu
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304 C. I Der subjektive Heilaprocess.
entwickelnde Summe von praitischem Glauben nur ein psyöholc^scher
Garantiefond für die Verwirklichung des objektiven Heilsprocesses.
Dass es für den subjektiven Heilsprocess und für den subjektiven
Gesichtspunkt, aus welchem der Einzelne denselben zu betrachten
hat, auf die im praktischen Glauben gipfelnde Herstellung des religiösen
Verhältnisses und nicht auf die aus d^oiselben selbstverständlich
resultirenden Werke ankommt, das ist unbedingt festzuhalten; die
Frage ist nur, ob dieser subjektive Gesichtspunkt denn auch wirklieh
der einzig mögliche, beziehungsweise der höchste ist, und wenn nicht,
ob dann nicht auch mit der Umkehrui^ des Gesichtspunktes jenes
Verhältniss sich umkehrt. Nun kann es aber keinem Zweifel unter*
liegen, dass der objektive oder universelle Gesichtspunkt höher steht
als der subjektive oder individuelle, der göttliche höher als der
menschliche, und dass vom göttUchen Gesichtspunkt aus es eben
nicht auf das Einzelne als solches, sondern nur auf das Einzelne als
Glied des Ganzen, in Wahrheit also doch nur auf das Ganze ankonmit.
Weil das Ganze sich organisch aus Gliedern erbaut, deshalb müssen
um des Ganzen willen die Glieder tüchtig werden, ihre Aufgabe am
Ganzen zu erfüllen; deshalb müssen die Menschen geheiligt werden,
um tüchtige Werkzeuge zur Mitarbeit am objektiven Heilsproeess zu
werden. Aus göttlichem Gesichtspunkt hat also die Oflfenbarung und
Erlösung nur als Vorbedingung zur Heiligung einen Werth, und die
Heiligung wieder nur als Tauglichmachung der Menschen zu ihren
objektiven Aufgaben ; hier kommt also alles auf die reale Bethatigung
an, welche den objektiven oder universellen Heilsproeess fördert, und
die Gesinnung oder der Glaube behält nur einen mittelbaren Werth,
insofern er die sicherste Bürgschaft für regelmässige Bethatigung am
objektiven Heilsproeess gewährt.
Jede religiöse Weltanschauung, welche den subjektiven Gesichts-
punkt des individuellen Heilsprocesses für den höchsten und letzten
erklärt, kann sich der Gefahr des Bückfalls in individualeudämonistisohe
Pseudoreligion gar nicht entziehen ; denn selbst dann, wenn sie (wovou
das evangelische Christenthum himmelweit entfernt ist) die Hoffiiung
auf eine durch den Heilsproeess zu erlangende positive Seligkeit
definitiv beseitigen wollte, so bliebe doch immer noch das negativ
eudämonistische Motiv der Erlangung der Contrastbeseligung und des
dauernden Gottesfriedens als eigentliche psychologische Triebkraft för
das Aufsuchen des religiösen Verhältnisses bestehen. Diese Gefahr
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3. Die Früchte der Gnade. 305
wird nur daim vermieden, wenn die Individualerlösiing und Heiligung
zu uHselbstständigen und an und für sich werthlosen Mitteln im
objektiven Heilsprocess herabgesetzt werden, ebenso wie das Individuum
selbst nur etwas Unselbstständiges und an und ftlr sich (d. h. abgesehen
von seiner Gliedschaft am Ganzen) Werthloses ist. Dieser Gedanke
hebt die subjektiv unübersteigliehe Wichtigkeit des subjektiven Heils-
processes nicht auf, sondern verleiht ihr erst die wahre objektive
Basis, ohne welche sie teleologisch haltlos in der Luft schwebte; er
beugt aber zugleich jedem religiösen Hochmuth vor, wie solcher bei
einem als Selbstzweck betrachteten religiösen Verhältniss das Individuum
trotz aller seiner Demuth vor Gott fast unvermeidlich ergreift.
Wenn man so einen objektiven teleologischen Werth der den
objektiven Heilsprocess fördernden Werke konstatiren muss, so drückt
man damit nichts anderes aus, als was das naivste religiöse Bewusstsein
unmittelbar bekundet; der geheiligte Wille will die seinem Inhalt
gemässe Bethätigung des Menschen doch nicht deshalb, weil sie ihm
als Willen gemäss ist oder einen psychologisch nothwendigen Ausfluss
seiner selbst bildet, sondern er macht vielmehr gerade deshalb diesen
idealen Inhalt zum Inhalt seines Willens, weil er in seiner Verwirk-
lichung ein objektiv werthvolles Geschehen erblickt. Die sittliche
Autonomie stellt die sittliche Weltordnung eben darum als verbindliche
Norm des Willens auf, weil sie in der Verwirklichung der Idee der
sittlichen Weltordnung zugleich die Verwirklichung des teleologisch
werthvollen göttlichen Willens erkennt, und die religiös-sittliche
Gesinnung ist bemüht, die Verwirklichung der sittlichen Weltordnung
zu befördern, weil sie durch diese gottgemässe Willensbethätigung die
Erfüllung der letzten und höchsten Zwecke Gottes, oder des absolut
werthvollen Endzwecks zu unterstützen hofft. Giebt es eine derartige
teleologische Weltordnung, so ist jeder subjektive Zweck, auch derjenige
der individuellen Erlösung, im Vergleich zu ihr von völlig verschwin-
dender Wichtigkeit ; giebt es eine solche nicht, so ist Sittlichkeit und
Religion ohnehin eine auf die Dauer unhaltbare Illusion, so dass es
nicht der Mühe lohnt, durch künstliche Stützen die Scheindauer des sub-
jektiven religiösen Verhältnisses noch um eine kleine Frist zu verlängern.
So kehrt sich in der That die Sache um. Was vom Gesichtspunkt
subjektiver Religiosität zunächst als Selbstzweck erscheint, der subjektive
Heilsprocess mit seiner Erlösung und Heiligung, das wird vom
objektiven Gesichtspunkt der universellen Heilsordnung aus dienendes
V. Hartmann, Die Beligion des Geistes. 20
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306 C. I. Der subjektive Heilsprooess.
Mittel zur Förderung des objektiven Heilsprocesses ; was aus subjektivem
Gesichtspunkt lediglich als Mittel für den subjektiven Heilsprooess
galt, die Bethätigung des Glaubens, das wird nun aus objektivem
Gesichtspunkt zum wahren Zweck aller subjektiven Religiosität. Das
naive religiöse Bewustsein fasst reüexionslos beides untrennbar in
Eins und hat damit ganz Becht; sobald aber einmal die Reflexion
begonnen hat, die einzelnen Seiten dieses Gedankens abstrakt heraus-
zuheben, kommt aUes darauf an, dass diess auch in lückenloser
Vollständigkeit geschehe, und dass die einzelnen Momente der Idee
zum Schluss auch wieder in der ihnen gebührenden Ordnung verknüpft
werden, damit nicht die ganze Idee einseitig entstellt und verzerrt
erscheine. Der subjektive Heilsprooess muss als Mittel begriffen
werden, das dazu dient, den Menschen willig und tüchtig zu machen
zur Erfüllung des autonomen sittlichen Pflichtgebots.
Wollte man die Religion auf den subjektiven Heilsprooess be-
schränken, so müsste man, um sich des Eudämonismus zu erwehren,
sagen, dass sie bloss Mittel zur Sittlichkeit sei; wenn man aber die
höchste Aufgabe der Religion erst in der religiösen Hingebung der
Persönlichkeit an den objektiven Heilsprooess erkennt, dann fällt diese
Losreissung der Sittlichkeit von der Religion fort, und die Religion
umspannt sowohl den objektiven Zweck wie dessen subjektive Ver-
mittelung. Sobald man begreift, dass alle sittliche Pflicht religiös
begründete Pflicht gegen den immanenten Gott unbeschadet des
weltlichen Inhalts der Pflicht, ist, hört auch das vermeintliche religiöse
Interesse auf, Ujoch besondere Pflichten gegen Gott zu statuiren, weil
dieses Interesse nur aus dem Irrthum entspringt, dass es Pflichten
gebe, die nicht zugleich in formeller Hinsicht Pflichten gegen Gott
wären. Alle Pflichten gegen Gott erschöpfen sich in der pflichtmässigen
Mitarbeit am objektiven Heilsprooess, und besondere inhaltlich auf
Gott bezügliche Pflichten sind unmöglich, weil Gott gar kein Objekt
neben anderen Objekten, sondern der allumfassende unpersönliche
absolute Grund alles Daseienden ist.
So fohrt uns die höchste unter den Früchten der Gnade aus dem
subjektiven Heilsprooess in den objektiven hinüber: die pflichtmässige
Bethätigung des Individuums am objektiven Weltprocess im Einzelnen
zu erörtern, ist nicht mehr Sache der Religionsphilosophie, sondern
der Individualethik.
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II. Der objektive Heilsprocess.
Der objektive Heilsprocess ist der teleologische Weltprocess als
der durch die Heiligung zur universellen Erlösung führende Process;
er ist die Verwirklichung der im Lichte der objektiven Gnade als
Heilsordnung sich darstellenden teleologischen Weltordnung, wie dies
in der Theologie und Kosmologie des Näheren entwickelt worden ist.
Als providentielle Verwirklichung der teleologischen Weltordnung ist
der Heilsprocess zunächst und wesentlich ein unbewusst-teleologischer
Process, bei welchem aber alles darauf angelegt ist, das Bewustsein
bis zu dem Grade zu steigern, dass der bewusste Wille mehr und
mehr als dominirender und endlich ausschlaggebender Faktor mitwirkt.
So lange der immanente Zweck der Erlösung oder die immanente
Heilsgnade unbewusst wirkt, spricht man (in Beziehung auf die erst
im Bewusstsein subjektiv als Gnade sich enthüllende Gnade) von
vorbereitender Gnade, und dies ist insofern ganz richtig, als nur das
Bewusstsein und die im Bewusstsein subjektiv gewordene Gnade die
tmiverselle Erlösung herbeizuführen vermag, während die unbewusste
Gnade ihre teleologische Aufgabe damit erfüllt, wenn sie das bewusste
Geistesleben zu dieser Höhe hinaufleitet. Dabei ist aber festzuhalten,
dass die Gnade auch da, wo sie nach der menschlichen Seite ihrer
Punktion oder als integrirender Bestandtheil des menschlichen Geistes-
lebens Inhalt des menschlichen Individualbewusstseins wird, doch
immer nur als Kesultat der jeweiligen unbewussten Funktion, und
selbst in dieser Gestalt nur für das menschliche Bewusstsein als
solches in seinem Unterschiede vom absoluten unbewussten Wissen
Gottes bewusst wird; hieraus erhellt, dass die Gnade als Funktion
oder als wirkende göttliche Aktivität immer unbewusst ist, gleichviel
20*
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308 ^' ^* ^^ objektive Heilsprocess.
ob sie als vorbereitende Gnade jenseits alles Bewusstseins liegt, oder
ob sie als subjektive Gnade in den Hauptstationen ihxer Urgebnise^
für das menschliche Geistesleben für dieses zum Bewusstsein kommt.
Im Mensehheitsleben selbst büdet die in jeder Hinsicht unbewusst-
bleibende Gnade mit der subjektiv bewusstwerdenden Gnade ein
kunstvolles Gewebe, bei dem Zettel wie Einschlag in gleichem Maa^se
providentiell ist, wenngleich die Menschen oft genug sich einbilden,
dass dasjenige an diesem Gewebe, was Werk ihrer bewussten Thätigkeit
ist, nun auch bloss ihr Werk und nicht providentiell gesetzt sei.
Wie die sittliche Weltordnung der die Menschheit betreffende
Ausschnitt der teleologischen Weltordnung ist, so ist die Geschichte
der die Menschheit betreffende Ausschnitt des objektiven Heilsprocesses,
und als solcher der Verwirklichungsprocess der sittlichen Weltordnung,
in welcher die wachsende Vervollkommnung aller menschlichen Geistes-
fähigkeit bereits eingeschlossen ist. Der geistige Extrakt der Oeschichte,
in welchem ihre positiven Ergebnisse sich spiegeln, wird Kultur-
geschichte genannt ; so wie man die Kulturgeschichte aus naturwissen-
schaftlichem, volkswirthschaftlichem, ästhetischem u. s. w. Gesichtspunkt
behandeln kann, so kann man sie auch aus religiösem Gesichtspunkt
behandebi, und die so behandelte Kulturgeschichte ist der geistige
Extrakt des objektiven Heilsprocesses. Die aus religiösem Gesichtspunkt
behandelte Kulturgeschichte fällt nicht ohne Weiteres zusammen mit
der Entwickelungsgeschichte des religiösen Bewusstseins ; sie würde
dies nur dann thun, wenn alle Faktoren der Entwickelung, welche letzten
Endes bestimmt sind, vom religiösen Bewusstsein als Hilfsmomente
des objektiven Heilsprocesses aufgenommen zu werden, auch ihren
ganzen geschichtlichen Entwickelungsgang in unlösbarer Verknüpfung
mit dem religiösen Bewusstsein durchliefen. Da dies nicht der Fall
ist, vielmehr viele Faktoren des kulturgeschichüichen Menschheits-
lebens einen selbstständigen, ziemlich früh vom religiösen Bewusst-
sein mehr oder minder abgelösten Entwickelungsgang durchmachen,
so bedürfen alle diese einer gesonderten Berücksichtigung in der
kulturgeschichtlichen Darstellung des objektiven Heilsprocesses, und
die Entwickelungsgeschichte des religiösen Bewusstseins als solchen
kann nur die leitenden Grundideen zur Orientierung in der Vielheit
dieser mehr oder minder selbstständigen Einzelentwickelungen abgeben.
Auf die Wechselwirkung des religiösen Bewusstseins mit dem
wissenschaftlichen, ästhetischen und sittlichen Bewusstsein braucht
\
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C. n. Der objektive Heilsprocess. 309
hier nicht näher eingegangen zu werden, da die erforderlichen An-
detltangeii bereits oben in der Beligionspsyohölogie gegeben worden
sind, welche genügen dürften, um die Wichtigkeit dieser Wechsel-
wirkung fttr die Erfüllung der letzten und höchsten Aufgaben des
religiösen Bewusstseins klar zu machen und die Nothwendigkeit einer
eingehenden Berücksichtigung des wissenschaftlichen und künstlerischen
Entwickelungsganges in einer religiösen Kulturgeschichte ausser Frage
zu stellen. Am engsten ist mit der Entwickelung des religiösem Be-
wusstseins diejenige des sittlichen verknüpft, und doch schlagt die
letztere häufig genug selbstständige Wege ein, wenn das religiöse
Bewusstsein sich zeitweilig in eine Sackgasse verrannt hat und im
TJebrigen ein frischer Geisteshauch die Völker zu neuem Aufschwung
führt. Neben der Entwickelung des subjektiven sittlichen Bewusst-
seins läuft aber noch die Entwickelung der objektiven social-ethischen
Institutionen einher, und so gross auch die Wichtigkeit des ersteren
für die Entwickelung des religiösen Bewusstseins sein mag, so ist
doch die der objektiven sittlichen Weltordnung fast noch grösser.
Wenn die Entwickelung des subjektiven sittlichen Bewusstseins die
Geschichte der Individualethik fällt, so diejenige der objektiven sitt-
lichen Weltordnung die Geschichte der Socialethik, welche die all-
mähliche Entfaltung der objektiven sittlichen Weltordnung zu schil-
dern hat.
Die objektive sittliche Weltordnnng umfasst eine grosse Menge
social- ethischer Institutionen, welche sich je nach den sonstigen
kulturgeschichtlichen Zuständen verschieden gruppiren. Am deut-
lichsten sondern sich in der bisherigen Geschichte drei Gruppen von
einander ab, welche aber verschwimmende Grenzen gegen einander
haben, indem einzelne social-ethische Institutionen bei verschiedenen
Völkern und zu verschiedenen Zeiten bald dieser, bald jener Gruppe
zugetheilt werden. Die primitive Grundlage aller bildet die Gesell-
schaft als Horde, innerhalb deren sich die Familie entwickelt, ohne
ätis dem Begriff der Gesellschaft selbstständig herauszutreten; die
erste selbstständig sich ausscheidende Gruppe ist der Staat, welcher
die Institutionen zur Behauptung der Kechtsordnung nach innen und
der Existenz nach aussen in sich schliesst. Erst viel später sondert
sich aus Staat und Gesellschaft die Kirche ab, als die Grappe der-
jenigen Institutionen, welche der Erhaltung und Beförderung des
religiösen Lebens dienen. Die Gesellschaft zeigt allemal nur den übrig
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310 C. n. Der objektive Heilgprooess.
bleibenden Eest social-ethischer Institutionen, welcher weder yom Staat
noch von der Kirche in Beschlag genommen worden ist. Erziehung,
Armenpflege u. dgl. sind bald ganz der Gesellschaft tiberlassen, bald
der Hauptsache nach von. der Kirche, bald vom Staat okkupirt, bald
nach bestimmten Grundsätzen unter alle drei vertheilt ; ebenso können
Staat und Kirche als juristische Personen auch einen Theil der volks-
wirthschaftlichen Produktion übernehmen, ohne sich mit ihrem Begriff
in Widerspruch zu setzen, wobei die Frage der Zweckmässigkeit
solchen Verfahrens ganz dahin gestellt bleibt und nur unter Berüefc-
sichtigung der konkreten Verhältnisse entschieden werden kann.
Bei der Wichtigkeit, welche der Organisation des Staates und
der Gesellschaft für die Förderung oder Henmiung des objektiven
Heilsprocesses zuzuschreiben ist, könnte es die Aufgabe der Beligions-
Philosophie scheinen, die wünschenswerthe Organisation beider für
die gegenwartige Phase der Geschichte naher zu erörtern und einen
Blick auf ihren voraussichtlichen Fortgang in der Zukunft zu werfen.
Indessen muss diese Aufgabe der Socialethik vorbehalten bleiben, da
trotz aUer metaphysisch-religiösen Fundamentirung der ethischen Prin-
cipien doch die Ableitung der ethischen Forderungen und die Demon-
stration der zeitweilig zweckmässigsten social-ethischen Institutionen
ein von religiösen Bücksichten direkt unberührtes selbstständiges Ver-
fahren erfordert. Nur in Bezug auf die Kirche, die ja auch unter
das Bereich der Socialethik fäUt, dürfte ein abweichendes Verfahren
insoweit am Platze sein, als die Beligionsphilosophie zu bestimmen
hat, welche Art und welches Maass von Pflege für das religiöse
Leben durch social-ethische Institutionen gesichert werden müsse.
Es scheint deshalb geboten, zum Schluss einen Blick auf die Idee der
Kirche zu werfen, und der Frage naher zu treten, ob und weldie
Art von Kirche von einem religiösen Bewusstsein postulirt werde,
das sich auf dem durch die vorhergehenden Darlegungen gekenn-
zeichneten Standpunkt befindet.
Jede Kirche einer bestimmten Religion pflegt sich mit dem
Gottesreich zu identificiren. Dabei ist zunächst der Ausdruck Gottes-
reich zu beanstanden. Derselbe passt allenfalls für das Herrschafts-
bereich eines nicht absoluten, persönlichen Gottes, obwohl er nach
Analogie eines Staatsbegriffes gebildet ist, der alle Souveränität in die
Person des Herrschers und die alleinige Quelle des Bechts in seine
Willkür legt; an der Hand des modernen Staatsbegriffes, wo das
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C. n. Der objektire HeilÄprooess. 311
Recht zwischen Fürgt und Volk vereinbart wird, oder gar vom Volke
allein durch seine berufenen Organe producirt wird, schwindet der
religiöse Werth dieser Analogie ebensosehr wie für ein religiöses
Bewusstsein, welches die persönliche Gegenüberstellung von Gott und
Mensch als irrig erkannt hat. Wird dann trotzdem der traditionelle
Ausdruck Gottesreich beibehalten, so stellt er nur ein konventionelles
Zeichen dar fftr einen erst anderweitig näher zu bestimmenden Be-
griff; dieser Begriff aber wird passender gleich durch diejenigen
Worte bezeichnet, welche zu seiner Bestimmung ohnehin unerlässUch
sind: teleologische Weltordnung, sittliche Weltordnung, universelle
Heilsordüung. Eine bestimmte Religion mag, so lange sie bei sich
selbst beharren will, Opportunitätsgrttnde dafür haben, dass sie obsolet
gewordene Ausdrücke als die leeren Hülsen beibehält, welche sie mit
neuem Begriffsinhalt erfiült; ein religiöses Bewusstsein, das sich mit
keiner der gegebenen Religionen identisch weiss und die Nothwendig-
keit erkennt, über sie alle gleichmässig hinauszuschreiten, hat keinen
Grund mehr, den Ersatz des unangemessenen Ausdrucks durch be-
grifflich adäquate Bezeichnungen zu verweigern, da das zwecklose
Konserviren eines aus überwundenen Stufen herstammenden Ausdrucks
doch immer die Gefahr nach sich zieht, auch die principiell über-
wundenen Vorstellungen der niederen Stufen in die errungene höhere
Stufe des religiösen Bewusstseins wieder einschleichen zu sehen.
Aber auch ganz abgesehen von der terminologischen Kritik des
Ausdrucks Gottesreich kann doch keine Kirche einer bestimmten
Religionsstufe oder Religionsform den Anspruch erheben, Gottesreich
zu sein. In keiner Kirche decken sich die social-ethischen Institutionen
mit der unvollkommenen Gesinnung der sie verwirklidienden mensch-
lichen Träger, in keiner die Idee der Kirche mit ihrer wirklichen Er-
scheinung, weshalb auch in den meisten die wahre Verwirklichung
der Idee erst in eine transcendente Zukunft hinausprojicirt wird. Der
Versuch, diese Diskrepanz durch die Unterscheidung emer sichtbaren
und einer unsichtbaren Kirche auszugleichen, schlägt fehl, weil das,
was Kirche ist, nicht unsichtbar ist, und das, was unsichtbar ist, nicht
Kirche ist. In den meisten bestimmten Religionen giebt es ausserdem
nicht eine, sondern mehrere Kirchen, die der Einigung widerstreben
und sich gegenseitig bekämpfen, und deren Gesammtheit wieder die
Kirchen aller anderen Religionen als nicht zum Gottesreich gehörig
bekämpft. Würde die Erkenntniss durchdringen, dass nur eine sichtbare
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312 0. n. Der objektive Heilsprocess.
Kirche im Diesseits Kirche heissen^kann, eine solche aber als sichtbare
Kirche unvoUkominen sein muss^ so wurden die Gradunterschiede in der
UnvoUkonunenheit und die Meinungsverschiedenheiten über diese Grad-
unterschiede keinen Grund mehr abgeben, sich gegenseitig yom Gottes-
reich auszuschliessen, sondern alle Kirchen anerkennen lassen, dass
sie alle nur Glieder des einen Gottesreiches in der Menschheit sind.
Aber auch die Gesammtheit aller vergangenen, gegenwärtigen und
zukünftigen Kirchen in der Menschheit erschöpft nicht den Begriff
des Gottesreiches; denn die Kirchen sind ja selbst nur Eine Gruppe
der social-ethischen Institutionen der objektiven sittlichen Weltordnung,
neben welcher andere Gruppen, wie Staat und Gesellschaft einher-
laufen. Die Kirchen müssten also zunächst die Absicht bekennen,
Staat und Gesellschaft ohne Best in sich aufzusaugen, bevor sie sich
mit dem Gottesreich identificiren können; die Kirche mosste zum
Universalkirchenstaat und zur Universalkirchengeseilschaft zugleich
werden, um das ganze Gottesreioh zu sein. Solche Aspirationen liegen
allerdings in der verjesuitisirten römisch-katholischen Kirche; aber die
Erfahrung und Wissenschaft stimmen darin überein, dass die Kultur-
aufgaben des Staates und der Gesellschaft schlechter durch einen
Kirchenstaat und eine verkirchlichte Gesellschaft geleistet werden, als
durch einen Staat und eine Gesellschaft, die zwar von der Kirdae
religiöse Anregungen erhalten, aber im TJebrigen ihre Angelegenheit
unabhängig von der Kirche ordnen.
Der Anspruch der Kirchen, das Gottesreich auf Erden zu repräsen-
tiren, ist also in jeder Hinsicht unhaltbar und darauf zu beschränken,
dass sie in ihrer Gesammtheit die Gruppe von social-ethischen In-
stitutionen innerhalb der objektiven sittlichen Weltordnung darstellen,
welche der Pflege und Förderung des religiösen Lebens der Mensch-
heit zu dienen bestimmt sind. Damit ist ihre hohe Bedeutung für
den objektiven Heilsprocess anerkannt, ohne in begriflfswidrige üeber-
treibung zu verfallen.
Auf unvollkommenen Entwickelungsstufen der staatlichen und
socialen Einrichtungen kann die Kirche mit Erfolg vikarirend eintreten,
um die von jenen nicht oder unzulänglich geleisteten Aufgaben an-
nähernd zu erfüllen. So kann z. B. bei dem Mangel eines geschlossenen
politischen Staatensystems die mehreren Staaten gemeinsame Kirche
als politisch einigendes Band wirken (Buddhismus, Islam, Katholicis-
mus); ebenso kann sie der Gesellschaft und dem Staat die Pflege
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G. n. Der objektive Heilsprooess. 313
der Kunst und Wissenschaft, die Schule, die Armenpflege u. s. w.
atoehmen. Selbstverständlich hören solche vikarirenden Funktionen
aü^ sobald die eigentlich zu denselben bestimmten Organe sich hin-
länglich entwickelt haben, um sie selbst zu leisten; je mehr also die
Kultur fortschreitet, desto mehr mufls die Kirche auf die Pflege des
religiösen Lebens im eigentlichen Sinne eingeschränkt werden. Was
die Vertreter der Kirche dabei als Verlust empfinden, ist doch aus
dem Gesichtspunkt des objektiven Heilsprocesses thatsächlich ein Ge-
wiim ; die berufenen Organe können und müssen die ihnen gebührenden
Funktionen unbedingt besser leisten als die fQr die Zeit ihrer Unreife
vikarirend für sie eingetretenen es vermochten. Selbst vom kirch-
lichen Standpunkt müsste man zugeben, dass solche Verluste für die
Kirche Gewinne für's Gottesreich sind.
Die Dienste, welche die Kirchen der Förderung des religiösen
Lebens im engeren Sinne leisten, sind nun dreifacher Art : der «Dienst
am Wort», der gemeinsame Kultus und die Kirchenzucht ; aus äusseren
Gründen sollen dieselben hier in der umgekehrten Reihenfcdge der
üblichen Aufzählung besprochen werden.
Die Kirchen zu cht ist von der einschneidendsten Bedeutung, wo
das religiöse Bewasstsein sich auf der Stufe der Heteronomie befindet
und die Kirche als die berufene Vertreterin des göttlichen Gesetzes
und der mit ihm verknüpften Verheissungen und Strafen anerkennt;
insbesondere da muss die Kirchenzucht von grösstem Gewicht sein,
wo die moralische Legitimation der Kirche durch das heteronome
religiöse Bewusstsein sich durch eine äussere Macht verstärkt, welche
auf einem hierarchisch, durchgebildeten kirchlichen Organismus und
auf der kirchlichen Okkupation verschiedener politischer und socialer
Funktionen ruht. Je mehr die Kirche auf ihre eigentliche, rein reli-
giöse Aufgabe beschränkt wird, und je mehr die hierarchische Macht-
entfaltung durch Zersplitterung zerbröckelt, beziehungsweise vom Staate
aus politischen Gründen beschränkt wird, desto mehr erlischt die
äAissere Macht der Kirche zur Entfaltung wirksamer Zuchtmittel; wo
aber gar das religiöse Bewusstsein von der Stufe der Heteronomie zu
derjenigen der Autonomie sich erhebt, da wird der Kirche schlechter-
dings jeder Eechtstitel zur Ausübung einer specifischen Kirchenzucht
bestritten. Von dem ganzen, ehemals so weiten Gebiet der Kirchen-
zucht bleibt nichts übrig als der Ausschluss Einzelner von der Theil-
nahme am Kultus, aber auch dieser nicht mehr im Sinne einer Strafe,
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314 C. n. Der objetöre Heilsprooess.
sondern als vorbeugender Selbstschutz der Gemeinde gegen eine An-
stoss erregende missbräuchliche Theilnahme am gemeinsamen Kultus.
Auch diese Maassregel hat nur solchen Personen gegenüber einen
Sinn, welche zu roh und ungebildet sind, um durch Selbstausschluas
von der Theilnahme an einem ihren Bedürfnissen nicht entsprechenden
Kultus jedes Aergemiss zu vermeiden, oder welche eine so tiefe Stufe
des religiösen Bewusstseins einnehmen, dass sie in dem Aberglauben
befangen sind, durch Theilnahme an dem Kultus einer principiell
verschmähten Religion irdische oder himmlische Vortheile zu erlangen.
In beiden Fällen handelt es sich lediglich um polizeilichen Schutz
der Gemeindeandacht gegen die Störung, welche derselben aus dem
Eindrängen notorisch nicht zu ihr gehöriger Individuen erwachsen
könnte; solche Maassregeln fallen unter den juridischen Begriff der
Wahrung des Hausrechtes der Gemeinde, haben aber mit dem
heteronomen Begriff der Kirchenzucht nichts mehr gemein, oder
können doch gerade nur insoweit noch unter denselben befasst werden,
als noch Reste von Heteronomie sich im Gemeindebewusstsein er-
halten haben. Eine auf dem Boden der religiösen Autonomie stehende
Kirche muss die Kirchenzucht unweigerlich aus ihren Aufgaben
streichen, da die mit Worten ermahnende und strafende Thatigkeit
der Seelsorger bereits unter den «Dienst am Wort» fällt; sie darf
dies aber auch ohne Gefahr für den sittlich unreifen Theil des
Volkes, weil die bei unvollkommenen politischen Zuständen ihr noth-
wendig theilweise zut Last fallende heteronome Volks -Pädagogik
bei fortgeschrittener Staatsentwickelung von den verschiedenen Organen
des Staates geleistet wird, und zwar viel besser geleistet wird als
von der Kirche. Die Abschreckung von Verbrechen durch Strafen,
die Wahrung des Rechts und der Gerechtigkeit, der Schutz der
Schwachen an Leben, Ehre und Eigenthum, die Bevormundung der
Waisen und Irrsinnigen, die Sorge für die Kranken und Arbeits-
unfähigen und endlich die gesundheitspolizeilichen Maassregeln sind
lauter Leistungen des Staates, welche einen mehr oder minder
obUgatorischen Charakter tragen und deshalb für die Betroffenen in
heteronomer Gestalt auftreten, dadurch aber auch die kirchliche
Heteronomie überflüssig machen.
Der Kultus kommt nach drei Seiten in Betracht, nämlich als
Predigt, ästhetischer Kultus und rein religiöser Kultus; die Predigt
und der ästhetische Kultus suchen durch Vermittelung des gesprochenen
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C. n. Der objektive Heilsprooess. 315
Wortes, beziehungsweise der ästhetischeii Empfindung, auf das religiöse
Gefühl zu wirken, während der rein rdigiOse Kultus unmittelbar auf
das letztere Bezug hat. Als Predigt fällt der Kultus unter den
«Dienst am Wort», so dass zunächst nur der ästhetische und rein
religiöse Kultus zu betrachten ist.
Der ästhetische Kultus zieht alle Gattungen der Kunst in sein
Bereich. Die Architektur durch stilgemässe Herstellung der gottes-
dienstlichen Bauwerke, die bildende Kunst durch Ausschmückung der-
selben mit Bildwerken und Gemälden, den Tanz als Bestandtheil von
Prooessionen und religiösen Festen, die Poesie als religiöse Lyrik,
Epik und Dramatik, die Musik sowohl als selbstständige Instrumental^
musik, wie als Begleitung der religiösen Tänze und in Verbindung
mit den verschiedenen Gattungen der religiösen Poesie.
Was zunächst die Architektur betrifft, so nimmt diese Kunst
den übrigen Künsten gegenüber insofern eine Sonderstellung ein, als
die freie Schönheit in ihr den geringsten Eaum zur Entfaltung findet
und enger als in allen übrigen an den praktischen Zweck des Bau-
werks gebunden ist; das Stilgerechte eines religiösen Gebäudes wird
sich demnach vor allem an den Zweck desselben anzuschmiegen haben.
Wo die Erweckung ästhetischer und sinnlicher Gefühle durch religiöse
Kunstübung im Vordergrund steht, wird ein ganz anderer Umfang,
Qrundriss u. s. w. zulässig und wünsohenswerth sein, um den Eindruck
des geheimnissvoll Erhabenen hervorzubringen, als da wo der Schwer-
punkt des Kultus in der Predigt liegt, also verlangt wird, dass alle
im Innenraum Anwesenden den Prediger verstehen und sehen können.
Der religiöse Baustil wird also wesentlich abhängig sein von der Art
von Kultus, den die Bauten zu beherbergen bestimmt sind; wo der
ästhetische Kultus principiell ausgeschlossen bleibt, kann und darf
auch das religiöse Gebäude nicht die Aufgabe haben, religiös an-
gehauchte ästhetische Empfindungen zu erwecken, sondern bleibt auf
seinen nächsten praktischen Zweck beschränkt.
Plastik und Malerei haben auf der naturalistischen Stufe des
religiösen Bewusstseins die Aufgabe, die in zoomorphischer oder anthro-
pomorphischer Gestalt angeschauten Götter und ihre Mythen dar-
zustellen; auf der supranaturalistischen Stufe des religiösen Bewusst-
seins, wo diese Möglichkeit aufhört, werden sie auf die Darstellung
der heiligen Legende und Eeligionsgeschichte beschränkt. Diese Dar-
stellungen sind vollkommen berechtigt, aber nicht in den gottes-
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316 C. n. Der objektive Heilst)roces8.
dienstlichen Bäumen, wo sie nur dazu dienen können, die Aufinerksam-
keit Ton den religiösen Interessen ab und auf ästhetische Interessen hin
zu lenken; ausserdem können sie reale religiöse Gefühle im Gegensatz
zu ästhetischen religiösen Anempfindungen nur bei solchen Personen
anregen, welche innerhalb der betreflFenden bestimmten Religion stehen,
und die poetische Legende noch nicht von geschichtlicher Realität
unterscheiden gelernt haben. In der heterosoterlschen Christusreligion
bildet z. B. die Erlösergestalt den Mittelpunkt der bildlichen Dar-
ätellungen, und müssen diese ihre beabsichtigte Wirkung auf ein reli-
giöses ßewusstsein nothwendig verfehlen, welches mit dem hetero-
soterlschen Princip gebrochen hat und zur Autosoterie Torgedrungen ist.
Der Tanz in seinen verschiedenen Gestalten ist im Laufe der
Eulturentwickelung bereits mehr und mehr aus dem Kultus aus-
geschieden; während er in den Naturreligionen der adäquateste Aus-
druck der religiösen Ekstase war, ist er im Katholicismus auf feier-
liehe Umzüge zusammengeschrumpft und im Protestantismus ganz
verschwunden. Das Schicksal, welches diese älteste und urwüchsigste
Form des ästhetischen Kultus betroflFen hat, kann als typisch gelten
ftirr das Schicksal, welches der ästhetische Kultus in seiner Gesammt-
heit früher oder später zu gewärtigen hat. Der Tanz, der ja wesent-
lich Mimik ist, erweitert sich zur mimischen Darstellung religiös
wichtiger Vorgänge; in den Naturreligionen sind es theils symbolische
Darstellungen von religiös wichtigen Naturvorgängen, theils panto-
mimische Darstellungen aus den Götter- und Heroensagen, in den ge-
schichtlichen Religionen dagegen betreffen sie ausschliesslich Abschnitte
aus der heiligen Geschichte. Auch diese mimisch-symbolischen Dar-
stellungen sind aus dem protestantischen Kultus bereits verschwunden,
während der katholische noch vielfach an denselben festhält. Die
Verbindung solcher Pantomimen mit dem gesprochenen Wort oder
das religiöse Drama hat im theistischen Kultus keinen rechten Puss
fassen können; die Mysterien und Passionsspiele sind hier immer als
eine selbötständige religiöse Kunstübung ausserhalb des kirchlichen
Gottesdienstes betrieben worden.
Die Musik eignet sich wie keine andere Kunst zur Erzeugung
von subjektiven Gefühlsstimmungen und ist deshalb auch insbesondere
von den gemüthsinnigen germanischen Völkern als wesentlicher Bestand-
theil des Kultus gehegt und gepflegt worden. Sie liefert zunächst als
Instrumentalmusik eine Ouvertüre zum Kultus und lässt die durch
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C. n. Dor objeldäve Heüsproeess. gl 7
deBselben angeregten Empfindungen in einem Nachspiel ausklingen;
sie erst macht die religiöse Lyrik filbig, Bestandtheil des £ultus bei
P^ulturvOlk^m m werden, und weist derselben in Gestalt des volks-
Uedmässagen Gemeindegesanges einen um so wichtigeren Platz an,
als hier die Gemeinde selbst sich an der Hervorbringung des ästhetischen
Kultus ausübend betheiligt. Sie bemächtigt sich femer hervorragender
]EJrzeugnisse der religiösen Lyrik (Psalmen u. dgl), versieht dieselhepi
mjit kunstgerechten Kompositionen und lässt sie auf kunstgerechte
Weise zum Vortrag bringen ; ebenso bemächtigt sie sich der religiösen
Epik und verleiht derselben durch Wechselrede sowohl der Einzelnen
wie der Massen einen dramatischen Anstrich, jedoch ohne durch
Hinzunahme mimischer Darstellung zum wirklichen Musikdrama fort-
zuschreiten. Wenn die umfangreicheren Kompositionen dieser Art
(Oratorien) längst aufgehört haben, Bestandtheil des Kultus zu sein,
so bestehen doch die Idtuxgien Uuch in den meisten protestantischen
Kirchen noch fort, obwohl einzelne auch diese schon abgeschafft haben.
Unter Hinweis auf die oben gemachten Bemerkungen über das
Yerhältniss der ästhetischen und religiösen Gefühle und die Ge^hr
ihrer Vermischung könnei^ wir uns hier mit der Bekapitulation be^
gnügen, dass die Pflege der religiösen Kunst zwar höchst wünsohens-
werth ist und ebensosehr im religiösen wie im künstlerischen Interesse
liegt, dass aber die Vermischung der religiösen Kunstübung mit dem
eigentlichen Kultus für beide Seiten gleich schädlich ist, und um so
weniger Berechtigung besitzt, je kraftvoller sich die selbstständige
Pflege der religiösen Kunst bereits entfaltet hat. Es liegt im beider-
seitigen Interesse, die angebahnt« Trennung immer reinlicher dureh"
zuführen, also z. B. die religiösen Bildwerke im Museum statt in
Kirchen aufzustellen, die musikalisch-liturgischen Abendunterhaltungen
für sich und den Vormittags-Gottesdienst für sich zu betreiben; eine
äussere Zusammengehörigkeit der religiösen Gemeinde mit einem
musikalischen Verein ist dabei ebensowenig ausgeschlossen wie die
gemeinsame Benutzung der gleichen ILäume. Von einer instrumentalen
Einleitung und Ausleitung des Kultus wird man verhältnissmässig am
wenigsten behaupten können, dass sie die rein religiöse Beschaffenheit
der kultischen Andacht beeinträchtige ; aber solche Vor- und Nachspiele
müssen dann principiell vom Kultus unterschieden und so wenig zu
demselben gerechnet werden wie etwa das Einläuten und Ausläuten.
Eine Ouvertüre ist zwar ein integrierender Bestandtheil der Oper,
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3,18 0. n. Der olijeldive Heilsprocess.
nicht aber ein Orgelprälndimn Bestandtheil des Knltas ; wie das Länten
die Gemeinde herbeiruft, so mag das Vorspiel und Nachspiel der
Orgel dazu dienen, die Unruhe des Kommens und Gehens zu verdecken
und bis zum Beginn des Kultus Zeit zur Sammlung zu gewähren.
Am meisten praktische Schwierigkeiten könnte der Kampf gegen
den volksliedmässigen Gemeindegesang machen, wie er sich in den
deutschen Chorälen und den englischen Hymnen entwickelt hat. Hier
ist zunächst aus ästhetischem Gesichtspunkt zu bemerken, dass der
deutsche Choral weder nach Text noch Melodie mehr dem heutigen
Geschmack entspricht, die moderne englischen Hymne aber wieder
einen höchst problematischen refigiösen Werth hat. In poetischer
Hinsicht sind auch unsere besten Choräle entschieden veraltet und
insbesondere für ein auf dem Standpunkt des konkreten Monismus
hinübergetretenes religiöses Bewusstsein nur noch historisch geniessbar;
in musikalischer Hinsicht ist aus dfcn Chorälen etwas ganz anderes
geworden, als sie ursprünglich waren, weil unsere schnelDebige Zeit
die langsamen Tempis, die ihnen erst die rechte Weihe geben, im
Gemeindegesang schlechterdings nicht mehr erträgt. Der Choral
wird in musikalischer Hinsicht seine Bedeutung behalten als cantus
fi/rmus figurirter Sätze; als Gemeindegesang aber steht er so wie so
auf dem Aussterbeetat, selbst für die christlichsten Schichten der
protestantischen Bevölkerung, so dass an eine Verwendung desselben
für ein nicht mehr christliches religiöses Bewusstsein gar nicht zu
denken ist. Die englische Hymne, welche für den veralteten Choral
einen dem modernen Geschmack zusagenderen Ersatz zu bieten scheinen
könnte, ist nichts als eine Verweltlichung der religiösen Lyrik; in
Ermangelung der Fähigkeit zur Schöpfung eines neuen musikalischen
Stils fttr die religiöse Lyrik greift man zur Anlehnung an das weltliche
Volkslied und streift damit den letzten Best religiöser Verwerthbarkeit
ab. Hätte man nur die Wahl zwischen diesen Hymnen und unseren
Chorälen, so könnte die Entscheidung zu Gunsten der letzteren nicht
zweifelhaft sein; die Wahrheit liegt aber nicht in dieser Alternative,
welche nur die Unmöglichkeit eines modernen und doch religiösen
Volksliedes darthut, sondern ausserhalb derselben in der Keinigung
des Kultus von dem letzten Best religiöser Kunstübung.
Wir kommen nun zu der rein religiösen Seite des Kultus, der
sich unmittelbar an das religiöse Gefühl als solches wendet.
Auf der naturalistischen Stufe des religiösen Bewusstseins, welche
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C. n. Der objektive Heilsprocess. 319
zugleich in praktischer Hinsicht die eadämonistische ist, besteht der rein
religiöse Kultus in Gebet und Opfer ; das Gebet theilt dem Gotte die
Wünsche des Menschen mit und das Opfer macht ihn willflümger,
dieselben zu erfüllen. Diese Wünsche richten sich auch hier auf
Offenbarung, Erlösung und Heiligung. Die Offenbarung, welche ersehnt
wird, bezieht sich auf weltUche Angelegenheiten und wird durch
Deutung natürlicher Ereignisse präcisirt, denen vorher eine konventionelle
Bedeutung beigelegt ist. Die Erlösung bezieht sich auf bestimmte
Uebel und auf die Schuld nur insofern, als mit ihr ein Verfallensein
an göttliche Strafübel unvermeidlich verknüpft erscheint Die Heili-
gung endlich richtet sich auf eine Beschaffenheit des Menschen,
welche ihm das Verfallen in künftige Schuld und die mit demselben
verknüpften Strafen erspart. Vom Standpunkt eines höher entwickelten
religiösen Bewusstseins müssen diese eudämonistischen Zwecke des
Kultus als geradezu irreligiös und der Anspruch an Gott, dieselben
auf Kosten der unverbrüchlichen Gesetzmässigkeit der teleologischen
Weltordnung zu erfüllen, als unsittlich erscheinen ; die Mittel aber,
durch welche Gott bewegt werden soll, den egoistischen Sonderzwecken
des Menschen zu dienen, müssen nunmehr als abergläubische Mantik
und Theurgie verworfen werden. Das Bittgebet ist überflüssig, weil
Gott auch ohne unser Gebet weiss, was wir wünschen, und thöricht,
weü Gott um unserer Bitten willen kein Jota am Weltlauf ändert.
Das Dankgebet ist verkehrt, wenn es auf der Voraussetzung beruht,
dass Gott um der Sonderzwecke des Einzelnen willen irgend einen
Zusammenhang in bestimmter Weise gefügt habe; es ist dagegen eine
überflüssige Tautologie, wenn es Gott dafür noch einen besonderen
Dank auszusprechen unternimmt, dass er um des Ganzen wülen oder
um Gottes willen diesen Zusammenhang so gefügt habe. Das Opfer
gehört in jeder seiner Gestalten primitiven Bechtsansohauungen an,
welche auf höheren Kulturstufen abweichenden und zum Theil ent^
gegengesetzten Platz machen ;*) deshalb ist auch alle Opfersymboük
in höheren Eeligionen (z. B. die Aneignung des Christusopfers durch
das Essen seines Leibes und Trinken seines Blutes) ein stehen ge-
bliebener Best von Naturalismus, ein superstitiöser, weil begriffswidriger
Anachronismus und Anatopismus. Die reale Bedeutung solcher Opfer-
symbolik, nämlich die Bereitwilligkeit zur Opferung des Egoismus und
♦) Vgl „Bas religiöse Bewusstsein der Menschheit', S. 34—37 und 80—93.
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320 C. II. Der objektive HeiJsprooess.
zxa Mortifikation des radikal bösen BigenwiUens, muss von aimm
vorgeschrittenen religiösen Bewusstsein nothwendig in adäq^ater
Gestalt ergriffen werden, ohne die Verhüllung in 8uperstiti(jse Vor-
stellungen, welche nur vom wahren Kern der Sache ablenken.
In einer echten Gnadenreligion darf dem Opfer gar kein Spielraum
eingeräumt werden, dem Gebet aber nur in soweit, als es sieh um
geistliche Gaben handelt, und als das religiöse Bewusstsein sich noch
auf theistischer Basis bewegt. Nur so lange Gott als ein da« Ich
nicht umfassendes und durchdringendes, sondern ihm persönlich gegen-
überstehendes Du vorgestellt wird, nur so lange kann man mit ihm
Zwiesprache halten; nur so lange er von aussen durch magisch-
supranaturalistischen Wundereingriff die dem Menschen wesensfremde
Gnade eingiesst, kann man ihn um diese Gnadeneingiessung anflehen.
Wo das religiöse Verhältniss noch keine reale Einheit, sondern bloss
personelle Wechselbeziehung ist, da wird es allerdings dem Mensehen
asa nächsten liegen, die religiöse Durcharbeitung der verschiedenen
Momente des Heilsprocesses in Form des Dialogs mit Gott zu toU-
ziehen, also das Schuldbewusstsein als Bussgebet, die Sehnsucht nach
der. Erlösungsgnade als Bittgebet und die Beseligung der erlangten
Versöhnung als Dankgebet auszugestalten. Aber diese di^ogische
Form steht und fällt mit der Zweiheit der Personen im religiösen
Verhältniss; sobald das allein wahre Heilsprincip als Gnadenimmanenz
oder reale Einheit mit dem wahrhaft absoluten, dafdr aber auch un-
persönlichen Gott erkannt ist, wird die dialogische Verarbeitung zur
monologischen, d. h. das Gebet zur Einkehr in sich selbst und zur
Berathung mit sich selbst. Wird auch dann noch der als soldier
anerkannte Monolog in die Form des Gebetes, d. h. des Dialogs
gekleidet, so ist dazu eine Fiktion erforderlich, welche der gemachten
Voraussetzung widerspricht, nämlich die Fiktion eines persönlichen
Adressaten, an welchen die Ansprache gerichtet ist. Das Gebet ist
eben nichts weiter als der Nothbehelf des religiösen Bewusstseins auf
theistischer Basis, der ihm fctr die mangelnde reale Einheit Ersatz
leisten soll ; mit der Erhebung auf die Stufe des konkreten Monismus
verschwindet mit dem bewussten Besitz der realen Einheit jedes Be-
dürfniss nach einer dieselbe ersetzenden Wechselbeziehung üi dialogischer
Form, ebenso wie dasselbe schon im Zustande der lutherischen unio
mystica seinen Sinn verliert. Wie die Wahrheit des Opfers in der
Selbstopferung oder Selbstverleugnung des Eigenwillens^ so liegt die
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C. n. Der objektive Heilsprocess. 321
Wahrheit des Gehets in der Versenkung des religiösen Bewusstseins
in sich selbst, wo es Gott weder als Du noch als Ich, sondern als
absoluten geistigen Grund, immanenten Zweck und heiligende Kraft
des eigenen persönlichen Geisteslebens besitzt.
Die der Stufe des abstrakten Monismus eigenthümliche FoTm
des rein religiösen Kultus ist Quietismus und Askese, als das einem
schlechthin ruhenden Gotte und einem schlechthin nicht sein sollenden
Individualdasein gemässe Verhalten des Menschen. Da beide auf
einem dem unsrigen entgegengesetzten Begriff von Gott und der
sittlichen Weltordnung beruhen, so bedarf ihre Unverwendbarkeit für
die Religion des konkreten Monismus keines weiteren Nachweises mehr.
Der theistischen Gnadenreligion eigenthümlich als Kultus ist
die Austheilung und der Empfang der sakramentalen Gnadenmittel (im
Judenthum Beschneidung und Passah, im Christenthum hauptsächlich
Taufe und Abendmahl). Wo die Gnade nicht dem Menschen als
solchen wesentlich immanent ist, sondern von aussen durch göttlichen
Gnadenzauber in denselben hinein prakticirt werden muss, da liegt es
nahe, nach äusseren Vermittelungen zu suchen, wie das vorstellungs-
mässige Denken sie bei jedem Zauber als Stütze der Vorstellung
sucht und findet. Das erste der beiden Sakramente dient dazu, eine
Portion des heiligen Geistes in die unwirkliche Abstraktion des bloss
natürlichen Menschen hineinzugiessen, welche zwar nicht zur TJeber-
windung der Natürlichkeit ausreicht, aber doch die Möglichkeit zur
Entfaltung des subjektiven Heilsprocesses eröffnet; das zweite dient
dazu, auf jeder wichtigeren Etappe des subjektiven Heilsprocesses dem
vorhandenen Bestand an heiligem Geist einen Zuwachs durch Ein-
giessung einer neuen Portion Gnade zuzufahren. Dies ist auf dem
Boden der theistischen Gnadenreligion völlig konsequent gedacht, und
auch die Verlegung des ersten Sakraments an den noch bewusstlosen
Anfang des Individuallebens passt vollkommen in diesen Zusammen-
hang;*) ebenso sinnwidrig, und durch ihren Widerspruch mit dem
religiösen Princip superstitiös, werden aber diese sakramentalen Kultus-
handlungen, sobald das religiöse Bewusstsein von der transcendenten
zur immanenten Gnadenreligion fortschreitet.
Abgesehen davon, dass die fraglichen Symbole aus der Natur-
*) Geschichtlioli betrachtet dürfte die Verlegung der christlichen Taufe auf die
Zeit nach der Geburt keinen andern Grund haben, als das Bestreben, die nicht aus-
zurottende altheidnische und namentlich germanische Kindertaufe zu christianisiren.
V. Hart mann, Die Religion des Geistes. 21
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322 C. n. Der objektive Heilsprocess.
religion (ihren Eeinigungsceremonien und ihrem Opferdienst) entlehnt
sind und schon darum in jeder supranaturalistischen Eeligiou ihrem
konkreten Inhalt nach ungehörige Bestandtheüe bilden, abgesehen auch
davon, dass sie in ihren wirklichen oder fingirten geschichtlichen Be-
ziehungen an objektive Erlösungsanstalten anknüpfen, welche das echte
religiöse Bewusstsein als eine superstitiöse Ergänzung und Beschränkung
der freien Gnade des absoluten Gottes verwerfen muss, abgesehen von
alle dem sind sie schon in ihrer formellen Bedeutung als äusserliche
Handlungen, die doch zugleich Vermittelungen für den Fortschritt der
Gnade im Menschen sein sollen, ein Widerspruch gegen die gesetz-
mässige psychologische Entwickelung der immanenten Gnade. A.ller-
dings bedarf es äusserer Vermittelung, um die Erbgnade zur aktuellen
Gnade zu entfalten, aber diese Vermittelung muss aus einer äusseren
in eine innere psychologische sich umsetzen, ohne erst zu Illusionen
und konventionellen Fiktionen ihre Zuflucht nehmen zu müssen. In
dieser Weise wirkt die Belehrung und Anregung durch das Wort und
die providentielle Führung durch Schicksale und Erlebnisse; aber
nicht so wirken die sakramentalen Gnadenmittel. Bei ersteren weiss
der Mensch, dass nur das in ihm geweckt wird, was er schon in sieh
trägt; bei letzteren hängt die Vermittelung an der Fiktion, dass zu
dem subjektiv schon Vorhandenen noch etwas Objektives hinzugegossen
werde, und sobald diese Fiktion als Fiktion durchschaut ist, sobald
der Mensch mit dem Bewusstsein zum Sakrament schreitet, dass er
durch dasselbe nichts hinzu empfängt, und nicht um ein Haar reicher
fortgehen wird, als er kommt, hört jede. Möglichkeit auf, eine innere
psychologische Vermittelung für die Wirksamkeit des äusseren sakra-
mentalen Vorgangs nachzuweisen.
Wer dann trotz der Unmöglichkeit solchen Nachweises noch an
dieselbe glaubt und dieselbe aus eigener Erfahrung behaupten zu
können vermeint, der bekundet damit nur, dass in seinem Gefühls-
leben das Beharrungsvermögen eines früheren Glaubens an trans-
scendente Gnadenwirkung noch fortwirkt, während sein intellektuelles
Bewusstsein über diesen Standpunkt zu dem Glauben an rein imma-
nente Gnade fortgeschritten ist. Die immanente Gnadenentfaltung
braucht eben keine andere Vermittelung und kann keine brauchen
als diejenige, welche wir unter der «Erweckung der Gnade» erörtert
haben ; ausser von dem fortschreitenden Process der Erweckung ist
die Entfaltung der Gnade nur noch von inneren psychologischen Be-
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C. II. Der objektive Heilsprooess. 323
dingungen abhängig. Es kommt vor allem auf den Grad von Eifer
an, mit welchem der Mensch sich in das religiöse Heilsprincip ver-
senkt und dasselbe in allen seinen Konsequenzen zum religiösen Heils-
prooess ausgestaltet; je mehr er nach Besserung ringt, desto mehr
macht er sich zur Aufnahme der Gnade würdig und fähig, und auf
ein je höheres Niveau er durch den Besserungsprocess die über-
kommene Erbgnade hebt, desto mehr steigen seine Chancen zur
Auslösung aktueller Gnadenzuwachse. Die Kirche kann bei diesem
immanenten Heilsprooess nicht mehr durch Darbietung sakramentaler
Gnadenmittel, sondern nur noch durch den «Dienst am Wort» för-
dernde Beihilfe gewähren.
Es ergiebt sich aus dieser XJebersicht, dass der rein religiöse
Kultus, der mit dem Fortschritt des religiösen Bewusstseins sich mehr
und mehr verinnerlicht, auf der höchsten und letzten Stufe des reli-
giösen Bewusstseins bei einer vollkommenen Innerlichkeit angelangt
ist. Der rein religiöse Kultus auf der Stufe der Immanenzreligion
kann kein anderer mehr sein als die andächtige Versenkung des
religiösen Bewusstseins in sich selbst, in seinen Inhalt, das religiöse
Verhältniss, die reale Einheit mit Gott. Aus dieser Versenkung in
seinen eigenen Inhalt, in welchem es zugleich das allein wahre
immanente Heilsprincip besitzt, schöpft das religiöse Bewusstseia.
immer von Neuem die Aktualisirung der Heilsgnade in ihrer drei-
fachen Gestalt als Oflfenbarungs-, Erlösungs- und Heiligungsgnade,
und darum ist die psychologische Vertiefung des religiösen Bewusst-
seins in sich selbst die allein wahre psychologische Vermittelung der
Gnade oder das allein wahre Gnadenmittel, während alle vermeintlichen
äusseren Gnadenmittel doch gerade nur insoweit wirkliche Gnaden-
mittel sind, als sie vermittelst der oben erwähnten Illusion ihrer
magischen Wirksamkeit dieses innere Gnadenmittel in unwillkürliche
und unvermerkte Thätigkeit versetzen. Die höchste Stufe des reli-
giösen Bewusstseins hat die Aufgabe, auch im Kultus das Wesent-
liche vom Unwesentlichen zu scheiden und das bisher mittelbar mit
Hilfe von Aeusserlichkeiten und Illusionen mangelhaft Erzielte durch
direktes Losgehen auf den Kern der Sache in vollkommenerer Weise
zu realisiren.
Man kann einer Religion darum nicht den Vorwurf der Kultus-
losigkeit machen, weil sie jedes äussere Kultusmittel als der Idee des
Kultus unangemessen durchschaut hat, und diesen auf seinen ßrenn-
21*
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324 C- ^- ^®r objektive Heilsprocess.
puBkt, d. h. auf die Innerlichkeit des religiösen Bewusstseins konccn-
trirt. Insofern dieser Kultus als rein innerlicher auch rein individuell
ist, scheint er allerdings jede gemeinsame gleichzeitige Ausübung aus-
zuschliessen; aber dieser Schein ist doch wieder darum irrthümüoh,
weil das Wort als Haupt-Erweokungsmittel der Gnade sich sehr wohl
an eine grosse Zahl von Menschen zugleich richten und in jedem
derselben eine grössere oder geringere Entfaltung des inneren Kultus
bewirken kann. Hiermit sehen wir uns also auf die Predigt als ein-
zigen Bestandtheil des äusseren Kultus zurückgewiesen, und zwar
beruht deren kultische Bedeutung ausschliessUch in ihrer erweckendefn
Kraft, d. h. in ihrer Tauglichkeit zur Anregung des inneren Kultus
in den Hörern. Wer zur Pflege des inneren Kultus die Anregung
durch die Predigt entbehren kann, der besitzt eben schon dasjenige,
was günstigsten Falles durch die Predigt erreicht werden kann. Ohne
Rücksicht auf seinen alleinigen Zweck der Erweckung des inijeren
Kultus a)i dem äusseren Kultus theilzunehmen, als ob derselbe ein
an und für sich Gott wohlgefälliges Werk wäre, das wäre em super-
stitiöser Rückfall in äusserliche Werkgerechtigkeit; es giebt nur Einen
wirklichen Gottesdienst, den des realen Lebens als Mitarbeit am objek-
tiven Heilsprocess, und aller Kultus hat gerade nur insoweit gottes-
dienstlichen Werth, als er sich als Mittel bewährt, um den Menschen
zu dem realen Gottesdienst des praktischen Lebens tüchtig zu machen.
Wenn übrigens die Religion des immanenten Geistes erst einmal
grössere Kreise und tiefere Volksschichten ergriffen haben wird, so
bleibt die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die reine Idee von
Neuem in vorstellungsmässige Umhüllungen eingeschlossen und in
symbolischen Kultushandlungen ausgedrückt wird; diese würden dann
immerhin als eine dem Unverstand der Masse entgegenkommende
Verhüllung und Entstellung der Wahrheit zu beklagen sein, aber sie
Würden keinenfalls ausser der formellen Unangemessenheit als Symbole
ihren Bekennem auch noch ausserdem eine so schreiende inhaltliche
Unangemessenheit der Symbolik zumuthen, wie diejenigen es thun,
welche die Symbole der Naturreligion und transcendenten Gnaden-
religion auch für den Standpunkt der immanenten Geistesreligion bei-
behalten wissen wollen. Jedenfalls handelt es sich für uns nicht darum,
eine möglichst wenig unangemessene Symbolik zu erfinden, sondern
die Idee in ihrer Reinheit klar zu stellen ; Symbole werden überhaupt
nicht erfunden oder gemacht, sondern wprchsen und werden von selbst,
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C. n. Der objektive Heilsprocess. 325
werden ausgedeutet und umgedeutet und vergehen wieder, wenn die
Elastidtätsgrenze ihrer Dehnbarkeit erreicht und überschritten ist.
Der «Dienst am Wort> hat zum Zweck die Erweckung der
Gnade oder die Anregung des subjektiven Heilsprocesses, zum Mittel das
Wort, oder den sprachlichen Ausdruck in Eede und Schrift, welcher
zur Belehrung des Geistes durch religiöse Vorstellungen, zur Erregung
religiöser Gefühle und durch beides zur Motivation religiöser Willens-
akte dient. Direkt auf den Willen wirken kann das Wort nur aus
dem Munde einer heteronomen Autorität; unter Voraussetzung des
Standpunktes der Autonomie kann die Wirkung auf den Willen nur
durch Erregung von Gefühlen und Zufuhr motivirender Vorstellungen
vermittelt sein. Da bei den meisten Menschen die religiösen Vor-
stellungen als solche zur kräftigen Motivation des Willens nicht aus-
reichen, sondern der Unterstützung durch religiöse Geffthle bedürfen,
so ist auch die in blosser Mittheilung von Vorstellungen sich be-
wegende Belehrung nicht ausreichend, sondern bedarf der Ergänzung
durch ßeden, welche ergreifend, erschütternd, mahnend, rührend, er-
hebend, tröstend, erbauend u. s. w. wirken. Die belehrende Unter-
weisung über die religiöse Weltanschauung muss in gewissem Maasse
vorangehen und hat den Boden zu bereiten, in welchem der Same des
gemüthsbewegenden Wortes Wurzel schlagen soll ; aber doch ist beides
nicht zu trennen, sondern muss so ineinandergreifen, dass die uner-
läaslich^ Vorstellungsgrundlagen für die ersten religiösen Gemüths-
regungen dem Menschen schon unvermerkt eingepflanzt sind, ehe er
nur ahnt, dass es sich um religiöse Vorstellungen handelt.
Das gemüthsbewegende, zur Gnadenerweckung bestimmte Wort
muss die Gesinnungsumwandelung sowohl nach ihrer negativen wie
nach ihrer positiven Seite hin anregen, also die Gnade zunächst in
Gestalt des Schuldbewusstseins, dann aber auch sofort in Gestalt des
Heilsbewusstseins wachrufen; die Erweckung des Schuldbewusstseins
musg vorangehen, weil es im Heilsprocess das begrifflich Frühere ist,«
sie darf aber nicht ohne die sofortige Ergänzung durch die Erweckung
des Heilsbewusstseins bleiben, weil das ein Bückfall aus der Erlösungs-
religion in die Gesetzesreligion wäre. Um das Schuldbewusstsein zu
wecken, muss die religiöse Rede an das sittliche Gesetz appelliren,
aber nicht etwa an irgend ein heteronomes Gesetz, das es dem
Schuldigen als transcendenten Gotteswillen vorhält, sondern an das in
ihm selbst schlununernde Gesetz des Gewissens, an die ihm immanente
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328 C. II. Der objektive Heilsprocess.
bilde die Kirche in Nichts zusammen; aber sie schwindet nicht, ohne
ihren Beruf, die Durchtränkung aller Lebenssphären mit religiösem
Qeist, erfüllt zu haben, so dass • das religiöse Leben als subjektiver
und objektiver Heilsprocess dabei keinen Schaden, sondern haaren
Gewinn erfährt. Gerade soweit, als noch ein Rest von Kirche existirt
und unentbehrlich ist, liegt darin der thatsächliche Beweis vor, dass
das ausserkirchliche Leben noch unzulänglich religiös ist, so dass die
Religiosität in der Welt noch einer besonderen, vom übrigen Leben
abgegrenzten Sphäre bedarf; da diese ünvollkommenheit mehr oder
minder immer bestehen wird, so wird auch das Ideal einer kirchenlosen
allgemeinen Religiosität immer Ideal bleiben, aber doch ein Ideal,
dem der geschichtliche Process sich allmählich annähern soll und
thatsächlich annähert. Diese Annäherung ist ebensowohl im Laufe
der Zeit, wie in der Abstufung der verschiedenen xiebeneinander
bestehenden Religionen, Konfessionen und Sekten zu beobachten;
es ist deshalb ganz kurzsichtig, den Grad der Religiosität einer Sekte,
einer Gesellschaftsschicht, einer Familie oder eines Einzelnen nach der
kirchlichen Färbung derselben beurtheilen zu wollen, selbst dann,
wenn die einem bestimmten religiösen Bewusstsein entsprechende
Kirche existirt, geschweige denn, wenn sie nicht existirt. Die katho-
lisch folgerichtige Vorstellung, dass der Einzelne nicht in der sub-
jektiven Erfahrung der ihm immanenten Gnade, sondern nur in seiner
Theilhaberschaft an dem objektiven Gnadenstand der Kirche sein
Heil und seine Heilsgewissheit finde, ist schon auf dem Boden des
protestantischen Christenthums eine schreiende Inkonsequenz, ge-
schweige denn auf dem Boden der immanenten Geistesreligion; die
ihm zu Grunde liegende Wahrheit, dass der subjektive Heilsprocess
des Einzelnen nur durch seine Stellung im objektiven Heilsprocess
des Ganzen zur Erweckung und vollen Entfaltung gelangt, wird in
Unwahrheit verkehrt durch die tendenziöse hierarchische Verwechse-
lung der Kirche (womöglich einer bestimmten Kirche) mit dem Gottes-
reich oder der universellen Heilsordnung.
-==^§>&®«<
Druck von H. Sieliug in Naumburg a|S.
Digitized by VjOOQIC
188a. Xi X. 1^»
PROSPECT.
(Zehnte Zusammenstellung von Ortheilen*) über Ed. von Hartmann's
philosophische Werke.)
In
Carl Duncker's Verlag
in Berlin, W., Lützowstrasse 2,
erschien soeben:
Dr. Eduard' Ton Hartmann : Philosophie des Unbewussten. Neunte Auflage
m 2 Bäpden. 62 Bogen gr. 8. Preis 12 Mark.
Dr. Eduard von Hartmann: Die Eeligion des Geistes. 22 Bogen gr. 8.
Preis 7 Mark.
Der Verfasser sagt im Vorwort: „Der Titel dieses Buches findet seine Erklärung
und Rechtfertigung in dem letzten Abschnitt meiner vorjährigen Veröflfentiiohung : ,jDas
religiöse Bewusstsein der Menschheit im Stufengang seiner Entwickelung." Jedes der beiden
Bücher ist eine ahgeschlossene Einheit für sich und kann unabhängig vom andern gelesen
werden; indem sie sich aber zu einander verhalten wie der geschichtliche und systematische
Theil einer Religionsphilosophie, bilden sie ein innerlich zusammenhängendes Ganze, das ich
als mein drittes Hauptwerk bezeichnen darf. Die Form der Behandlung bleibt auch in
diesem systematischen Xheil phänomenologisch, ebenso wie sie es im liistorischen Theil
war. Die Untersuchung beginnt mit einer möglichst exakten und unbefangenen Analyse des
religiösen Bewusstseins; sie schreitet von dieser psychologischen Grundlage aus zu den
metaphysischen Postulaten des religiösen Bewusstseins fort, welche sich überall als die
höhere Synthese der einseitigen Postulate des abstrakten Monismus imd des Theismus heraus-
stellen, und mündet in die Entfaltung der praktischen Konsequenzen des religiösen Bewusst-
seins. Das Ergebniss ist bei dieser systematischen Untersuchung dasselbe wie bei der
historischen, nämlich die Religion des konkreten Monismus, nur d^s hier seine zusammen-
hängende Ausführung findet, was dort aus der immanenten Kritik der naturalistischen,
abstraktmonistischen und theistischen Religionen als geschichtliche Aufgabe der Gegenwart
sich entwickelt hatte."
C. Heymons: Eduard yon Hartmann. Erinnerungen aus den Jahren 1868
bis 1881. Mit Ed. v. Hartmann's Portrait. 4 Bogen. Preis 1 Mark.
BlAtier fftr literarische Unterlialtiing 1882 :Sr. 12: „0. Heymons
hat in diesen Aufzeichnungen „Erinnerungen an eine langjährige Freundschaft und an eine
gemeinsame Thätigkeit" Mittheilungen über sein Leben, seine Krankheit, seine erste und
zweite Frau gemacht, welche gewiss allen Freunden des geistvollen Denkers willkommen
sein werden. Auch sämmtUche von Hartmann verfassten Werke werden hier verzeichnet
und deren buchhändlerische Erfolge konstatirt; so erfahren wir, dass die „Philosophie des
Unbewussten" acht Auflagen erlebte, die erste von 1000, die zweite von 1250, die dritte,
vierte, fünfte, sechste von je 1500 Exemplaren, die siebente von 1750, die achte von 1250,
und zwar in dem Jahrzehnt von 1868—78: ein in der philosophischen Literatur seltener,
wohl einziger Erfolg. Das Schriftchen ist zwar inspirirt von freundschaftlicher Zuneigung
zu dem Philosophen, aber doch ohne Ueberschwänghchkeit abgefasst."
Satnrda^ ReTiew 1882 Mai 20: The little biography is not deficient in
interest, containmg particulars of the original negotiations for the publication of v. Hart-
mann's now celebrated work, and of the extent and sale of the various editions. We also
leam that „A. Taubert", whose defence of Hartmann's philosophy attracted considerable
attention some years ago, was no other than the first Mme von Hartmann ete. etc.
Jigitizecl bv
*) Die nenn vorhergehenden Prospekte enthalten gegen 400 UrtheUe auf 120 leiten und lind den in
den betreffenden Jahren erschienenen Werken Hartmann's beigeheftet.
RiTlBta Iinropea — RiTlsta lotemasionale, 1. decemb. 1881 Bd. XXYI
p. 804—6: ,^co un' opera che dobbiamo jTuJificare il terzo oapolavoro de oelebre
filosofo. Neil* insieme essa non ha ne roriginalita ne la tendenza della Füosofia dell'
Inconscio, e nemmeno la lont^ma jportata della Fenomenologia della coscienza morale; ma cer-
tamente e di unadottriua superiore alla prima, e d'importanza ed influenza piii
immediata ed universale della seconda. — Intanto dobbiamo confessare che Tinduzioüe
dell* autore sul risveglio della coscienza reügiosa non ha in nessuna parte nulla d'inverosi-
mile, mentre la sintesi dei fatti e la deduzione dai medesimi e fatta con tanta piena in-
telligenza, tanto rigore e tanta chiarezza, che non esitiamo a chiamare l'opera
il trattato ner eccellenza, piü universale e piü oomprönsivo che sulla
filosofia delle religioni e della coscienza religiosa umana sia stata scritto.
L'autore non s'e reso soltanto conto di tutte le fasi, ma s'e appropriato intieramente un
argomento che a tutt* sdtri che a lui sarebbe parso campo troppo vasto e complicato; il
quäle invece sotto le suo mani ha preso un aspetto si limpido e sistematico che
ce ne maravigliamo altamente. — fi in verita un longo cammino, e chi non ha un
vivo Interesse per la questione reügiosa, temiano che se ne stanchi malgrado l'incom-
parabile maestria e luciditä dell' autore."
3. Phänomenologie des sittlichen Bewnsstseins. Prolegomena zu jeder
künftigen Ethik. 56 Bgn. Preis 16 Mark.
]>r« GottArIed Borries sagtin seiner Schrift: ,,Üeber den Pessimismus als Durch-
gangspunkt zu universaler Weltanschauung" (Münster 1880): H.'s Phän. d. sittl. Bew. ist die
kuterste Methode des Pessimismus und ist dies eigentlich sein Hauptwerk. Man
könnte sich in der That wundem, dass das Buch nicht vor der Phil. d. Dnb. erschienen.
Lidess gesteht der Verf. selbst zu, dass es am besten in seine Philosophie hineinführe und
räumt ihm den ersten Platz unter dem zu Lesenden ein. Wenn wir oben sahen, der Pes-
simismus beschäftige sich mit der »zweiten Frage des „Wozu" im Besondern, sein Eigenstes
sei die praktische Philosophie, so folgt dai'aus gemäss des induktiven Verfahrens für eine
reine Behandlung der zweiten Frage, dass er uns die historische Entwickelung dieser zwei-
ten Frage kritisch vorführt,' und, auf das Endresultat dieser -Untersuchung gestützt, sein
eignes Moralprincig statuirt. Diese Aufgabe erfüllt in der That das H.'sche Buch in
flänzender Weise" (S. 8 — 9). — Durch die Phän. ist das unerschütterliche Pun-
ament erbaut, auf dem sich eine umfassende Ethik erheben kann, eine Ethik, die nicht
alles Bisherige über Bord wirft und etwas ganz Neues aufstellt, sondern die die relative
Berechtigung und Wahrheit aller bisherigen Principien, sowohl der historisch wiiklich ge-
wordenen, als der überhaupt möglichen, anerkennt, aber diese in einem gemeinsamen Bande
umschlingt und zu einer letzten höchsten Einheit verknüpft. Auf diese Art hat sie auch
noch einen besonderen wissenschaftlichen Werth. Uns mangelte bisher eine genügende Ge-
schichte der Ethik. Weil man nicht den richtigen Standpunkt finden konnte, von dem eine
solche anzugreifen sei, blieb es bei einer aphorist. Aufzeiohnimg des historisch gegebenen Stoffes.
Mne Erzählung der bisherigen etiiischen Systeme wurde geliefert, aber keine in sich geschlos-
sene imd sich entwickelnde, durch eine leitende Idee verknüpfte Darstellung'' (S.32— 33).
Moritz Müller sen., früherer Bijouteriefabrikant, sagt in einem Flugblatt „E. v. H.'s
Weisheit noch unter Schweinefleisch und Sauerkohl" (Pforzheim 1881): „Pfui
über solche Volksbelehrer, Volksbelüger! Doch — wir haben es mit einem grossen gelehrten
„Hofnarren des Nichts" zu thun, der den „schofelsten" aUer Pläne (um mit dem grossen
Mathematiker, Physiker und Astronomen Gauss zu reden), der die „schofelste" Lösung, die
bezüglich eines Problems ausgeführt werden konnte, durch ein Sammelsurium von Gelehr-
samkeit, das er mit Schimpfereien ausschmückt, sanktioniren will! Dabei schreibt er in
seiner bunten und gelehrten Harlekinsjacke so viel über Sittlichkeit, wie einst Fürst Metter-
nich über's „ewige Recht!" War auch alles Schwindel! Sittlichkeit vorne im Buch, Sitt-
lichkeit in der Mitte, Sittlichkeit hinten, und doch -— wäre das H.'sche „Nichts", wegen
dem Milliarden und aber Milliarden Jahre sich abmühen sollten und mussten, um wieder in's
grosse „Nichts" zu versinken, die allemnsittlichste Schweinerei J Ich kann mir keinen
grösseren und frecheren Schwindel am Ende dieses Jahrhunderts denken, als dieH.'sche
Gelehrsamkeit, die „Gott" lästert, um ihr „Nichts" statt seiner auf den Thron zu setzen."
I>r. Bruno Schoenlank sagt in seiner Schrift: ,,Hartley und Priestley, die Be-
gründer des Associationismus in England" (Leipzig 1882) 8. 33 Anm.: „Unstreitig wohl
die beste vergleichende Naturgeschichte der Ethik, die wir besitzen, ein
leider mehr gelobtes als gelesenes Werk.
Stadtpfarrer Albert Bacmeister sagt in seiner Schrift: „Der Pessimis-
mus und die Sittenlehre" (Gütersldi 1882) S. 2—3: ,,Der Pessimismus ist, torzgesagt,
die geistige Photographie der Gegenwart, wenigstens in ihrer grossen Mehrheit.
Oder ist's vielleicht nicht noch richtiger, wenn wir sagen: Diese breite Masse nahm dieses
Lichtbild freudig als ihr wsdires Conterfei an, während dabei eine ungeheure Selbsttäuschung
mit unterlief? Diese Selbsttäuschung wird nicht bloss einigen wenigen sichtbar werden, wie
zur Zeit der Herrschaft der PMl. d. ünb., sondern jetzt, da die Phän. d. sittl. Bew. erschie-
-«^n ist, wird es offenbar werden, dass der Philosoph in seinem Publikum und das
^Ukum in seinem Philosophen sich getäuscht hat, denn diejenigen
Kreise, welche die Phil. d. ünb. und noch mehr „die Selbstzersetzung des Christenthums"
als eine rettende befreiende That gepriesen haben, werden erstaunt sein, dass
derselbe Verfasser auch ein System der Ethit in Bereitschaft hat und ihnen einmal den
ersten einleitenden Theil zu einem solchen darbietet, und dieses Erstaunen wird nicht gerade
in allgemeines 'Wohlgefallen sich auflösen, wenn man hört, dass der Philosoph ethische
Anforderungen stellt. Solche begehrte man nicht und erwartete man nicht. Man war
troh und dankbar, die seitherigen Fundamente gründlich zerstört zu sehen und eine neue
Grundlegung gehörte in das Reich des — Unfijwusston. Der Philosoph selbst aber wird
sonderbar enttäuscht sein, wenn seine Stimme keinen "Widerhall findet. Als Strauss sein
letztes "Werk schrieb und darin die Fi*age behandelte: Wie ordnen wir unser Leben? —
da haben seine bisher begeisterten Anhänger die Achseln gezuckt und gelächelt: dazu be«
dürfen wir deiner Führung nicht, das wissen wir längst selber. Es wird E. v. H. nicht
anders gehen. Aber wenn es auch dem Manne selbst zur Ehre gereicht, dass ihm ein
positiver Aufbau der Ethik persönliches Bedürfniss ist, und wenn er damit dem oberfläch-
lichen Verdammungsurthoil enthoben ist, so werden wir doch auch umgekehrt
sagen »dürfen: die Probe seiner Metaphysik ist seine Ethik, und wiewohl die Phän. d. sittl.
Bew. noch kein System der Ethik selbst ist, so werden doch die Grundmauern des künftigen
Gebäudes, ja der ganze Riss desselben zur deutlichen Anschauung kommen. Immerhin ist
es ein Zeichen davon, dass eine "Weltanschauung festen Boden unter den Füssen zu
haben glaubt, wenn sie sich daran macht, eine Ethik zu geben. Und dass die Welt-
anschauung des Pessimismus in dem Bewusstsein unserer Gebildeten tiefe Wur-
zeln geschlagen hat, das möge durch einen Aufsatz in der Beilage zur Allgemeinen
Zeitung v. J. 1879 Nr. 274 illustnrt werden." — S. 7—8: „Und was der Feuilletonist in
raschem Wurf vor das Publikum stellt, was die Leier des Dichters dem Volke vorsingt, das
führt der Philosoph mit soliden Quadern des Gedankens auf, imd es verlohnt
sich, seiner Arbeit zuzuschauen und zu prüfen, ob das Haus, um mit einem neutestament-
Uchen Bilde zu reden, auf Sand oder auf emen Fels gebaut ist, und ob es sich darin wohnen
lässt Wenn wir uns aber im Folgenden hauptsächfich an diejenige Darstellung des Pessi-
mismus halten, welche E. v. H. gegeben hat, so sind wir dazu nicht bloss deshalb berech-
tigt, weil er der erste unter den pessimistischen Philosophen ist, der eine Sittenlehre
des Pessimismus, wenigstens eine Phän. d s. Bew. imd damit eine ethische Prin-
eipienlehre in streng wissenschaftlicher Form, gegeben hat, sondern auch des-
halb, weil E. V. H. als der klassische Vertreter des neueren Pessimismus so all-
gemein anerkannt ist, dass wir weiter wohl kein Wort darüber verlieren dtirfen." —
S. 96 — 98 : „Dieser Abschnitt in der Phänomenologie ist ein psychologisches Meister-
stück. — E. V. H. fügt seiner Ausführung über das Moralprincip des Mitgefühls noch eine
Polemik gegen Schopenhauer bei, der das Mitleid als aUeiniges Princip der Ethik aufstellte,
eine Polemik, welche ein neuer Beweis ist, dass der Pessimismus E. v. H.'s und der
Schopenhauers nicht identisch ist. Diese Polemik ist von einem imbefangenen Be-
urtheiler als durchaus begründet anzuerkennen. — Dagegen wird auch der entschiedenste
Anhänger Schopenhauers nichts einwenden können, und wir fügen nur hinzu, dass E. v. H.
in dieser Polemik einen ausserordentlich feinen Blick zeigt, mit welchem er die
Schwächen seines Gegners, der doch auch wieder sein Geistesverwandter ist, entdeckt und
mit unerbittlicher Wahrheitsliebe darlegt."
Pfarrer Paul Clirist sagt in seiner Schrift „Der Pessimismus und die
Sittenlehre^' (Haarlem 1882) S. 101: „Wer mit so vieler Sorgfalt dem Ethischen auf
den verschiedenen Gebieten des menschlichen Seelenlebens nachgeht wer so viel Verständ-
niss für sein Walten in den mannichfachsten Lebensverhältnissen zeigt, wer so klar die
Einseitigkeiten der bisherigen ethischen Systeme einsieht, wer so nüchtern und doch
wieder so begeistert über sittliche Aufgaben zu reden weiss und mit so viel Ernst
und Maunesmutb das Unsittliche, oder was ihm als solches erscheint, geisselt: wahrlich,
der ven-äth damit eine nicht gewöhnliche ethische Wesensriehtang, dem möchte
man mit den Woi-ten der Schrift zurufen: Du bist nicht ferne vom Eeiche Gottes 1 Indem
H. mit aller Entschiedenheit innere Gesetze für das sittliche Verhalten annimmt, denen der
Mensch folgen kann und soll, tritt er in anerkennenswerther Weise sowohl dem
Materialismus als dem Skepticismus entgegen, die das Vorhandensein von solchen
leugnen oder- bezweifeln und damit die Sittlichkeit überhaupt in iVage stellen. Indem er
die imperative Form der Sittlichkeit festhält, erhebt er sich über Schopenhauer,
dessen unbedingte Verwerfung alles „Sollens" konsequent auch den Pflichtbegriff und damit
die Ethik selbst aufheben müsste. Aber auch Kants einseitige Ignorirung der Gefühls- und
ausschliessliche Würdigung der Vemunftmoral, welche die Sittlichkeit nur als der Neigung
abgerungene Pflichtmässigkeit, als stets reflektirte Sittlichkeit kennt, wird vermieden und
beKämpft, das Ethische auch in den oft so lieblichen Erscheinungen der unbewussten kampf-
losen Sittlichkeit gewürdigt, und der bei Kant unversöhnliche Gegensatz von Pflicht
und Neigang schon von vornherein dadurch überwunden, dass das imperative Pflicht-
gefühl sähst als Neigung gefasst wird." ' — S, 181 : „Seine Phän. d. sittl. Bew. wird immer
ihren Werth behalten als eine Fundgrube geistreicher Gedanken und be-
achte nswerther Winke, wie solche auch schon die Bchopenhauer'sche Ethik bietet,
als Ergebniss einer tiefen Menschen- und Weltkenntniss, einer reichen Er-
fahrung und sorgföltigen Beobachtung, als Mahnruf zur Umkehr von verschiedenen Zeit-
6
YeriTraoffen, als eine in ihrer Art einzig dastehende Üebersicht über das ganze
empirische Gebiet des sittlichen Beimsstseins, als Sporn und Stachel zu gründlicherer
Losung der mannichfachsten ethischen Probleme, zum Kingen nach immer grösserer Klarheit
und Sicherheit in ethischer Erkenntniss; aber aas Moralsystem als solches, das in diesem
Werke aufgebaut wird, ist verfehlt, unhaltbar und hat keine Zukunft ^^
AmfAiicbter KuKO Sommer sagt in seiner Schrift: „Der Pessimismus
und die Sittenlehre" (Haarlem 1882): „Nur zwei unantastbare Elemente schienen den
letzteren als alleinige Grundlage alles Wirklichen übrig zu bleiben: die Kraftwirkungen
der Materie und die logische Idee. Der Materialismus und der logische Formalismus sind
die beiden Gottheiten, denen man fortan aUein huldigen zu müssen glaubte. Beide hat
E. V. H., bewusst oder unbewusst, als Grundbestimmungen aUes Wirklichen in sein Sjnstem
aufgenommen. Das Was der Welt soll allein durch das logische Formalprincip bestinamt
sein, während in dem unvernünftigen blinden Willen, welcher über das Dass der Welt ent-
scheiden soll, die blinde NaturkraJft des Materiaiismus in neuer Gestalt auftaucht" (S. 165
u. 166). — „Abgesehen davon war die Weltansicht des Materialismus bis dahin überall
noch nicht streng wissenschaftlich formulirt Ihre Vertreter bekämpften die sittlichen und
religiösen Ideen und leugneten den Zweckbegriff, hauptsächlich, wie es scheint, bloss deshalb,
weil alle diese Dinge ausser ihrem Gesicmtskreise lagen; sie versuchten auch gar nicht,
jenen Ideen Aequivalente aus eigenen Mitteln entgegenzustellen oder zu substituiren. E. v. H.
durchschaut alle diese Mängel und sucht ihnen abzuhelfon; er erkennt die Nothwendig-
keit des ZweckbegrifEes an und sucht ihn aus seinen eigenen rrinci^ien neu zu begründen,
um ihn an dieSpitze seines Systems zustellen; er bekämpft die sittlichen und religiösen
Ideen im bisherigen Sinne, indem er ihre Unzulänglichkeit von seinem Standpunkt aus
darzulegen und eine neue Ethik und eine neue Religion auf pessimistisch-materia-
listischer Grundlage an deren Stelle zu setzen sich bestrebt. Er sucht den wissen-
schaftlich unhaltbsu-en Pluralismus der vielen selbständigen Atome durch Zusammenziehxmg
des Vorausgesetztermassen in diesen allen wirksamen ftincips der Kraft in die eine Resul-
tante des blinden Willens seines Einen absoluten ünbewussten metaphysisch zu rektifiziren
und das logische Formalprincip, unerklarbar aus der Materie und deren Kräften, und unver-
einbar mit diesen vorausgesetzten letzten Elementen des Wirklichen, dadurch mit jenem
blinden Willen zusammenzubringen, dass er dasselbe in seiner Totalität einfach als die
JEuidere Seite jenes einen ünbewussten hinstellt"' (167). — „H. verstand übrigens nicht bloss,
die materialistische Weltansicht auf eigenthümliche Art neu zu begründen und systematisch
zu gliedern, sondern er versuchte auch, sie als den einzigen konsequenten Abschluss, als
die Vollendung der Systeme Hegels, Schellings und Schopenhauers hinzu-
stellen und verschaffte seinen Lehren auch dadurch eine neue Stütze. Denn theils wirkte
der Nachweis des historischen Zusammenhanges mit solchen Lehren, die in der Geschichte
der Philosophie einen festen Platz errungen haben, an sich schon wie ein wo hl beglau-
bigter Empfehlungsbrief auf alle diejenigen, welche sich sonst dem Neuen gegenüber
skeptisch zu verhalten pflegen, theils umgab die Erinnerung an das Aufsehen, welches jene
Systeme einst verursachten, die Namen ihrer Urheber in den Augen der tmkundigen Mehr-
zahl mit einem Glorienschein von Tiefe und Gelehrsamkeit, welcher nun auch aas Haupt
des als die Vollendung jener Systeme gepriesenen Pessimismus umstrahlen musste. Es
konnte nicht fehlen, dass dieser erste mit grosser Umsicht und dialektischer Ge-
wandtheit durchgeführte Versuch, den Grundgedanken der empirisch-materia-
listischen Weltansicht systematisch zu formuliren, welcher zugleich das wiedererwachende,
über sich selbst und seine Ziele noch unklare spekulative Bedürfniss mit dem Geiste
.des Materialismus zu verknüpfen geeignet war, mit Staunen und Bewunderung von
allen denen begrüsst wurde, deren Denken und Fühlen noch von jenem Geiste beherrscht
. war, da ja bekanntlich eben die Systemlosigkeit und die Unfähigkeit, die Erscheinungen des
-geistigen Lebens aus der blinden Naturkraft und der logischen Idee allein zu erklären, den
Materialismus bisher verhindert hatten, den andern philosophischen Systemen ebenbürtig an
die Seite zu treten. Der Grund der gunstigen Auftiahme und raschen Verbreitimg des Pes-
simismus beruht daher nicht auf dessen innerem Werthe, sondern lediglich auf dem aussei^
: Uchen Umstände, dass er der herrschenden Zeitrichtunc schmeichelt, indem er die TriviaJi-
täten und Einseitigkeiten derselben unter dem Einüuss der in ihr vorherrscheiiden Stimmung
systematisch verarbeitete und in ihrer Totalität zum Princip der Welterkltomg erhob^
(168-169).
Pfarrer Chr. Hönes sagt in der „Protestantischen Kirchenzeitung"
1881 Nr. 35— 36: ,Jn der Vorrede (S. X) sagt er selbst, man könne schon jetzt erkennen,
j welche sittliche Verwahrlosung wir zu gew&tigeü haben, wenn die LoslÖsung des Volkes
in zunehmender Prozession fortschreite, ohne dass die Zerfahrenheit der Memimgen über
. die Grundlage der Sittlichkeit ein baldiges Ende nehme und einer überwiegenden Oeberein-
stimmun^ über das Fundament der Moral Platz mache. Nun ist ja wohl zuzugeben, dass
die pessimistische Weltanschauung in weiten Kreisen unseres Volkes Eingang
\ gefunden hat und noch finden wird. Allein es ist eben ein Verdienst H*s, danm
hingewiesen zu haben, dass der bisherige Pessimismus im Siiine von Schopenhauer,
Tauoert u. a. sittlich keineswegs heilsam, sondöm schädlich ist; nur sein evolution is-
tisch er Pessimismus dünkt ihm eine genügende Basis der Sittlichkeit. Aber kann denn
eine solche "Weltausohauung jemals allgemein werden?" (S. 821). -— „Trotz seiner anü-
theologischen Haltung sehen wir in H. einen Bundesgenossen im Kampfe gegen ge-
meinschaftliche Feinde. Solche sind: a) Die orthodox-pietistisohe Yerloiöcl^rung des
Christenthums, welche den heteronomen Charakter desselben Idinstlich festzuhalten, die
Schale so wichtig als den Kern, ja als wichtiger anzusehen pflegt und dadurch so viele
erbittert und yeranlasst mit ersterer auoh den letzteren wegzuwenen; b) der Liberalismus
des Tages, welcher in der blossen Entfernung äusserer Schranken schon einen Fortschritt
sieht, die Nothwendigkeit sittlicher Zucht verkennt und den Ernst der Pflichterfüllung zu
einem ordinären Glüäseligkeitsstreben herabwürdigt; c) der vulgäre Bationsdismus, der in
trivialem Optimismus Welt und Menschen für an sich gut ansieht, alles Heil bloss von der
AnfWfirung erwartet und alle tieferen sittlichen und religiösen Wahrheiten bestreitet; d) der
Materialismus und naturalistische Pantheismus, welche die Moral auf den Selbsterhältun^-
trieb begründen wollen, es daher auch bloss zu einem mehr oder weniger verfeinerten Egois-
mus luingen, somit die Moral völlig vernichten; e) der Empirismus undPositivismus, welche
«die Moral von jeder Verbindung mit der Metaphysik lösen [wollen und ihrem Anspruch auf eine
über den Menschen stehende, absolut gebietenae Stellung nicht gerecht werden können^^ (S. 843).
Oberlehrer ]>r. Max Scbneldewln sagt in seiner Einleitungzu den „Licht-
strahlen aus E/v. H.;s sämmtl. Werken" (Berlin 1881) S. 20—21: „Ein Werk von be-
wunderungswürdigem architektonisohen Aufbau und Inhaltsreichthum,
an gleichmässigem Glanz und Einheitlichkeit der Darstellung dem ersten Hauptwerk
Hoch ttberlegen. Niemand wird ohne die mannichfachste Belehrung und Anregung, ohne
innere Bereicherung zu erfahren, dieses Buch studiren: es ist so recht ein Werk,
v^elchem von den Gebildeten aller Berufeklasson Wochen imd Monate der Mussestunden in
nnzersplittertem Studium gewidmet werden sollten. Doch hat das Werk auch subjektive,
höchstpersönliche Gedankenläufe, welche als in dem (sdlgemeinen) sittlichen Bewussteein
-liegende zu behandeln ein Truggespinnst ist. — und doch wüsste ich in Summa kein
'ethisches Werk der philosophischen Literatur zu nennen, welches sich an anregender
'Inhaltsfülle mit der Phän. d. s. B. annähernd vergleichen Hesse, während ilure im
edelsten Sinne populäre Darstellung den glücklichsten Kontrast bildet zu dem
vornehmen spekulativen Jargon deutscher Professoren. Es ist eine klägliche Launenhaftigkeit
des Publikums, ein Naschen in der Phil. d. Unb. sich nicht haben versagen zu können,
dagegen diesem ethischen Hauptwerk von einem Inhalt, welcher Jedem allernächst
am Herzen liegen muss, nur so lau gegenüberzustehen.
3. Die politisehen Aufgaben und Zustande des deutschen Beiehes.
4 Bgn. Preis 1 Mark.
]>ie'Pa8t 1881 Nr. 258: „Die grossen wirthschafdichen und socialen Eeformpläne
des Eeichskänzlers haben auch einen der ' grrVssteu Denker der Gegemvart, E. v. H.,
den „Philosophen des ünbewussten^'j wie man ihn zu nennen pflegt, veranlasst, das Wort
zu einer Entik derselben zu ergreifen. Hr. v. H. steht fiber den Parteien und seine
philosophische Unabhängigkeit bürgt dafür, dass er Niemandem zu Liebe redet, aber
auch, dass er frei ist von den Bücksichten, welche die Zugehörigkeit zu irgend ei&er
Partei jedem Politiker mehr oder weniger auferlegt. Der Anspruch, mit welchem der Phi-
losoph äIs Politiker auftritt und zu den schwebenden .Tagesfragen das Wort ergreift, bcaucht
einem solchen Manne gegenüber nicht näher nntersuoht zu werden, zumal sem vie]^hriges
"Wirken auf dem ihm eigenen Gebiet von einem nicht zu unterschätzenden Ein-
fluss anf zahlreiche £reise der gebildeten Gesellschaft gewesen ist und
noch immer ist. Andrerseits aber muss zugegeben w^^en, dass die gesammte Natur
der Erscheinungen, also auch die Politik, zumal wenn dieselbe aus ihrem alltägHohen Geleise
heraustritt und zu neuen Formen der Entwickelung Anlauf nimmt, auch vor das Forum
eines Mannes gehört, welcher stillbeobaehtend, fern von dem Geräusch* des
Tages, die Dinge und Begebenheiten in ikr^m innren Werth und ihren Ursachen prüft,
nnd durch seine Geistesarbeit sich schon lange als. einer der hervorragend-
sten IHSnner der Gegenwart bewährt hat. — Hr. v. H. ist, wie ges£^ der Frei-
fifainlgsten einer; mit ihm können sich in Bezug auf Unabhängigkeit des Geistes und
Yorurtheilslosigkeit im Denken die Herren Biohter nnd Ludwig Löwe, die doch ganz
besonders,' aber mit Unrecht, hierauf Anspruch erheben, auch nicht im Entferntesten
messen. Und doch sehen wir ihn in seiner Broschüre als den beredtesten, sowohl prak-
tisch-politischen, wie philosophischen Vertheidiger der gesammten Wirthsohafts- undSooial-
teform. wie sie der Kanzler in Angriff genommen;. er „schwärmt" nicht für dieselbe, er
lässt alle Schlagworte bei Seite und lässt sich auch nicht von seinem Herzen und Gefühl
hinreissen, was ja ebenso willkommen wäre, sondern in politisch-nüchterner Weise
tinten&iöht er mit seinem weitblickenden und Alle Gebiete umfassendenGeiste
die Eefornien einer sachlichen Kritik und tritt dabei für dieselben in ihrem gesammten
Umfenge ' ein. — "Wir übergehen die übrigen auf die Parteien im Eeich bezüguchen Be-
"traöhtmigen der H.*Ächen Broschüre,- welche zum Theil dadurch etwas an Wertn verüben,
'dass der Verf. sich wieder von seiner kirchenfeindli€hen Ueberzeugung leiten ]ä8st; er fordere
eine „reiohskonservative Entwickelnngsparteij-^die „rdigiös-liberal" sei, und unterzieht von
diesem Standpunkt aus anch die konservativen Parteien- einer nicht eben wohlwollenden
8
'Kritik. Trotzdem sind die weiteren Darlegangen interessant genug, tun sie der Prüfung
xmd Beachtung zu empfehlen/^
Robert. liUlz sagt ^Im iieuen Reich^^ 1881 Bd. IT. 8. 589: „Wenn man die
Stimmen der oppositionellen Fresse über die letztere Schrift des Yerf. der PhiL d. ünbew.
hört, so möchte man glauben, diese wolle das Taceat multer in ecclesia auch auf Philoso-
phen, welche über Pofitik schreiben, anwenden. Seit wa^n macht man sich durch philoso-
Shische Bildung unfähig füi' Mitsprechen in der Politik und den öffentlichen Ang^elegenheiteii
es Vaterlandes? SoU heute nur der Fach- und Berufemensch über sein bestimmtes Feld
sprechen und schreiben dürfen, und ein universeller Geist, eine philosophische Betrachtung,
welche die Dinge im Zusammenhange einer einheitlichen Weltanschauung erblickt, nichte
mehr gölten? Thut imserer Bildung nicht grade die letztere Fähigkeit, welche in den.
philosophischeren Zeiten vergangener Jahrzehnte von Leibniz bis Fichte und Hegel Gemein-
gut jedes höher Gebildeten war, ausserordentlich noth; und beweisen nicht grade die in
obigen Schriften vernommenen Stimmen, welche eine nationale Partei auf der Grundlage
einer tieferen, ethischen oder religiösen Weltanschauung wollen, dass das Bedürfniss nach
philosophischer Vertiefung und nach der Zurückkehr des Idealen wieder kräftiger sich regt?
Grade weil er Philosoph ist, lauschen wir gern den Worten E. v. H^'s; wie
wir iiies auch gegenüber den obigen Verfassern gethan, von denen der eine Kaufmaim, ein
anderer Industrieller ist, aUe aber keine Berufspolitiker sind. Es ist die Natur und das
Eecht des Philosophen, radikaleren Geistes zu sein, kühner im Verfolgen der
Gedanken, xmd weiterschauend in die Entwickelung der Dinge Davon macht auch. H.
Gebrauch. Die früheren Schriften, etwa mit Ausnahme der letzteren, bleiben mehr bei den
gegebenen Verhältnissen stehen, während H. gerne tiefer in die Probleme eindringt
und ihren Inhalt selbständig weiter gestaltet."
Die Orenzboten 18^1 Nr. 52 schreiben in einem Aufsatz betitelt ^,Ed. v. H. als
Politiker": „Wir sind keine Verehrer der Phil. d. ünb., die uns vielmehr als ems derKrauk-
heitssymptome unseres Zeitalters erscheint DaJier gingen wir mit ziemlich starkem
Misstrauen an die Lektüre einer Schrift des Urheoers jener Philosophie, die uns vor
kurzem zukam: „Die pol. Aufg. u. Zust. des deutschen Reiches." Dieses Misstrauen führte
jedoch zu angenehmer Enttäuschung; deim die Ansichten, denen wir begegneten,
waren beinahe ausnahmslos Zeugnisse für eine tadellose politische Logik, prakti*
sehen Sinn und gesundes Urtheil. So war uns z. B. gleich zu Anfange das, waa
der Verf. über die Noth wendigkeit eines deutschen Volkswirthschaftsrathes bemerkt, durch-
weg aus der Seele gesprochen, und je weiter wir lasen, desto mehr gefiel uns
der wohldurchdachte Inhalt und die klare Form des kleinen Buches, und als wir
damit zu Ende waren, erschien es uns beinahe uneingeschränkter Empfehlung
wefth. Wir kommen somit nur einer Pflicht gegen die Sache nach, welche diese Blätter
vertreten, wenn wir im Folgenden die Hauptgedanken der H. 'sehen Darlegung, soweit wir
mit ihr übereinstimmen — namentlich aber die Ergebnisse, zu welchen der Verf. gelangt,
in kurze Sätze wie zu einem Bekenntnisse zusammengefasst, unsem Lesern mittheilen.
Der NehwAblscbe Merkur 1881 Nr. 229: „Es kann nur erwünscht sein, wenn
in einer politisch erregten Zeit, in welcher alte und neue Anschauungen noch allenthalbea
unklar durcheinanderlaufen und die alten Parteien sich zersetzen, wälu-end neue sich noch
nicht abgeklärt haben, je und je sich Stimmen denkender Männer vernehmen lassen, welche^
dem Getriebe der Parteipolitik persönlich fem stehend und doch mit. Aufmerksamkeit und
Einsicht die Bewegungen ihrer Zeit verfolgend, mehr als die Tagespolitiker zu un-
befangener Beurtheilung der Sachlage aus objektiven und grossen Ge-
sichtspunkten geeignet sind. Eine solche Stimme begrüssen wir mit aufrich-
tiger Genugthuung und lebhafter Zustimmung in der soeben in C. Duncker's
Verlag erschienenen Broschüre des berühmten Philosophen E. v. H. über „die politischen
Aufgaoen und Zustände des deutschen Reiches." — Dass hier ein Mann spricht, der gewohnt
ist, die Dinge mit eigenenAugen anzusehen und sich sein Urtheil nicht nach herkömm-
lichen Parteischlagwöitem, sondern aus dem Wesen der Sache selber herauszubilden, das
wird sich auch dem flüchtigsten Leser sofort aufdrängen. Man wird freilich die unangeneh-
men Wahrheiten, die der Kritiker den verschiedenen Parteien zu sagen sich erlaubt, dadurch
sich vom Leibe zu halten suchen, dass man sie für Schrullen eines unpraktischen Philoso-
phen ausgiebt, der wohl im Reich der idealen Spekulation zu Hause sein möge, aber von
den praktischen Fragen der Politik nichts verstehe. Aber diese Ausflucht hält hier nicht
Stich. Jeder Kenner der H.'schen Schriften weiss, dass dieser Philosoph nicht bloss auf
den flöhen der abstrakten Idee zu Hause ist, sondern sich auch in der wirklichen
Welt sehr vielseitig und als scharferBeobachter umgesehen hat Von seiner
genauen Kenntniss und feinem Verständniss der politischen Dinge hat
namentlich sein letztes grosses Werk, die Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins, an-
erkanntermassen glänzende Proben gegeben. Allerdings verleugnet E. v. H. auch
bei der Besprechung der politischen Dinge nirgends den Philosophen, der das Einzelne in
seiner Beziehung auifs Allgemeine, das Tagesinteresse als Moment einer grossen geschicht-
lichen Epoche auffasst, imd der die Realitäten des äusseren Lebens bis auf Zoll- und Steuer-
fragen hinaus im Lichte der grossen idealen Gesichtspunkte der menschheitlichen Kultur-
entwickelung würdigt. Aber ist denn dies etwa ein Schaden? Oder thut es nicht vielmehr
1
in einer Zeit von so grosser Zerfahrenheit und Verworrenheit der politischen Richtungen
dringend Noth, dass die TFrtheile der Tagespolitiker sich wieder einmal nach dem Kompass
der grossen idealen Zwecke des Lebens orientiren? Ti'ifft dann die von der Idee normirte
Anschauung des Philosophen mit der praktischen Politik des grossen Realisten, der das
Steuer der deutschen Politik lenkt, zusammen: nun, so sollte daiin auch für den hartgesot-
tensten Oppositionsmann ein energischer Antrieb liegen, seine eigenen "Voraussetzungen und
Vorurtheile einmal einer gründlichen Revision zu unterziehen und sich zu fragen, ob die
Richtung, auf welche der praktische Instinkt des Reichskanzlers in voller üebereinstimmung
mit dem theoretischen Raisonnement des Philosophen hindrängt, nicht doch am Ende die
richtigste, die allein heilsame sein möchte? Um so mehr dies, als im vorliegenden Ealle
auch die sonst so schnell fertige Anklage auf Streberthum völlig unmöglich ist, denn Hr.
V. H. hat vom Reichskanzler imd von der Regierung überhaupt für seine Person nichts zu
hoffen und nichts in fürchten; sein Urtheü ist also rein nur die Stimme des unbe-
fangenen und selbstlosen Patrioten und Denkers."
4. Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Descendenz-
thieorie. 2. Aufl. 26 Bgn. Preis 8 Mark.
Professor Dr. D. IVolen sagt in der „Revue philosophique" 1882 Nr. 2
p. 148: „On sait la singuliere foitune de ce dernier ouvrage. Paru d'abord sous le volle
de l'anonyme; rendu celebre par une solenneile declaration de Haeckel, qui se ralliait ä la
metaphysique de la philosopnie de l'Inconscient sous cette forme nouveUe; successivement
attribue ä Zöllner et a Haeckel lui-meme; oppose malicieusement au livre de M. Hartmann,
comme l'oeuvre d'un disciple superieur au maitre par la consequence de la doctrine et la
sürete des connaissances ; et publle tout a coup en 1877, lors de la deuxieme edition, sous
le nom de M. Hartmann lui-meme, le veritable auteur: ce curieux ouvrage demontre
victorieusment, par les malentendus memes auxquels il a donne naissance, que les
principes, les methodes, les decouvertes et le langage memo de la science n'avaient pas
de secrets pour M. de Hartmann, et que'ce n etait ni faute de les connaitre ni
faute de les entendre, qu'il lui arrivait de s'en ecarter ou memo de les contredire dans
ses autres ouvrages. Comme Piaton dans le Parmenide, M. de H. avait pris et joue mo-
mentanement le personnage de l'adversaire. Jamals la cause du mecanisme scientifique
n'avait ete soutenue avec plus de force et de consequence; mais Jamals aussl
I'insuffisance et la pauvrete de la doctrine ne s'etaient plus clairement
manifestees. L 'Ironie de cette apologie insidieuse 6chappait naturellement aux
regards prevenus des materialistes : mais la lepon n'en fut que plus decisive lorsque
Tauteur vint se charger lui-meme de dissiper l'illusion et de completer la demonsti'ation.
Les savants en tout cas, ne pouvaient contester que la nouvelle Philosophie de la na-
ture, exposee par M. de H., füt sortie d'un commerce assidu et intelligent avec
toutes les sciences du temps."
5. Die Erisis des Cliristentliums in der modernen Tlieologie. 9 Bgn.
Preis 2 Mark 70 Pf.
Konsistorlalrath Dr. Krammacher sagt in den „Deutsch-evangelischen
Blättern" 1881 Nr. 4 S. 236—237: „Es^ giebt unter den Bekennem der Phil. d. Unb. nicht
Wenige, die in der Schule ihres Meisters nur sententiös seufzen und grollen lernen imd
dann diese Kunst vornehmlich zu Konversationszwecken verwenden. Durch seine neuesten
Publikationen zwingt H. diejenigen, die auf ihn hören und schwören, den höchsten Problemen
des Denkens und den höchsten Aufgaben des Lebens in's Auge zu sehen. Das gilt von der
Phän. d. s. B., das gilt auch von den Schriften : Zur Gesch. u. Begr. d. Pess. und die Krisis
d. Christenth. Die letztgenannte Schrift nöthigt insbesondere die Anhänger H.'s, sich darüber
klar zu werden, wie sie, wenn sie ihrem Meister folgen, zum Christenthum zu stehen kommen.
Das ist erfreulich. Denn es steht zu hoffen, dass es dazu beitragen wird, die Gebildeten
unter den dem Christenthum Fremdgewordenen aus dem Schlaf aufzurütteln, aus dem
Schlaf jenes faulen Indifferentismus, der für das Christenthum kein Ja und kein Nein, ja
nicht einmal ein zweifelndes und forschendes Fragen übrig hat. Aber auch noch eine
andere heilsame Wirkung wird man von den H.'schen Auslassungen in der genannten
Schrift erwarten dürfen. Die Theologen, die in derselben — soll man sagen: angegriffen
oder angepriesen? — werden, werden durch sie in die Nöthigung versetzt, sich mit dem
H.'sohen Standpunkt auseinanderzusetzen, und das kann nur dazu dienen, ihren eigenen
Standpunkt in sich selbst zu klären und nach aussen klar zu stellen. Die Erörterungen,
welche sich auf diese Vertreter der „modernen Theologie" beziehen, bilden die Hauptmasse
der Schrift; sie enthalten auch das Beste ihres Inhalts Dasselbe besteht nämlich nach
unserer Auffassung in zwei Ausführungen. Die erste ist die vornehmlich gegen Lipsius
und auch gegen Kiischl gewendete Kritik der neukantischen Erkenntnisstheorie \md des
Yersuches einiger Gelehrten, sie als Substruktion für ihre Theologie zu verwenden, eine
Kritik, die wir, ohne die theologischen Strebungen und Leistungen jenes Gelehrten zu unter-
schätzen, als eine feine, schneidige und vielfach beachtenswerthe anerken-
nen müssen. Die zweite vorzügliche Leistung ist der unwiderlegliche
Nachweis, dass eine Theologie, welche keine geschichtlichen Heilsthatsachen und keine
10
realen Heilswirkungen kennt und nur subjektive psychologische Vorgänge nnd Zustände und
deren historisch-mythische und kultische bymholisirung statuirt, durch die Eonsequenz ihres
Grundgedankens unausweichlich zur Zukunftsreligion der reinen Immanenz fahrt/*
6. Zur 6eschlclite und Begr&ndnng des Fesslmismns. 10 Bogen.
Preis 3 Mark.
Oberlehrer Dr. Max filebneidewln sagt in seiner Einleitung zu den „Licht-
strahlen aus E. V. H/s sämmtlichen Werken" (Berlin 1881) S. 30—31: „Wer in dem
Pessimismus eine alles freudige Streben lähmende Lehre und Gesinnung erblickt, kann aus
diesem Buche am deutlichsten die wahrhafte Nuance des Pessimismus, welche ^rade H.
vertritt, die Art seiner Begründung und seine Stell^ng im System kennen lernen, vor allem
auch ersehen, dass H. in seiner G^innung, sofern er alles e^istische Glückseligkeiisstreben
^z und gar vom sittlichen Werthe ausschliesst, — vielleicht nicht mit der. Natur, der
Wahrheit und der Unvermeidlichkeit des Erdenlebens, aber —ganz und gar mit dem
strengen praktischen Idealisten Kant zusammenstimmt, dessen Pflichtbegriff
noch niemand für einen Feind des Gemeinwohles erklärt hat." — S. 11: „Nun nimmt der
H.'sche Pessimismus die Wendung, dass er die Menschen frei zu machen sucht von
dem Rennen nach dem eigenen Glück, welches, der Natur des nach immer neuer
Befriedigung lechzenden Willens zufolge, so wenig erreicht wird, dass es unmöglich Zweck
der Schöpfung sein kann, obwohl es an und für sich keinen näherliegenden Zweck derselben
fben könnte; dass er sie dagegen zu entflammen sucht zu selbstVerleugnender
etheiligung an der Kulturarbeit, welche ihm das viel werthvollere ist als
das Streben nach eigenem Glück und den eigentlichen Sinn des „Weltprocesses" enthält,
und dass er somit ganz übereinkommt mit dem thätigen Geiste des Occidents
und speciell des 19ten Jahrhunderts. Für das Praktische macht es da keinen Unterschied
aus, dass der letztere Geist seinen innersten Instinkten der Bethätigung folgt ohne das Bedürfnisse
sich über den letztenZweckKlarheit zu verschaffen, der H.'sche Geist dagegen, bei that-
sächlich ganz gleichem Yefhalten, als das unterste, tief verdeckte Motiv seines eignen
Strebens noch eine seltsame Hypothese über den letzten Zweck des allen in sich schliesst
7. Urtheile nlier die Hartmann^sclie Philosophie im Allgemeinen.
Professor Dr. Joliannes Tolkelt. in Jena sagt in „Noid und Süd^' 1881
Juliheft: „Wie man sieht, gehört H. zu denjenigen Philosophen, welche nicht „studirt" haben.
Indessen wüsste ich — etwa abgesehen von der nie und da hervorbrechenden ungerechten Be-
urtheilung der „Zunfkphilosophie" — keine Seite an seiner Philosophie zu ncDnen, an
der sich ein ungünstiger Einfluss dieser Abweichung von dem gewöhnlichen Bildungs-
gange nachweisen liesse. Dagegen würde er, wenn er Sie Universität bezogen hatte, kaum
durch einen so reichen, vielgestaltig konkreten Lebensinhalt hindurch-
gegangen sein und so der unschätzbarenVortheile. die hieraus für seine Philosophie
erwuchsen, zum grossen Theile haben entbehren müssen" (S. 56). — „Ihm ist die Erkennt-
uiss aufgegangen, dass sich aus reiner Intelligenz, oder gar aus blosser Güte und liebe,
ohne die Nacht eines Unvernünftigen und Nichtseinsollenden, die Welt ebenso wenig be-
greifen lasse wie aus einem bloss unvernünftigen blinden Drange, sondern dass sie allein
aus -einer Synthese von harmonisch in sich verweilender Vernunft und widersprechender
Unvernunft, von licht und Abgrund zu verstehen sei. Er weiss, dass es zu keiner Welt-
entwickelung, zu keinem Weltinhalt kommen könnte, wenn nicht die Weltvemunft irgendwie
den Stachel des Lrationellen erführe. Ich sehe geradezu die Hauptbedeutung von
fl.'s Metaphysik darin, dass er die angedeutete Synthese zum Mittelpunkte seiner Phi-
losophie macht** (S. 61—62). — „Besonders gegenüber den Beschönigungen eines feigen Opti-
mismus sind solche Betrachtungen von grossem Werthe, welche die feiusendfachen Formen
der so gern verschwiegenen kleinen und grossen Unbehaglichkeiten und Schmerzen ohne
Pathos in nüchterne Beleuchtung setzen. Schon aus diesem Grunde möchte ich
H.'s Pessimismus nicht mit Lasson ohne Weiteres als eine niedrige, störende Beigabe seines
Gedankenkreises bezeichnen. Freilich fordert derselbe weit mehr zum Widerspruch als zur
Beistimmung heraus" (S. 65 — 66). — „So zeigt der Philosoph des Unbewussten eine eigen-
thümlich dreifache Stellung zu unserer Zeit. In vielen Stücken steht er zum „modernen*'
Leben in feindlichem aber rühmlichem Gegensatz. Tapfer und hoffentlich nicht ohne
Erfolg stellt er der modernen blasirten Skepsis die Forderung eines systematischen meta-
physischen Denkens, die Verwerfimg aller eudämonistischen und utiUtai'istischen Moi-al, die
Lehre von einem in sich zwiespältigen All-Einen, von einer objektiven Weltvemunft und
einer teleologischen Entwich elung in Natur und Geist und den GlaubeA an eine über das
irdische Dasein hinausgehende Erlösung entgegen. In anderen Beziehungen wieder steht
seine Philosophie mit werthvollen Seiten unseres modernen Lebens in engem Zu-
sammenhange. Dahin gehört nicht nur die berechtigte Forderung, das Gebäude der
Spekulation auf dem Boden der Erfahrung, vor Allem der naturwissenschaftliehen zu
errichten, sondern auch die heilsam nüchterne, allem Beschönigen und vornehmen
Ignoriren feindliche Art, mit der er seine philosophischen Fragen wesentlich auch an die
niedrigen, MägUchen, widersinnigen Elemente des Weltiebens knüpft. In einer dritten Be-
ziehung dagegen gewinnen gewisse im sohlechten Sinne moderne Eichtungen unserer Kultur
in seiner Philosopliie einen interessanten Ausdruck" (ß. 72). — H.^s Schriften enthalten so
11
viel des Tüohtigen, dass sie dßm idealen Streben und eohten Forschen unserer Zeit
^ar manohen werthyollen Gewinn und Anstoss zu geben geeignet sind. Nach
jenen anderen Seiten hin aber, die uns ihn «Is Repräsentanten verwerflicher Zeitstromungen
zeigen, wird man ihm doch die Ehre einer ernsten sachlichen Bekämpfung nicht
versagen dürfen" (S. 73). ,
Oas Magazlii fAr die I^lteratnr des In- nnd Anslandes 1881 Nr. 47:
„Der Gedankenreichthum und der hohe Ernst ehrlicher Wahrheitsforschung
werden H. immer einen Ehrenposten unter den Eulturträgern unserer Zeit
garantiien, selbst wenn, was er selber gar nicht bedauert, auch seine Philosophie als
eine Phase — und ich meine, als eine Nachblüthe der Hegeischen, die durch die
mächtige Einwirkung Schopenhauers gezeitigt ward — , als eine Station in der Geschichte
des Ringens nach einer Lösung des W elträthsels erkannt sein wird. Für unsere Zeit, die
an intellektueller und sittiicher Verlogenheit, an Schwindel und Heuchelei trotz aller be-
haupteten Gedankenfreiheit recht Staunenswerthes leistet, ist ein Denker wie Hartmann —
dass es der srossartiger veranlagte Schopenhauer nicht mehr ist, liegt an dessen schrullen-
hafter und kindisch-eigensinniger Sucht zum Paradoxen, die ihre Wurzel in persönlicher
Eitelkeit, in der versagten Anerkennung seiner eminenten Genialität hat — ich sa^e, für
uns ist ein Denker wie H. von der Wirkung eines Stahlbades, er nöthigt uns
zur Empfindune der ganzen Armseligkeit des beliebten Bemänteins der erkannten Wahrheit
und der noch beliebteren und belobten Scheu vor dem Erkennen selbst. — Das Publikum
hat Recht, sich nach solchen wirklich unabhängigen Männern zu sehnen,
solchen, die gar nicht in den Verdacht kommen können, eine Professur zu arabiren. — Es
ist sein Schicksal, dass, wenn von H. gesprochen wird, man von seinem Pessimismus
handelt, und es ist ein Schicksal, das ihm bisher viel Sorgen bereitet hat imd wohl fürder
machen wird. Man darf es jetzt aussprechen, H. hat die quiotistisch- weit seh merz liehe
Seite des Pessimismus so ziemlich von sich abgestreift, und seine Philosophie hat
sich zu reinen heiteren AetherhShen emporgerungen.-- Wer etwa hofft, bei H. über
Frauen, Liebe und Ehe etwas Aehnliches zu jßnden, wie die beliebten, wegen ihrer Einseitig-
keit cynischen Pikanterien Schonenhauers, der täuscht sich gründlich. Nicht als ob der
Philosoph sich zu unwahrer Schmeichelei oder juveniler Ueberschätzung des Weibes fort-
reissen Uesse, aber er hat das Glück gehabt, das Schopenhauer versag blieb, das edle
Weib kennen zu lernen." (Xanthippus in Rom.)
Gottfried Borries sagt in seiner Schrift: „üeber den Pessimismus als Durch-
gangspunkt zu universaler Weltanschauung" (Münster 1880): „Letzterer (H.) hat wie kein
anoferer die Mängel und Schwächen des Systems seines Vorgängers aufgedeckt und be-
leuchtet und mit einer anerkennenswerthen genialen Geschicklichkeit die
jenem anhaftenden Widersprüche ausgeglichen und z. Th. vollständig geschlichtet. Daher
man ihn auch eigentlich allein bei einer Auseinandersetzung mit dem Pessimismus
zu berücksichtigen hat. Die unparteiliche Geschichte wird jedenfalls dem Berliner
Philosophen den ihm zukommenden Platz in der Denkentwickelung einräumen, den ihm
seine zeitigen Feinde aus Unverstand oder Neid missgönnen. Was sich Be-
deutendes und Dauerndes bei Schopenhauer, diesem wunderbaren mnne in der Empfängniss
genialer Einzeüdeen vorfindet, hatH. aufgenommen und zu seinem eigenen geschlosse-
nen Lehrgebäude als Hauptbausteine verwerthet. Der neuere Pessimismus ist insofern
die interessanteste Erscheinung in der spekulativen Entwickelung, als er wie keine
Philosophie zuvor so sehr damit Ernst gemacht, die B^luft zwischen Religion und Philosophie
zu überbrücken, die Religion in sich aufzunehmen, oder, wenn man will, die Religion zu
durchdringen nnd sie mit seinem wissenschaftlichen Gehalte zu sättigen" (S. 2 — 3). — „Die
theoretische Spekulation sollte in Hegel, die praktische in Hartmann ihren höchsten
Vertreter finden. Wenn der Pessimismus sich die eben gezeichnete Aufgabe stellte, so
appellierte er hierbei an eine bei weitem grössere Theilnahme der Menge und konnte nur
auf Gehör bei dieser rechnen, falls er seine Gedanken in einer allgemein verständlichen
Sprachform und einfachen klaren Redeweise vortrug. Schopenhauer machte hiermit in der
That den Anfang und H. suchte ihn noch in populärer, dabei doch der wissenschaftiichen
Tiefe nicht ermangelnden Darstellung zu überbieten. Und es ist ihm gelungen. Seine
natürliche fliessende Sprache bildet einen wunderbaren Gegensatz zu dem Hegel'-
schen Philosophendeutsch, das sich allmählich seit Kant in der Entwickelung des Idealismus
herausgebildet (S. 4). — „Zweierlei ergab sich aus der kritischen Betrachtung von Pessimis-
mus und Hegehanismus für die von letzterem beabsichtigte Universsdphilosophie. Erstens
musste der blossen Hegel'schen Idee der ewige WiHo zugeeignet werden, das war das
metaphysische Moment; zweitens konnte eine Universalphilosophie nicht nach der dialekti-
schen Methode konstruirt werden, sondern, wie der Pessimismus in H. entschieden behaup-
tete, war die induktive Methode diejenige, die allein Gewähr gab für die Gegenwwt
wegen ihrer durch Erfahrung erschlossenen w ahrheit, und Gewahr für die Zukunft durch
ihren möglichen weiteren Ausbau und Vervollkommnung: das war das methodologische
Moment. Das Dritte und Wichtigste, was iedoch der Pessimismus für eine von den obigen
Mängeln des Hegelianismus freie, noch zu beginnende Universalphilosophie geleistet hat, ist
die ausgiebige Behandlung der axiologischen Frage" (S. 77 — 78).Jigitizedby vjv/v/vi^
Pfarrer Panl Christ sagt in seiner Schrift: ),Der Pessimismus und di^
12
Sittenlelire" (Haarlem 1882) S. 2—3: In dieser Gestalt ist der Pessimismus aW erst in
unserm Jahrhundert aufgetreten, und zwar auf deutschem Boden; Arthur Schopenhauer in
Frankfurt ist sein Begründer gewesen, Ed. v. H. in Berlin sein Erneuerer und zugleich
sein glänzendster Verfechter und Verhreiter geworden. Wer die Schriften beider
Männer aufmerksam gelesen hat, der wird schwerlich zugeben, dass wir es mit zwei ver-
schiedenen Systemen zu thun haben, sondern wird bei beiden im Grossen und Ganzen das-
selbe System finden, naturwüchsiger, rücksichtsloser, knorriger, aber auch genialer bei
Schopeiihauer; abgeschwächt, veredelt, mit neuen Gedanken bereichert, civilisirter
und salonfähiger bei Hartmann." — S. 180—181: „Auf der Grundlage des Schopen-
hauer'schen Systems lässt sich eine Sittenlehre, die diesen Namen wirklich verdient, gar
nicht aufbauen, auf Grundlage des H.'schen wenigstens keine befriedigende, keine von
genügender Tiefe, Reinheit und Festigkeit, keine für die Menschheit überhaupt, nicht bloss
nir höher veranlagte Geister taugliche, keine, die an die christliche Sittenlehre mit ihrem heili-
gen Ernste, ihrer edlen Milde und ihrer erhabenen Einfachheit hinanreicht. "Was in H.'s Ethik
wahr, schön und gut ist, das stammt eben nicht aus dem Pessimismus, sondern aus einem
ihm widerstreitenden unverwüstlichen Idealismus, einem unbewussten Christenthum.'*
Phi. Bridel sagt in der „Revue chretienne" 1881 Nr. 5 S. 289— 29Ö: „D'une ma-
niere generale et sans nous arreter outre mesure aux details assez attaqiiables que je viens
d'indiquer, il nous faut reconnaitre que M. de H. a su tres-habilement combiner le
serieux appareil de la science positive avec le souffle poetique, souvent
presque religieux, d'un pantheisme spiritualiste et mystique. De lä cer-
tainement une partie de la faveur qu'il a rencontree chez une generation qui a le respect
des connaissances experimentales, mais aux aspirations de laquelle ne sauraient suffire les
froides platitudes du materialisme, au nom duquel on pretend trop souvent exploiter les
decouvertes de la science moderne; de lä aussi les terribles coleres de l'ecole
materialiste contre un philosophe dans le Systeme duquel eile s'efforce de ne voir que
romantisme absurde, superstitions spirites, ou meme charlatanisme hypocrite. Ajoutons enfin,
que le Systeme de M. de H., — et celui-ci ne se fait pas faute d'y insister a maintes re-
prises, y reprend et coordonne d'une maniere assez ingenieuse les idees fundamentales de
quelques-uns des plus grands philosophes allemands: en reconnaissant chez lui les traces
que l'accueillir avec faveur. CJela dit, il demeure incontestable qu'une bonne part
du succes qu'a remporte l'ouvrage du jeune penseur berlinois est du precisement au pessi-
misme qu'il enseigne, pessimisme qu'il a eu soin du reste de mitiger, comme nous le
verrons tout ä l'heure, dans le but de le rendre conciliable avec qe besoin d'action
et cette foi au progres auxquels sont attaches nos peuples occidentaux et que Schopen-
hauer avait eu le tort de braver."
Dr. S. Hoekstra, Bz., Professor der Theologie an der Universität zu Amster-
dam, sagt in der „Theologisch Tijdschrift" 1882 Nr. 1: „Men moet inderdaad
verbaasd staan over de werkkracht van eenen schrijver als H., die in de laatste
twaalf jaren niet alleen jaarlijks gemiddeld tuschen de 4 en 5 honderd bladzijden druks voor
de peers in gereedheid heeft weten te brengen, maar die, wat.meer zogt, in zijne ge-
schriften sich onderwerpen ter behandeling kiest, waaraan stuk voor stuk gewone
menschen vele jaren van hun leven moeten wijden, althans om iets degelijks te
kunnen leveren. Nu möge de vraag, of dan H. wel het „nonum prematur in annum" genoeg
ter h^rte neemt, bevestigend of onttennend beantwoord worden, dit is in jeder geval
buiten tegenspraak, dat hij de zeldzame gave bezit, om aan zijne lezers hooge
belangstelling in de door hem behandelde onderwerpen in te boezemen, en dat hij nooit een
geschrift in het licht gegeven heeft, waarin niet het een en ander, en meestal zelfs zeer
veel voorkommt, wat men als eene wezenlijke vemjking van de literatuur daarover be-
schouwen mag; hierbij komt nog, dat stijl en vom hem rechmatije aanspraak
geven op den eerenaam van eenen der grootste dnitsche prozaisten, zooals Dr.
öchneidewin hem noemt in de Voorrede voor eene Bloemelezing der schoonste gedachten
uit H.'s geschritten. — H. is in dit boek indeerdaad veel meerdiscipel van de specu-
latieve wijsgeeren, met name ook van Hegel, dan van hunnen aartsvijand, Scho-
penhauer; hij Staat voor't minst in een opzicht boven dezen laatsten, dat hij oen geo-
pend oog heeft voor alle het wäre en schone, hetwelk de nieuwere duitschc
wijsgeerte gevonden heeft. Tegenover de voomame mmachting, waarmede en de
schoolvan Schopenhauer, en de sohool van het positivisme, en in't algemeen de mannen
der exacte wetenschap de groote bespiegelnde wijsgeeren van Duitschland in den jongsten
tijd hebben bejegend, is H.'s waardeering van hunnen geostesarbeid een verkwikkend
verschijnsel, en zijne phaenomenologieen — want onder deze rubriek mag ik ook dit
zyn werk wel plaatsen — zijn een verblijbend bewijs, dat ook in Hegel de schoone uitspraak
van Goethe bevestigt wordt:
Drum lebt er anch nach seinem Tode fort,
Und ist so wirksam als er lebte: ^<-^ t
Die gute That, das schöne Wort, • OOQlC
Es strebt unsterblich, wie es sterblich strebte* o
Bat latere geslachten dit ook op Hartmann mögen toepassenP^
Druck yon~H. Sielin ff in Naumburg a(S.
i
In Carl Dancker's Yerlagr in Berlin erschien :
Lichtstrahlen
aus
Ed. Y. Hartmann^s sämmtlichen Werken.
Herausgegeben and mit einer Einleitung versehen
von
Dr. Max Schneidewin,
Oberlelirer am Gymnasium zu Hameln.
Eleg. gbd. Preis 5 Mark.
1.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
xin.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
Inhalt:
Einleitung.
Ueber Philosophie im Allgemeinen.
Ueber philosopliische Richtungen der Gegenwart.
Aus der Erkenntnisslehre.
Aus der Aesthetik.
Ueber Schrif tstellerei , Kritik und Polemik.
Aus dem Geistesleben.
Aus dem Gemüthsleben.
Ueber Sittlichkeit.
Ueber Religion und Christenthum.
Ueber den Pessimismus.
Ueber sociale Fragen.
Ueber Erziehung und Unterricht.
Ueber den Culturfortschritt.
Ueber Freundschaft, Liebe und Ehe.
Ueber die Frauen.
Aus der Naturphilosophie.
Ueber den Darwinismus.
O. Piumacher, Der Kampf um's Unbewusste.
Nebst einem chronologischen Verzeichniss der Hartmann-
Literatur 1S68— 1880. Preis 3 Mark.
Dr. A. Wernioke, Die Religion des Gewissens als
Zukunftsideal. Preis 2 Mark 40 Pf.
Von letzterem Verfasser erschien bei Ooerits & zu PuUits in
BrauMchweig :
Die Philosophie als descriptive Weissen schaft.
Preis 1 Mark.
Digitized by
Google
,**,i!9fe'S^5.^«K-:^:
In Carl Dnneker*» Verlag in Berlin, Lfltzowstrasse 2,
erschien:
Die
Henaissance in Holland.
In ihrer geschichtlichen Hauptentwickeluig
dargestellt von
Georg Galland.
Hit erläuternden Zeichnungen.
Preis 1 l»*irk.
Ole niaslrlile Frauenseitiinfc 1. Juli 1882 sagt: „.... Das
Buch, dessen Inhalt durch saubere Zeichnungen nähere Erläuterungen erhält,
erö&et der deutschen Kunst ein fast unbekanntes Gebiet und empfiehlt sich
der Beachtung sowohl der kunstsinnigen bauenden Laien, wie der ausfährenden
Meister."
]>ie Post. 1882 IV o« 242 sagt: .,Dom Yeifasser ist es gelungen, die
lokalen £igenthünilichkeiten der holländischen Renaissance festzustellen und
uns ein recht lebensvolles Bild von der Kunstblüthe des 16. und 17. Jahr-
hundei-ts zu entwerfen. Bas Buch wii'd dem Architekten, dem Kulturhistoriker
wie dem Kunstfreunde gleich wei-thvoUo Aufschlüsse bieten, da in demselben
durchaus neues oder doch wenig bekanntes Material zum ei-sten Mal syste-
matisch verarbeitet worden ist.
l>ie Mlttlielluiigeii des k. k. If useoms in Wien 1. Juli
1882 sagen: „ Von diesem Standpunkt aus begrüssen wir also das vor-
liegende Buch, welches uns eben die Entwickelimg der in ihrer Schlichtheit
genialen bürgerlichen Baukunst in Holland vor Augen fühi*t und zwar fiii* die
ausschlaggebende Periode von 1550 — 1650.
Die Oesenwart 1882 IVo. 33 sagt: , Galland's Werk ist ganz
geeignet, in das Studium der holländischen Renaissance einzuführen; dasselbe
giebt in knapp gezogenen Umrissen das Wesentliche der geschichtlichen Ent-
wickelimg."
Ble TolMszeituns 1882 IVo. 159 sagt: „Das Buch wird allen
Denen willkommen sein, welche sich für die edlere und mannigfaltigere Ent-
wickelung architektonischer Formen interessiron, denn die Ausoeute, welche
Galland machte, ist eine sehi* reiche."
Bie Berliner Börsenzeitnns 1882 16. Juli sa^: „Der Ver-
fasser des vorliegenden, fesselnd geschriebenen Buches besiegt mcht bloss ein
bisher herrschendes Vomrtheil, sondeni er weisst sogar überzeugend nach, dass
jene Ai-chitektur in ihrer Eigenart den beriihmten Epochen der Holländischen
Malerei voi-ausgeeilt ist."
Bonwkundig Weekblad 1882 Jio. 32 sagt: „ . . . . Hii heeft
ons daarbij een grooten dienst bewezen door ons eene eerste goede handleiding
te bezorgen bij de studio van den bouwtrant onzer voorgangers." „Het
doel van deze eenigszins uitgebreide mededeeling omti-ent dit boek was deze:
den lezer van dit blad aan te sporen kennis te maken met een werk, datwaar-
lijk in geen bibliotheek von een hoUandsch aichitekt meer ontbreken mag."
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